Eine der ersten Lebensweisheiten, die mir als Kapitalanleger beigebracht wurden, lautete: «Staaten gehen nicht pleite. Jene, die ihnen Geld geliehen haben, aber sehr wohl!»

Wenn die Schulden eines Unternehmens dessen Aktiven übersteigen, dann gilt es als pleite. Die Eigentümer werden zur Nachfinanzierung aufgefordert, oder es kommt zu Übernahmen und Liquidationen.

Anders bei Staaten. Selbst wenn die Schulden die Aktiven, seien es Infrastrukturen oder Beteiligungen an Unternehmen, übersteigen, gelten sie nicht zwangsläufig als pleite. Die Investoren vertrauen darauf, dass die Steuerzahler für die Staatsschulden geradestehen. Aber es kommt nun immer häufiger vor, dass die Staatsschulden ein Ausmass erreichen, wo man ernsthaft bezweifeln muss, ob die Steuerzahler die Schuldenberge je werden amortisieren können.

Geraten Staaten in Zahlungsverzug, läuft das Drehbuch anders ab als im Unternehmenssektor. Staaten können weder übernommen noch liquidiert werden. Sie können als Gegenleistung für Liquiditätshilfen zwar gezwungen werden, Staatsunternehmen zu privatisieren, aber oft sind diese derart marode und überschuldet, dass niemand einsteigen will. Deshalb kommt Plan B zum Zuge.

Die Gläubiger, hauptsächlich Banken und Anleihen-Investoren, werden Totalausfälle, Schuldenschnitte und Zinsreduktionen, Laufzeit-Verlängerungen, Zinsmoratorien hinnehmen müssen. Es kann zu gefährlichen Kettenreaktionen kommen. Banken aus Frankreich, Italien, Österreich und den USA waren Ende 2021 am stärksten mit Krediten in Russland engagiert.

Im Falle von Russland ist vorerst einmal festzustellen, dass Russlands Staatsschulden 2022 im Verhältnis zum BIP mit 17 Prozent (Quelle: IWF April 2022) wesentlich geringer sind als in den westlichen Industrieländern. Die Ertragsbilanz ist seit vielen Jahren im Plus. 2022 wird ein Rekordüberschuss erwartet. Russland verfügt über viele Staatsbeteiligungen im Energie- und Rohstoff-Sektor, die Einnahmen aus dem Ausland in harter Währung generieren.

Die Währungsreserven sind seit dem Höchststand im Dezember 2021 bis Mitte Juni erst um 47,2 Milliarden US-Dollar auf 582,3 Milliarden Dollar gefallen. Davon dürften jedoch rund 300 Milliarden im Westen blockiert sein. Dennoch, das Land ist nicht ausschliesslich von den Steuereinahmen abhängig.

Die Embargos und das Zurückfahren der Energiebezüge aus dem Westen wirkten sich bis anhin noch nicht besonders negativ auf die Staatsfinanzen aus, auch wenn das Wunschdenken westlicher Medien dies glaubhaft machen will. Die höheren Energie- und Rohstoffpreise gleichen die reduzierten Mengen mehr als aus.

Die Umwege im Zahlungsverkehr über Indien und China sind nun etabliert und funktionieren. Aber die Bedienung von ausländischen Staatsschulden wird durch den Rauswurf aus dem Zahlungssystem Swift sichtlich erschwert. Auch die Arretierung russischer Notenbank-Reserven im Ausland und das Goldimportverbot dienen dazu, Russland in Zahlungsverzug zu drücken. Aber vom Westen verursachte Zahlungsverzögerungen bedeuten noch lange keine Insolvenz.

Der Versuch Russlands, die Zinszahlungen auf seinen Ausland-Anleihen in Rubel statt wie vertraglich festgehalten in Fremdwährungen zu bezahlen, kann durchaus als Liquiditätsengpass gewertet werden. Rating-Agenturen prüfen denn auch, ob sie Zahlungen in Rubel als «technischen Zahlungsausfall» einstufen sollen, womit die russischen Anleihen auf das «Ramsch-Niveau» fallen würden.

Die Problematik von Default-Feststellungen besteht darin, dass ein weiterer grosser Teil der russischen Schulden aufgrund der Vertragsklauseln ebenfalls sofort zur Rückzahlung fällig wird. Etwa 40 Milliarden Dollar russischer Staatsschulden lauten auf US-Dollar oder Euro, wovon wiederum rund die Hälfte im Ausland gehalten wird.