Die Diskussion um schwere Waffen hat hauptsächlich politischen Symbolwert.

Denn es gibt zwei entscheidende und noch nicht beantwortete Fragen: Wann sind die deutschen Flugabwehrkanonen-Panzer und die US-Mehrfach-Abwehrraketenwerfer für die Ukraine tatsächlich vor Ort verfügbar?

Und: Wie kommen diese schweren Waffen überhaupt in die Ostukraine, ohne dass es die Russen verhindern?

Das heisst: Wir können zwar politisch sagen, dass wir mehr für Kiew tun. Aber eine praktische Bedeutung und operative Auswirkung mit Blick auf die laufenden Kampfhandlungen sehe ich nicht.

Was wirklich eine Kriegswende bedeuten könnte, wären zum Beispiel die Lieferung von Kampfpanzer Leopard 2 aus Deutschland, amerikanische M1-Abrams und M2/M3 Bradley sowie der britische Challenger 2.

Aber auch hier stellt sich – abgesehen von kurzfristig kaum realisierbaren ausbildungstechnischen Fragen – die Frage: Wie hat man sich die Verlegung dieser schweren Hauptwaffensysteme in die Ostukraine vorzustellen?

Das ginge nur, wenn die russische Seeblockade durchbrochen, der Luftraum geöffnet und der rund tausend Kilometer lange Landweg durch die Westukraine zu Lande und aus der Luft gesichert wäre. Das geht praktisch nur über den Weg der bereits diskutierten Einrichtung einer Flugverbotszone. Das hiesse im Klartext, dass die Nato Kriegspartei würde, was sie ja nicht sein will.

Aber es besteht die Gefahr, dass man mehr oder weniger in einen Krieg hineinschlafwandelt, wenn wir so weitermachen wie bisher.

Zur Entsendung schwerer Waffen gehört zwangsläufig auch die Entsendung technischen und logistischen Personals, die Einrichtung einer logistischen Lieferkette zur Ersatzteil- und Munitionsversorgung, die zudem militärisch gesichert sein müsste, um funktionieren zu können.

Über dreissig Länder liefern der Ukraine derzeit Waffen ganz unterschiedlichen Typs.

Wie die Ukraine die komplexe logistisch-technische Betreuung so verschiedener Typen organisiert, erscheint mir eine sehr komplexe Aufgabe, deren erfolgreiche Realisierung ich mir kaum vorstellen kann.

Fest steht, dass grösseres westliches Militärgerät auf dem Weg in die Ostukraine von den Russen zerstört, erbeutet und teilweise gegen die Ukraine eingesetzt wird.

Zudem werden schwere Waffen, wenn sie denn tatsächlich vor Ort sind, die operative Situation der Ukraine kaum substanziell verändern. Für gepanzerte Gegenoffensiven brauchen die Ukrainer mindestens dreifache Überlegenheit, in den urbanen Kampfzonen sind schwere Waffen nur sehr bedingt zu gebrauchen, und der logistisch-technische Aufwand bindet sehr viele ukrainische Ressourcen, auch mit Blick auf die tausend Kilometer langen Nachschub- und Versorgungswege.

Fazit: Schwere Waffen eignen sich vor allem dazu, dass sie durch ihren hohen politischen Symbolwert die Eskalation des Konfliktes in Richtung auf einen Stellvertreterkrieg hochfahren.

Die Frage ist, ob das klug ist, zumal es militärisch wenig effizient ist.

Die richtige Strategie gegenüber Russland liegt in der Besonnenheit und im Masshalten zwischen den Extremen.

Mit Blick auf die fatale Appeasement-Politik der dreissiger Jahre muss der Westen Russland klar aufzeigen: So etwas will die Welt nie wieder.

Putin muss klargemacht werden, dass er einen Weltkrieg auslöst, wenn er den Krieg ausweitet und ein Nato-Land angreift.

Gefährlich ist, dass die Stimmungslage zuweilen jener von 1914 ähnelt: Damals glaubten alle massgebenden Politiker wie auch die breite Masse der europäischen Gesellschaften sowie der Intellektuellen an eine ultimative militärische Lösung. Auch Deutschlands militärische Klasse war voll darauf fixiert.

