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Die Schlagzeile von T-Online ist klar: «Im Jahr 2023 sind die Zahlen rechtsextremer Straftaten deutlich angestiegen. Innenministerin Faeser sieht eine Teilschuld auch bei der AfD.» Nancy Faeser (SPD) war derart begeistert, dass sie den Artikel gleich per X verlinkte und sich selbst zitierte: «Die AfD und ihre Unterstützer schüren immer unverhohlener Rassismus und Menschenverachtung.»

Die Online-Plattform Epoch Times hat die Behauptung der Bundesregierung nachrecherchiert. Die angebliche Zunahme rechtsextremer Straftaten basiert nicht auf der Kriminalstatistik (wie der flüchtige Leser vermutet) – sondern auf der Antwort von Faesers Innenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion. Demnach stieg die Zahl «rechtsextremer Straftaten» im letzten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr von 5113 auf 7170 – also um satte 40 Prozent.

Die Recherchen lassen nur einen Schluss zu: Die Regierung schrieb die Zunahme von antisemitischen Attacken in Deutschland nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel im letzten Oktober einfach den «Rechten» zu – und damit selbstredend der AfD.

Antisemitismus war bekanntlich schon vor 1945 nie eine Exklusivität der Nazis, danach erst recht nicht. Während sich die politische Linke zusehends mit der mehr oder minder offen antisemitischen Causa der Palästinenser identifizierte, solidarisierte sich die Rechte eher mit den liberalen Israeli.

Antisemitismus ist überall anzutreffen, im Zuge des Palästina-Konfliktes aber vornehmlich in linksradikalen und muslimischen Kreisen. Der Versuch der deutschen Regierung, das Problem mit den eigenen Leuten der AfD anzudichten, ist an Zynismus kaum noch zu übertreffen. Dahinter steckt ein klassisches Ablenkungsmanöver, ganz nach dem Motto: «Haltet den Dieb, ruft der Dieb.»

Die «Söhne des Donners» schrieben einige herausragende Songs. Die Entstehung eines der berühmtesten Lieder der Rockgeschichte hat ihren Ursprung im Frühjahr 1970. Nach ihrer fünften Amerika-Tournee zogen sich Gitarrist Jimmy Page und Sänger Robert Plant ins walisische Bergland zurück, um schöpferische Kraft zu tanken. Sie wollten etwas Neues erschaffen. Es entstand diese betörende, absteigende, akustische Kaskade von Akkorden als Intro. Dazu dann Bass-, Sopran- und Tenorflöten, arrangiert und gespielt vom genialen, grob unterschätzten Bassisten John Paul Jones.

Es brauchte ein weiteres Jahr, um das Ganze zu einem Meisterwerk zu formen. Der Sänger erinnert sich daran, wie seine Hand, trotz mieser Laune, einfach diese Worte auf ein Stück Papier schrieb: «There’s a lady who’s sure all that glitters is gold / and she’s buying a stairway to heaven.» Der Rest folgte wie aus einem Guss. Ein Mix aus Mythologie, Philosophie und ein paar Bibelverweisen. Sanft und ausdrucksvoll in Versen gesungen.

Dann der kantige Drum-Einstieg von John «Bonzo» Bonham, der mit seinem einmaligen Power-Drumming den ganzen Song trägt und nie in beliebige Balladensülze abdriften lässt. Das legendäre Gitarrensolo von Page ist lyrisch und kraftvoll zugleich. Jede Note ist da, wo sie sein muss. Gepeitscht von einer zwölfsaitigen E-Gitarre, die dann vom Sänger aufgefangen und weitergetrieben wird. Schliesslich beendet nur Gesang, unbegleitet, diesen magischen Zauberritt.

Inside Kronenhalle – Luxus und Tradition: SRF-Dok. 3 Folgen. Abrufbar auf Srf.ch

Wenn etwas Ikonisches wie die Zürcher «Kronenhalle» porträtiert werden soll, besteht die Kunst für die Verantwortlichen, aber auch für die Journalisten darin, genau so viel zu zeigen, dass keine Entzauberung stattfindet. Beiden Seiten gelingt dies ziemlich gut.

Das bekannteste Restaurant Zürichs, oder vielleicht sogar des ganzen Landes, feiert dieses Jahr seinen 100. Geburtstag. Das Schweizer Fernsehen erforschte deshalb das Innenleben der «Kronenhalle». Die grosse Leistung des fabelhaften Lokals, das wird sofort klar, ist die Konservierung des Geists der Gründerfamilie Zumsteg. Man geht nicht mit der Zeit und bleibt deshalb besonders. Die Gäste lieben den Glanz sowie die Qualität des Ewigheutigen. Und, wie es scheint, hält dieser Spiritus auch die Belegschaft zusammen: Der forsche Küchenchef (hat schon für Sophia Loren gekocht), genialer Verwalter des Bodenständigen, seit Jahrzehnten dabei, die sorgfältige Chef de Rang und die quirlige Lehrtochter – sie alle ziehen am selben Strick. Das ist nicht nur gastronomisches Gold, sondern auch mediales.

Allerdings sorgt der Fokus des Dreiteilers hin und wieder für Stirnrunzeln: Mit einem Feueralarm in der «Kronenhalle» beschäftigen sich die Fernsehleute, obwohl nichts passiert, minutenlang, während die beiden berühmtesten Schweizer, die regelmässig in der Zürcher Traditionsgaststube zu essen und zu trinken pflegten, unerwähnt bleiben: Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch.

An Accident / a Life: Von Marc Brew und Sidi Larbi Cherkaoui. Nächste Aufführungen: Sierre, Théâtre Les Halles, 4. und 5. Mai; Bulle, Salle CO2, 10. Mai; Kaserne Basel, 16. und 17. Mai

Der 11. Oktober 1997 änderte alles. Marc Brew war ein junger Balletttänzer in Südafrika und mit drei Freunden unterwegs, als ein angetrunkener Fahrer in ihr Auto krachte. Nur einer der vier jungen Leute überlebte: Marc Brew, und er würde nie mehr laufen können. Aber in seinem Kopf und seinem Herzen war er der Tänzer geblieben, der er seit seiner Kindheit in Australien sein wollte. Also tanzte er weiter, organisierte sich neu, trainierte neu – und ist zu dem Marc Brew geworden, den wir heute kennen: einer der charismatischsten Tänzer im Rollstuhl weltweit. Und ein Leuchtturm für den integrativen Tanz.

Längst choreografiert der heute in Schottland lebende Künstler eigene Stücke, ist aber weiterhin auch auf der Bühne zu sehen. So nun im Solo «An Accident / a Life» im Rahmen des internationalen Tanzfestivals Steps, das vom 24. April bis zum 19. Mai zehn Produktionen durch die Schweiz touren lässt. Für diese Arbeit hat er sich mit einem der international gefragtesten Choreografen zusammengetan: Sidi Larbi Cherkaoui, der seit der letzten Spielzeit das Ballett des Grand Théâtre de Genève leitet.

Er habe in Marc Brew einen neuen Bruder gefunden, sagt Sidi Larbi Cherkaoui, als wir uns im Februar in Den Haag bei der Premiere von «An Accident / a Life» am Holland-Dance-Festival treffen: «Ich fühle wie er.» Das ist keineswegs Koketterie, sondern gehört zur Art und Weise, wie der belgische Choreograf arbeitet. Er war schon immer neugierig wie ein junger Hund, wenn es um die Lebenslinien und Bewegungsmuster anderer Künstler ging. Aus der Befragung und Verbindung verschiedener Kulturen und Stile heraus hat er immer wieder Spannendes und Innovatives geschaffen.

Marc Brew ist einer der charismatischsten Tänzer im Rollstuhl weltweit.

Divergierende Kulturen, unterschiedliche Perspektiven auf die Welt musste er von Kind an zusammenbringen. Sein Vater war marokkanischer Muslim, seine Mutter eine katholische Flämin. Zu Hause in Antwerpen wurde französisch gesprochen, in der Schule niederländisch, und der Junge wollte Tänzer werden und kein Fleisch essen. Er tanzte Hip-Hop, Jazz, Ballett, alles, was er irgendwie lernen konnte. Und er forschte und experimentierte nach seinem Studium eifrig weiter.

So trat er zusammen mit der berühmten Flamencotänzerin María Pagés auf, hat mit Tangueros in Argentinien gearbeitet und mit jungen Shaolin-Mönchen aus China. Er hat für Beyoncé Musikvideos choreografiert und Shows für den Cirque du Soleil; er inszeniert Opern und erzählt alte Tanzgeschichten neu. Die Begierde, verschiedene Traditionen und Formen aus dem Innersten heraus zu verstehen, und das Fehlen jeglicher Berührungsängste haben ihn zu dem grossen Künstler gemacht, der er ist.

 

Lakonie ohne Pathos

Und so hat Sidi Larbi Cherkaoui seinen Kollegen Marc Brew nach dem befragt, was wir uns Behinderte normalerweise nicht so recht getrauen zu fragen: nach dem Grund der Behinderung, jenem Tag des Unfalls. «An Accident / a Life» ist ein Stück übers Erinnern. «Marc erinnerte sich an Dinge, von denen später andere Menschen sagten, so sei es nicht gewesen», erzählt Sidi Larbi Cherkaoui in Den Haag vor der Premiere. «Jede und jeder von uns hat eine persönliche Idee seiner Vergangenheit. Aber Marc zoomt sich da richtig rein und leistet physisch Unglaubliches, als würde er durch die Erinnerung neue Kraft finden.»

Seine Erinnerungsfetzen setzt er in farbigen Buchstaben auf die Motorhaube des Autos.In dem Solo setzt Marc Brew nun die Puzzleteile seiner Erinnerungen an jenen Wendepunkt 1997 zusammen – bildlich, körperlich, sprachlich. Ein Moment, in dem alles stillstand. Er spricht von seinen Gefühlen, als er im Spital erkennen musste, dass er als einziger der vier Freunde überlebt hatte. Und er tut dies mit einer Lakonie, die sich jedes Pathos verbietet. Seine Erinnerungsfetzen setzt er in farbigen Buchstaben auf die Motorhaube des Autos. Dann wird es hochgezogen und schwebt über ihm, die ganze Performance lang. Während er darunter seine Glieder wieder und wieder neu zusammensetzt und ineinander verschlingt, als müssten sie ihm auf die Spur seiner verschlungenen Erinnerungen helfen.

Gleich nach der Premiere in Den Haag eilt Sidi Larbi Cherkaoui zurück nach Genf. Er inszeniert am Grand Théâtre die Mozart-Oper «Idomeneo» – Premiere war im Februar. Der Genfer Ballettchef ist auf vielen Bühnen und in vielen Medien unterwegs. «An Accident / a Life» hat er mit Eastman produziert, seinem Labor in Antwerpen, von dem aus er seit 2010 mit Hip-Hoppern und zeitgenössischen Tänzern innovative Wege geht. Die Produktionsplattform hat er weitergeführt, als er 2015 das Königliche Ballett von Flandern und 2022 das Genfer Ballett übernahm.