Man sah fatalerweise im Schlieffen-Plan den ultimativen militärischen Weg zur Lösung der damaligen politischen Probleme und steuerte damit – mit viel gutgemeinter Kriegsrhetorik, die man heute auch beobachten kann – geradewegs in den Abgrund.

Die Blauäugigkeit und der mangelnde Realitätssinn mancher heutiger Vertreter der politischen Klasse erinnert mich daran.

Diese Blauäugigkeit ist höchst gefährlich. Wir müssen realpolitisch handeln.

Das Wichtigste ist, einen dritten Weltkrieg, einen Nuklearkrieg zu verhindern – wie Henry Kissinger es kürzlich auf den Punkt brachte.

Konkret: Putin müssen klare Grenzen aufzeigt werden, aber ohne zu übersteuern.

Wir brauchen eine Kombination unserer historischen Erfahrungen der ahnungslosen «Schlafwandler» von 1914 und dem Appeasement von 1938.

Für den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz heisst das, seine Linie beizubehalten. Er muss behutsam und dosiert bleiben und vorgehen.

Sein Problem ist, seine drei Regierungsparteien unter einen Hut zu bringen. Und letztlich auch die bürgerliche Opposition, die sich ja wohl mehr aus parteitaktischen als aus politischen Gründen auf der Linie der Grünen und der Liberalen bewegt. Diese Ausgangslage ist schwierig, aber machbar, wenn Scholz dem Druck standhält.

Wichtig wird sein, noch klarer zu kommunizieren: Bei der General-Debatte von letzter Woche sagte Scholz klar, wo die Grenzen sind und wie weit Deutschland gehen will. Zudem muss er den Bürgern deutlich machen, was dieser Ukraine-Konflikt bedeutet und welche gravierenden wirtschaftlichen Folgen vor allem ab Herbst spürbar sein werden.

Scholz muss betonen, dass es nicht nur um Waffen gehen kann, sondern auch um das politische, wirtschaftliche und soziale Überleben Europas geht.

Klar ist, Deutschland und andere Länder sind zur Hilfeleistung verpflichtet. Doch dies darf nicht zur Selbstzerstörung führen.

Erich Vad ist Brigadegeneral ausser Dienst. Er war Zwischen 2006 und 2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist heute Inhaber der Beratungsfirma Erich Vad Consulting.

Protokolliert: Roman Zeller

Die 3 Top-Kommentare zu "Die USA liefern Raketensysteme, Deutschland Flugabwehr-Panzer und Mehrfachraketen-Werfer: Bedeuten diese schweren Waffen einen Wendepunkt im Krieg um die Ukraine?"
  • a.ziegler

    Warum weiss Herr Vad besser als die ukrainische Regierung, was die Ukraine an Waffen benötigt? Ausser hohlen Ratschlägen, die sehr nach Merkel tönen, kommt da wenig. Wenn ein Land, das überfallen wird nach Hilfe ruft, hilft man oder auch nicht. Aber gute Ratschläge, wie z.B verhandeln, sind lächerlich. Putin will nur eines verhandeln: Die Bedingungen für die Kapitulation der Ukraine. Betet, freie Schweizer betet!

  • thomas hartl

    Erzählen Sie das dem Aggressor Putin. Einem Angriffskrieg kann nur mit bewaffneter Verteidigung entgegen getreten werden. Wer das ablehnt, muss konsequenterweise auch das Recht der Schweiz auf eine Verteidigung in Frage stellen und die Abschaffung der Armee fordern. Warum sollten die Ukrainer weniger Anrecht auf einen unabhängigen Staat haben, als wir Schweizer?

  • erista

    Wie hat alles angefangen? Die russischen Soldaten (grüne Männchen) wurden seit Anfang April 2014 von Russland auch in der Ostukraine eingesetzt, vor allem in den ukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk. Sie gingen dabei nach denselben Mustern vor wie bei der Besetzung und Annexion der Krim im Februar und März 2014. Im Donezbecken organisierten sie Gefolgsleute, die für ein Handgeld von bis zu 500 US-Dollar Angriffe auf ukrainische Einrichtungen ausführten.