Dem Grand Théâtre bringt er neben frischem Wind viel Prestige und neue Verbindungen zu Tanzveranstaltern in aller Welt. Hier hat er in der letzten Spielzeit sein wunderschönes Ballett «Ukiyo-e» geschaffen und angefangen, ein Repertoire mit Stücken aus dem neueren belgischen Tanzschaffen aufzubauen. Welch ein Glück für Genfer Tanzfans.

Die 53-jährige Bündner Strahlefrau empfängt die Weltwoche zum Gespräch in ihrem Haus in Malix mit prächtiger Aussicht auf Berg und Tal. Hier wohnt sie zusammen mit ihrem zweiten Mann Ruedi, einem Landmaschinenunternehmer, und ihrer Familie. Niederberger, die in Malix aufwuchs, hat sechs Kinder im Alter zwischen 19 und 34 Jahren. Die Bauerntochter machte eine Lehre als Metzgereiverkäuferin und später eine sozial-psychologische Ausbildung. Sie ist Gemeindepräsidentin von Churwalden und seit 2009 Präsidentin des rund 16 000 Mitglieder grossen Eidgenössischen Jodlerverbands. An dessen 110. Delegiertenversammlung im März wurde sie mit tosendem Applaus wiedergewählt.

Weltwoche: Waren Sie schon immer so beliebt?

Karin Niederberger: Am Anfang nicht. Ich habe das Amt auch nicht gesucht. Ich liess mich aber überzeugen. Der Verband stand damals kurz vor dem 100. Geburtstag, aber niemand wollte Präsident werden und dieses Jubiläum stemmen. Ich dachte: Das kann ja nicht sein! Wir besingen stets unser schönes Land sowie den Zusammenhalt, und jetzt will niemand übernehmen? Das reizte mich und ich bewarb mich.

Weltwoche: Wie waren die Reaktionen?

Niederberger: Bei der Wahl stand jemand auf und sagte, eine Mutter mit sechs Kindern könne ein solches Amt nicht bewältigen. Ich war völlig überrascht, dass das überhaupt ein Thema war. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Für mich war immer selbstverständlich, dass Frau und Mann auf Augenhöhe arbeiten. Es meldete sich dann eine Jodlerin, die sagte, ob man einen Mann mit sechs Kindern dasselbe fragen würde. Damit war die Sache vom Tisch.

Weltwoche: Wie hat sich der Jodlerverband unter Ihrer Führung verändert?

Niederberger: Inhaltlich nicht, unsere Aufgabe ist es ja, an der Tradition der Gründer festzuhalten. Aber die organisatorischen Strukturen wurden laufend überprüft und angepasst.

Weltwoche: Haben Sie eiserne Prinzipien, wie Sie das Brauchtum schützen?

Niederberger: Es gibt die ursprünglichen Regeln, die wir jedes Jahr während unserer Klausurtagung beherzigen, dabei fragen wir uns stets: «Machen wir genug, um das Brauchtum zu erhalten?» Es gibt Dinge, die uns entschlüpft sind, die Trachten zum Beispiel: Viele tragen sie traditionell, aber manche Vereine sehen mittlerweile aus wie normale Musikgesellschaften.

Weltwoche: Was tun sie dagegen?

Niederberger: Diese lockerere Art hatte vor meiner Präsidentschaft begonnen. Um so etwas wieder rückgängig zu machen, war es leider zu spät. Es ist auch in Ordnung, wenn sich das Drumherum weiterentwickelt. An einem Jodlerfest gelten aber die traditionellen Regeln. Dann werden auch die Trachten korrekt getragen.

Weltwoche: In welchem Zustand befindet sich das Jodeln in der Schweiz?

Niederberger: In einem sehr guten. Ich sehe auch, dass Jodeln, Alphorn-, Büchelblasen und Fahnenschwingen immer noch sehr beliebt sind und vielen Leuten in dieser narrenverrückten Welt einen Halt geben. Bei uns sind alle vertreten – vom Doktor bis zum Bauer –, und wenn man am Jodlerfest die Trachten trägt, spielt es keine Rolle, was du bist, man sieht es auch nicht. Dann sind alle gleich. Das gibt einen sozialen Zusammenhalt. Auch die Jungen kommen nach. Ich sehe das in meiner Familie. Meine Kinder fragen sich vermehrt: Was sind unsere Wurzeln, was ist wirklich wichtig, was hält uns zusammen? Natürlich ist das auch in anderen Verbänden und Klubs so. Wir besingen und bespielen den Zusammenhalt einfach auch noch. Jodeln ist eine Lebensphilosophie.

Weltwoche: An der Hochschule Luzern hat kürzlich jemand zum ersten Mal einen Masterabschluss im Jodeln gemacht. Was halten Sie von dieser Akademisierung?

Niederberger: Bis jetzt kam der Jodlerverband auch ohne Akademisierung aus. Aber wenn in der heutigen Zeit das Bedürfnis danach besteht, ist das wunderbar. Es ist sicher eine grosse Bereicherung in der musikalischen Ausbildung. Nun kann Jodeln auch in der Schule unterrichtet werden. Das dürfen wir «Laien» ja nicht. Andererseits gehen Leute mit einem Abschluss im Jodeln sicher nicht zum gleichen Lohn dirigieren, wie wir es machen. Die Frage lautet dann: Kann sich ein Klub das leisten?

Weltwoche: In Zürich wurde vor ein paar Monaten der erste schwule Jodlerchor gegründet. Wird das bei Ihnen diskutiert?

Niederberger: Das ist überhaupt kein Thema. Bei uns sind alle herzlich willkommen, ob jemand jetzt auf Schnäbis oder was auch immer steht. Die sexuelle Orientierung spielt keine Rolle.

«Bei uns sind alle herzlich willkommen, ob jemand jetzt auf ‹Schnäbis› oder was auch immer steht.»Weltwoche: Auch unter Feministinnen wird gejodelt. Jüngst trat der Chor «Echo vom Eierstock» im Bundeshaus auf. Was halten Sie davon?

Niederberger: Für mich persönlich ist das etwas zum Fremdschämen. Mit diesem Namen wird der weibliche Körper für eine Provokation missbraucht. Und auch die Kompositionen sind respektlos. Ohne die Komponisten zu fragen, ändern sie Texte um. Aber es ist irgendwie auch ein Spiegel der Gesellschaft: Je ausgefallener etwas ist, desto mehr wird es beklatscht, während man auf das Normale, Bodenständige herabschaut. Viele sehen nicht, wie viel Arbeit hinter dem sogenannt Normalen steckt. Für mich ist das eine unrühmliche Wohlstandserscheinung. Die Gesellschaft hebt immer mehr ab. Es ist kein Zufall, dass heute so viele Jugendliche mit psychischen Problemen kämpfen. Jeder braucht eine Insel, wo er sich erden, wo er auftanken kann. Das war schon immer so. Ob das nun Blasmusik, Sport oder eben Jodeln ist. Wenn wir bei uns die schönen Schweizer Wiesen und Blumen besingen, ist das echt, die gibt es ja wirklich. Findet aber eine Entwurzelung statt, ist das nicht gut für das Zusammenleben.

Weltwoche: Andererseits ist Jodeln so mainstreamig wie noch nie: Die Alben des Jodelchors Heimweh zum Beispiel erreichen in der Pop-Hitparade regelmässig Spitzenplätze. Wie erklären Sie sich das?

Niederberger: Es war ja der Nidwaldner Jodlerklub Wiesenberg, der am Anfang dieser Popularisierung stand. Nun, Tradition macht sich auch in den sozialen Medien gut. Die Verbreitung ist dadurch einfacher. Die Mischung zwischen Modernem und der Tradition ist ausserhalb unseres Verbandes eine grosse Bereicherung für die Schweizer Musikwelt.

Weltwoche: Nimmt die Qualität des Jodelns durch die Kommerzialisierung und die Akademisierung zu?

Niederberger: Ja, das tut sie. Einerseits ist das positiv. Andererseits führt die Professionalisierung dazu, dass die Ansprüche an die Chöre, die das Jodeln ja als Hobby betreiben, steigen. Das sorgt bei unseren Mitgliedern auch für Kritik: weil es mit dem üblichen Aufwand vielleicht plötzlich nicht mehr reicht, um bei einem Jodelfest, das gleichzeitig immer auch ein Concours ist, eine gute Klassierung zu erhalten. Und wird es zu anspruchsvoll, verlieren wir Mitglieder. Wir reagieren darauf, indem wir an den Festen eine Kategorie ohne Benotung eingeführt haben.

Weltwoche: Welche Führungsgrundsätze haben Sie als Präsidentin?

Niederberger: Vieles kommt aus dem Bauch heraus. Aber ich habe natürlich meine Werte, die ich im Verband hochhalte: ehrlich sein, authentisch bleiben – und nicht für mich, sondern für die nächste Generation arbeiten.

Weltwoche: Sie haben eine achtköpfige Familie, managen sie diese wie den Verband oder den Verband wie die Familie?

Niederberger: (lacht) Das sind schon zwei unterschiedliche Herausforderungen. Wobei ich natürlich versucht habe, den Kindern unsere Werte zu vermitteln. Der Weitblick ist für mich halt immer wichtig: Es muss nicht nur für uns im Moment reichen, sondern auch für die kommende Generation. Grundvoraussetzung dafür ist, dass man gut zusammen funktioniert. Und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft beginnt in der Familie. Wirklich bewusst ist mir das im Verband geworden. Das heisst auch, dass sowohl im Verband als auch in der Familie alle mithelfen müssen. Sonst hätte ich es nicht geschafft, sechsfache Mutter, Gemeindepräsidentin und Verbandspräsidentin zu sein.

Weltwoche: Ihr Mann war und ist voll berufstätig. Wie hat das trotzdem funktioniert? Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist seit Jahren ein grosses Politikum.

Niederberger: Mit sechs Kindern auch noch Karriere machen, geht nicht. Wenn wir Familie haben wollen, müssen wir auch verzichten können. Und ich wollte meine Kinder selber erziehen. Ganz am Anfang haben mich meine Mutter und die Schwiegermutter unterstützt. Bei mir funktionierte es, weil ich ehrenamtlich arbeite. So konnte ich auch mal sagen, dass ich nicht an diese Versammlung oder jene Sitzung komme, wenn ein Kind krank war. Wenn ich in einer Firma angestellt gewesen wäre und Karriere hätte machen wollen, hätte ich meinem Arbeitgeber gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt. Ich denke da vielleicht altmodisch. Die beste, schönste und anstrengendste Aufgabe, die ich je gemacht habe, war aber die Familie: das Grossziehen unserer Kinder. Ihnen die Schweiz mit ihren jahrhundertealten Werten und Traditionen als Mutter und Verbandspräsidentin zeigen zu dürfen, war und ist ein grosses Privileg.

Weltwoche: Was bedeutet Ihnen Jodeln ganz persönlich?

Niederberger: Sehr viel. Erdung, zu mir finden, bewusst atmen, zusammen ein Ziel erreichen. Das Publikum begeistern. Es hat so viele Aspekte. Ich bin ja auch noch Dirigentin des Klubs, und ich trete hin und wieder solo auf. Alphornblasen, Fahnenschwingen und Jodeln bedeutet natürlich auch Tradition und Heimat: Für mich ist Jodeln der Sound der Schweiz. Das habe ich auch während der verrückten Corona-Zeit gemerkt: Wir mussten einfach zusammenhalten, und das haben wir auch getan. Das sah ich dann am letztjährigen eidgenössischen Jodlerfest in Zug: Es war ein grosser Erfolg, der mich bei meiner Ansprache, nach dieser herausfordernden Zeit neben Bundesrat Berset und vor unseren Aktiven und den Gästen stehend, zu Tränen rührte. Das Vertrauen in die Gesellschaft habe ich nicht verloren. Im Gegenteil.

Nico Semsrott: Brüssel sehen und sterben – Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe. Rowohlt. 352 S., Fr. 28.90

Nico Semsrott ist sicher kein einfacher Mensch. Er leidet nach eigener Aussage an Depressionen, ist kontaktscheu und hüllt sich vermutlich daher vorzugsweise in einen Hoodie, dessen Kapuze ständig oben ist. Ausserdem ist Semsrott ein gnadenloser Idealist, der fest an das Gute im Menschen glauben und die Welt nicht nur zu einem besseren, sondern zu einem guten Ort machen will. «Ich war naiv», gesteht er selber ein.

Nicht die besten Voraussetzungen für eine politische Karriere, und schon zweimal nicht in der Schlangengrube europäischer Politik in Brüssel. Doch genau dort landete Semsrott vor fünf Jahren: Für die deutsche Spasspartei Die Partei wurde der Satiriker mit Martin Sonneborn ins Europaparlament gewählt. Einmal und nie wieder. Enttäuscht, erschüttert, desillusioniert, ja, angewidert, wird er dieses Jahr nicht mehr kandidieren. Ausserdem hat er auf 350 Seiten eine gewichtige Abrechnung mit der EU vorgelegt: «Brüssel sehen und sterben – Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe».

Um eines vorwegzunehmen (Achtung, Spoiler-Alarm): Den Glauben an die EU hat Semsrott nicht verloren. Sie sei eine «super Idee, nur leider ziemlich schlecht umgesetzt». Er habe sich denn auch oft gefragt, «wie dieses Parlament es schafft, so schön und so scheisse gleichzeitig zu sein». Ungeschminkt gibt er zu, dass dieses Gremium mit seinen 705 Abgeordneten, 8000 Beamten und einem Jahresbudget von 2,38 Milliarden Euro eigentlich überflüssig ist: Wenn Demokratie bedeute, dass viele Menschen beteiligt und wahrgenommen würden, «ist die EU das absolute Gegenteil: Es wird so gut wie niemand beteiligt, und wahrgenommen erst recht nicht.»

 

Grauzone des Lobbyismus

Dass das EU-Parlament weitgehend machtlos ist, hat sich schon herumgesprochen. Im Grunde sässen dort «705 kleine Bundespräsident:innen, die Sonntagsreden halten und hoffen, dass das irgendjemand mitbekommt und irgendwen berührt». Es sei «ein Ort der Unfreiheit und der Ohnmacht». Mit dem Volk müssten die Volksvertreter, wenn sie nicht wollten, gar nicht in Kontakt treten: Im Parlamentsgebäude gibt es vom Postamt und dem Supermarkt bis zum Arzt und zum Friseur alles, was man braucht. Korridore verbinden die einzelnen Gebäude miteinander, und selbst den monatlichen Trip zum zweiten Tagungsort Strassburg legt man – unter sich – im eigenen Charter-TGV zurück.

Semsrott enthüllt auch detailliert, wie korrupt es im Parlament zugeht. Korruption, so schreibt er, «ist de facto so lange erlaubt, bis es herauskommt». Das beginnt bei Kleinigkeiten: Obwohl er eine deutsche und eine belgische Bahncard als Teil üppiger Privilegien erhält, kann er trotzdem ein Billett von Berlin nach Brüssel abrechnen. Einen Beleg muss er nicht vorlegen. Will er noch mehr absahnen, rechnet er Kilometergeld für die Strecke ab – ebenfalls ohne Beweis. Auch Privatreisen werden klaglos rückerstattet.

«Dieses System ist auf so vielen Ebenen abgefuckt, dass ich am Ende nur sagen kann: Respekt!»Weiter oben beginnt die Grauzone des Lobbyismus, wo es keine Trennung der Gewalten gibt: Abgeordnete arbeiten schamlos für Unternehmen. «Oben», so Semsrott, ist alles eins. Die Parlamentspräsidentin beschäftigt den Mann ihrer Schwester, und wenn, wie vor zwei Jahren, wirklich mal ein grösserer Fall von Korruption publik wird, versandet der sehr rasch. Semrotts zynisches Fazit: «Dieses System ist auf so vielen Ebenen abgefuckt, dass ich am Ende nur sagen kann: Respekt!» Es funktioniere nach einem einfachen Prinzip: «Einige Abgeordnete wollen Regeln, die anderen wollen keine Regeln – man einigt sich auf Regeln, die keiner kontrolliert.» Und: «Macht ist, wenn du dir einfach aussuchen kannst, ob die Regel jetzt gilt oder nicht.»

Die bittere Erkenntnis des Satirikers: Er sei im EU-Parlament «ein schlechterer Mensch» geworden: «Mein Idealismus ist von Erfahrung zu Erfahrung Stück für Stück abgestorben.» Dennoch wirbt er dafür, im Juni ein neues Parlament zu wählen: «Die Idee, dass ich Arschlöchern das Leben ein bisschen schwerer machen kann, ist für mich Motivation genug, wählen zu gehen.»

Jean Van Hamme / Philippe Berthet: Das Schicksal der Winczlav. Schreiber & Leser. Drei Bände. Ca. Fr. 25.– pro Band

«Endlich», jubelte Frankreichs Presse, «ein französischer James Bond!» Der hiess Largo Winch, smart, durchtrainiert, Chef eines globalen Unternehmens. Kein Weltenretter, seine Aktivitäten beschränkten sich auf Wirtschaftskriminalität. Das war Ende der 1970er Jahre, der Erfolg der «Winch»-Romane, ein halbes Dutzend, blieb mässig. Rund zwanzig Jahre später erschienen sie im belgischen Dupuis-Verlag noch mal, als Comic – und wurden zu Bestsellern: «Winch» brachte es auf 390 000 verkaufte Exemplare pro Band und auf inzwischen zwanzig Alben, eine TV-Serie mit 38 Episoden und zwei Spielfilme. Ein Rummel wie um «Asterix». Was der Gallier-Gnom für die Spassgemeinde, erfüllt Largo Winch für die Adventure-Freunde – allerdings nur im frankobelgischen Raum; im deutschsprachigen tut man sich traditionsgemäss schwer mit dieser «Leichtigkeit des Seins».

Schöpfer der Erfolgsfigur ist der Belgier Jean Van Hamme, 85, das Pendant zu René Goscinny, dem Autor von «Asterix», «Lucky Luke» und «Isnogud». Van Hamme studierte Ökonomie, bereiste als Marketingexperte verschiedener Unternehmen die halbe Welt und hängte Mitte der 1970er Jahre seinen Beruf an den Nagel, um nur noch zu schreiben, erst Romane, dann Comics. Mitte der 1980er Jahre entstand daraus, mit dem belgischen Zeichner William Vance, «XIII», der erste Wurf. Der Titel bezieht sich auf eine Tätowierung auf der Schulter des Helden, sonst weiss er nichts von sich. Gedächtnisverlust, Identitätssuche, Verschwörungen wie bei Jason Bourne («Die Bourne Verschwörung»). «XIII» wurde zur Endlosserie, begleitet von TV-Filmen und Computerspielen. «Largo Winch», in den 1990ern gestartet, wurde der Überflieger. Auch qualitativ hatte Van Hamme eine neue künstlerische Höhe erklommen.

Es gibt keinen Schmutz, nur eine Welt voller lärmender Impulse, aus der alles Leben geschwunden zu sein scheint.

2017 kündigte er an, aufzuhören. Dem Dupuis-Verlag gefiel das nicht, er suchte eine Möglichkeit, Van Hamme noch mal zu binden: mit einem Prequel, einer Vorgeschichte. Das reizte den Alt-Profi dann doch, und so entstand das dreibändige Meisterstück «Das Schicksal der Winczlav», die Entstehungsgeschichte jenes W-Imperiums, das dem Draufgänger Largo seine Eskapaden ermöglicht. Wie in allen Familiengeschichten läuft nicht alles gerade, sondern krumm, mit Intrigen und Rivalitäten.

 

Inspiriert von Zola

Die Saga beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts in Montenegro, mit Vanko Winczlav, einem Arzt, der aus politischen Gründen in die Neue Welt flieht und durch Heirat, Scheidung und Affären Gründer zweier Familien wird, die sich verzweigen. Die direkten Nachkommen des Arztes verkürzen ihren Namen zu Wincz und schliesslich Winch und erkämpfen sich mit Zähigkeit einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft. Van Hamme konzentriert sich abwechselnd auf getrennt lebende Familienzweige. Im Zentrum bleibt Nerio Winch, direkter Nachfahre von Vanko Winczlav. Er ist der eiskalte Gründer des W-Imperiums, das Largo übernimmt.

Van Hammes Familiensaga hat natürlich ihre Inspirationsquellen, zur auffälligsten gehört Emile Zolas Romanzyklus «Rougon-Macquart», vor allem «Das Glück der Familie Rougon». Schildert Zola die Verbürgerlichung reich gewordener Bauern, ist es bei Van Hamme die bäuerlich geprägte Familie aus dem Balkan, die sich zu amerikanischen Kapitalisten entwickelt. Van Hamme erzählt das natürlich in Bildern, was nicht leicht ist angesichts fehlender rasanter Action. Autor und Zeichner müssen deshalb seelische und emotionale Stimmungen glaubhaft machen. Van Hamme schuf «Largo Winch» mit dem Belgier Philippe Francq, einem rigoros realistischen Stilisten. Für das Prequel hat man Philippe Berthet (ebenfalls Belgier) verpflichtet, einen Ligne-claire-Zeichner. Mit ziseliert dünnem Strich presst er die Winczlav-Saga in eine artifizielle Form. Nicht nur das Umfeld, auch die Figuren; das kann auf den ersten Blick irritieren.

Denn alles ist, von Montenegro über den Luftkrieg im Ersten Weltkrieg bis zu den Unruhen im Kosovo, wie in Schönheit eingefroren. Es gibt keinen Schmutz, nur eine Welt, die völlig clean ist. Eine Welt, die zwar voll lärmender Impulse ist, aus der aber zugleich alles Leben geschwunden zu sein scheint. Und die Figuren sind wie die Räume, in denen sie wirken. Genau das macht die Erzählung so magisch: Es ist der Blick zurück, eine Suche nach verlorener Zeit, von der nur verklärende Bilder gefunden werden. Oder wie Marcel Proust schrieb: «Die Tatsachen dringen nicht in die Welt ein, die von unseren Glaubensinhalten bewohnt wird.» Deshalb war Berthet die richtige Wahl. Ein Comic-Meisterstück.

Sunny Five (Tim Berne, David Torn, Ches Smith, Devin Hoff, Marc Ducret): Candid. Intakt CD 415

Gewichtheben tut weh, Langlaufen erschöpft, ja, eine Sauna ermüdet, von intimeren körperlichen Betätigungen zu schweigen. Aber das Wohlgefühl danach!

Auf so etwas bringt mich eine CD mit dem ironischen Titel «Sunny Five». Sie ist vom Altsaxofonisten Tim Berne, mit Jahrgang 1959 nachgerade ein Altmeister der sogenannt freien Improvisation. Der Mann traut sich was, nicht nur für sein Alter. Was er sich und uns zumutet, ist eine Anstrengung, sozusagen mentale Schwerstarbeit: eine Art Höllenfahrt durch die mehrheitlich elektrischen oder elektronischen Soundgewitter der beiden Gitarristen David Torn und Marc Ducret (beide alte Weggefährten von Berne), des Bassisten Devin Hoff und des Drummers Ches Smith. Aus dem Getöse von dicht verwobenen, meist nur angekratzten Fragmenten und Klängen am Rand zum reinen Geräusch, tiefgeschrammten Einwürfen und elektronisch höchsttonigem Pfeifen nahe der Schmerzgrenze, aus dem magmatischen Urchaos sozusagen steigen ab und an fragmentarische Zusammenhänge, Umrisse harmonischer oder rhythmischer Art. Sie werden zerfetzt, bevor sich unser anklangsüchtiges Ohr daran festklammern oder gar darin einnisten kann.

Und aus dem kollektiven Fortissimo steigt manchmal wie eine gehisste Fahne letzter Hoffnung der cry von Bernes Alto, auch meist eine attacca in einer Intensität, die man als Zuhörer erst einmal aushalten muss. Cry meint im Jazz ja den persönlichen Sound eines Instrumentalisten. Bei diesem Quartett ist das insgesamt wörtlich zu nehmen: Der Schrei ist gewissermassen der Umgangston in diesem Vierergespräch.

Das kürzeste Stück von «Candid» dauert knappe neun, das längste etwas mehr als 35 Minuten. Auch was unser Stehvermögen anbelangt, sind wir gefordert. Wobei: Während des Parforce-Parcours eröffnen sich ab und zu Ruhezonen, Momente nicht gerade der Stille, aber der Ruhe, zwei, drei akustische Gitarrenklänge, so plötzlich, dass wir auch fast wieder erschrecken. Und aber das Gefühl danach! Die Stille dröhnt uns in den Ohren, die Gedanken rasen in einem endlosen Decrescendo weiter.

Die Anregung von Bill Meyer, dem Rezensenten des Albums im Fachblatt Down Beat, leuchtet ein: «Wenn immer Sie nach einem Soundtrack für Ihren Ausflug auf einen aktiven Vulkan suchen, legen Sie das auf Ihre Kopfhörer.»

Caspar David Friedrich, Die Lebensstufen, 1835 – Lange war er von der Bildfläche verschwunden. Hing in Museen, die Menschen huschten an seinen Bildern vorbei, nahmen als Bild einen flüchtigen Eindruck mit, wie Menschen eben so sind. Sahen über Generationen hinweg nicht die Welt und die Welten des grössten Malers der Romantik, jenes Malers, der den Mond mehr mochte als die Sonne, die Abenddämmerung lieber als den Sonnenaufgang, der tagsüber die Vorhänge zuzog, damit genug Dunkelheit herrschte für das Licht der inneren Bilder.

Da sind fünf Menschen versammelt in der Abenddämmerung und fünf Schiffe, die auf Fahrt gehen werden oder von der grossen Fahrt auf den Gewässern zurückkehren oder schon angekommen sind, um die Fracht für die allerletzte Fahrt aufzunehmen, in die Nacht zu segeln und nie mehr in einem Tag anzukommen.

Das ist das Leben; eine grosse Fahrt durch Flauten und Stürme, unter brennenden und kalten Sonnen, leuchtenden und stumpfen Monden, voller Horizonte, die stets zum Greifen nah scheinen und doch unerreichbar sind, voller Freude und Melancholie, jeder und jede sein eigenes Schiff auf demselben Gewässer.

Als Caspar David Friedrich (1774–1840) diese Allegorie malte, war er der beste Maler, der er werden konnte, all seine inneren Bilder hatten sich zu Klarheit verdichtet, kaum andere Boote waren noch in seiner Sichtweite, er segelte allein dem Tod entgegen, der ihm in Form eines Schlaganfalls schon eine Grussbotschaft hat zukommen lassen.

Seine Kunst war damals schon aus der Zeit gefallen und dümpelte. Friedrich wollte nicht über den Schatten seiner Romantik springen und sich treiben lassen von den neuen Strömungen. Er verarmte, starb und geriet länger, als er lebte, in Vergessenheit. Jetzt wird er gerade wiederentdeckt, in grossem Stil. Wahrscheinlich, weil die Sehnsucht nach romantischem Leben ferner scheint, als ein Horizont es je sein kann.

Klaus-Rüdiger Mai: Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen. Europa Verlag. 240 S., Fr. 34.90

Die DDR war der Sommernachtstraum vom Sozialismus, wie ihn sich der deutsche Spiesser vorstellt. Ein graues Einerlei voller Vorschriften. Hier war die Vitalität in ihren Unwägbarkeiten gebändigt, die Leidenschaften auf ein unvermeidliches Mindestmass heruntergeregelt, das Vergnügen wurde zur Sättigungsbeilage der Pflicht. Und was mit Abweichlern zu geschehen hat, hatten die Deutschen längst erprobt.

Kurzum: «Im Vergleich zur BRD war die DDR, was immer man im Einzelnen an ihr aussetzen mag, in jeder Phase ihrer Entwicklung das friedlichere, sozialere, menschlichere Deutschland», resümierte Sahra Wagenknecht in einem Spiegel-Interview 1994, fünf Jahre nach Zusammenbruch des SED-Staates.

Ein Besuch in der Gedenkstätte des Foltergefängnisses der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen würde wohl ausreichen, um einen gegenteiligen Eindruck zu gewinnen.

Gleichwohl formulierte die damals 26-jährige Frontfrau der Kommunistischen Plattform in der PDS, der Nachfolgepartei der SED und Vorläuferin der Linkspartei, ein Lebensgefühl, das auch noch im 34. Jahr der deutschen Einheit unterschwellig oszilliert. Auf seltsame Weise hat es die DDR im Gedächtnis vieler Ostdeutscher geschafft, als ein Unrechtsstaat in Erinnerung zu bleiben, in dem es sich trotz aller Widrigkeiten recht gut leben liess. Jedenfalls, solange man nicht allzu sehr totgeschossen auf dem Grenzstreifen lag.

Die junge Sahra verschlang Bücher wie andere Menschen Süssigkeiten, entdeckte Hegel und Goethe für sich.

Insofern verfügt Klaus-Rüdiger Mai, 61, dessen Monografie über Sahra Wagenknecht den etwas unscheinbaren Titel «Die Kommunistin» trägt, über einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber bisherigen Biografen und Porträtisten der Links-Ikone: Er stammt wie Wagenknecht, 54, aus der DDR.

Der Dramaturg, Schriftsteller und politische Publizist Mai hat die einstige sowjetisch besetzte Zone nicht nur erlebt, sondern sichtlich durchlitten. Seine Schilderung der jungen Wagenknecht als aufblühende Intellektuelle in der bereits dahinsiechenden DDR liest sich denn auch ein bisschen wie eine persönliche Auseinandersetzung des Biografen mit dem verzweifelten Unterfangen der Intelligenzia, in der Geistesferne des real existierenden Sozialismus zu überleben.

Sahra Wagenknecht kam 1969 zur Welt, als uneheliche Tochter einer Ostberliner Studentin und eines Studenten aus Westberlin, der aus dem Iran stammte und Schah-Gegner war. Sie war noch Kleinkind, als ihr Vater von einer Reise in seine Heimat nicht mehr zurückkam. Der Verlust des Vaters war für sie prägend. Wer nichts weiss über den Verbleib eines Elternteils, trägt sein Leben lang eine Fragestellung mit sich herum. Dieses Mysterium, behauptet Mai, wurde für Wagenknecht zum «Material für die Gestalt, die sich Sahra Wagenknecht zu geben wünscht». Die Aura der Sphinx, mit der sich Wagenknecht in ihrer politischen Laufbahn umgibt, ist eine Eigenkonstruktion – «die Erfindung der Sahra Wagenknecht».

Vor dem glanzlosen Alltag im Mauerstaat flüchtete sich die junge Sahra in Bibliotheken. Sie verschlang Bücher wie andere Menschen Süssigkeiten, entdeckte Hegel und Goethe für sich, lernte den «Faust» auswendig und gewann den linientreuen Dichter Peter Hacks, der sich für einen sozialistischen Klassiker und Wiedergänger Goethes hielt, als ihre geistige Vaterfigur. In seinem Kielwasser ästhetisierte sie sich die DDR als das bessere Deutschland zurecht. Als die Mauer fiel, trat sie in die SED ein – als eine beinharte und sogar für späte DDR-Verhältnisse aus der Zeit gefallene Stalinistin.

 

Untiefen des Postmodernismus

Klaus-Rüdiger Mai trägt mit kenntnisreicher Ausführlichkeit die geistigen Grundlagen von Wagenknechts Weltbild zusammen. Wir erfahren viel über Marx und Hegel; auch den Untiefen des Postmodernismus ist ein anschaulicher Exkurs gewidmet. Mais These lautet, dass Wagenknecht, bei all ihren Pirouetten und Häutungen, eine getreuliche Kommunistin geblieben ist. Ob dies stimmt, ist schwer zu beurteilen, weil nicht einmal Kommunisten zu sagen vermögen, was der utopische Begriff Kommunismus genau bedeuten soll. Verlässlich Auskunft geben können vermutlich nur die Opfer, sofern sie kommunistische Experimente überlebt haben.

Allemal ist diese Biografie lesenswert, weil Mai pointiert und geistreich schreibt und mit dem Ausbreiten von Wagenknechts Herkunft auch viel über unsere Gegenwart erhellt. Denn dass Sahra Wagenknecht sich derzeit anschickt, mit einer selbstkreierten Partei die politische Landschaft in Deutschland durcheinanderzuwirbeln, hat auch mit ihrer biografischen Routiniertheit zu tun, sich selbst erfinden zu können.

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