Weltwoche: General Hodges, hat die Ukraine eine Chance, den Krieg zu gewinnen?

Hodges: Absolut.

Weltwoche: Was macht Sie da so sicher?

Hodges: Russland hat den Krieg ja bereits verloren. Fast keines ihrer Ziele haben die Russen erreicht. Neun Wochen nach dem Beginn der Invasion leisten die Bürger von Mariupol immer noch erbitterten Widerstand.

Weltwoche: Ein Ende des Krieges ist aber derzeit nicht abzusehen.

Hodges: Leider werden die Russen weiter ukrainische Städte und Infrastrukturanlagen zerstören und vor allem: Sie werden nicht aufhören, unschuldige Menschen umzubringen. Sie setzen erbarmungslos und brutal ihre mittelalterlich agierende Armee ein.

Weltwoche: Moskau hat bisher keine Reservisten mobilisiert. Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?

Hodges: Dass Putin wahrscheinlich keine dritte Phase im Auge hat, nachdem er nach seinen eigenen Aussagen sein Ziel erreicht hat, nämlich den Donbass und den Osten der Ukraine für sein Land zu sichern. Würde er zum Beispiel erneut Kiew erobern wollen, müsste er mehrere zehntausend Truppen zusätzlich aufbieten. Dazu müssten er der Bevölkerung die klägliche Situation erklären, in die er sein Land manövriert hat.

Weltwoche: Das klingt so, als würden Sie bald ein Auseinanderfallen der Russischen Föderation erwarten.

Hodges: Wir sehen bereits Anzeichen, dass das in den nächsten fünf Jahren geschehen könnte.

Weltwoche: Welche denn?

Hodges: Ein Russland, das von Putin geführt wird, hat mittelfristig keine Chance, zusammenzubleiben. An der Peripherie gibt es viele ethnische Gruppen und besetzte fremde Territorien, die sich, zusammen mit den Zentren des Landes, gegen die Misswirtschaft und die Korruption auflehnen werden. Ich befürchte deshalb eine Balkanisierung Russlands, ein Auseinanderfallen der Föderation.

Weltwoche: Deutschland ist sich uneins, ob Waffenlieferungen an die Ukraine politisch opportun sind.

Hodges: Deutschland sollte zwar schwere Waffen liefern, um der Ukraine zu helfen. Aber die USA müssten mit dem guten Beispiel vorangehen. Derzeit gibt es keine amerikanischen Panzer in der Ukraine, auch keine britischen.

Weltwoche: Wie erklären Sie das Zögern?

Hodges: Der Westen muss zunächst, angeführt von den USA, entscheiden, dass die Ukraine gewinnen soll.

Weltwoche: Ist das denn in Washington umstritten?

Hodges: US-Präsident Biden sagt bloss, dass er eine Niederlage der Ukraine verhindern will, damit sie über ein Endes des Krieges verhandeln könne. Aber er pocht nicht darauf, dass die Ukraine den Krieg klar gewinnen muss.

Weltwoche: Was hindert ihn daran?

Hodges: Die meines Erachtens übertriebene Angst, dass es zu einem nuklearen Konflikt kommen könnte, da ich Putin nicht für wahnsinnig halte. Wäre es Brüssel und Washington ernst damit, dass die Ukraine gewinnen soll, würden sie Langstreckenraketen an Kiew liefern, mit denen die ukrainische Armee Abschussrampen russischer Raketen vernichten kann, die immensen Schaden in der Ukraine anrichten. Die Unterstützung wird zwar jetzt etwas besser. Die USA liefern zum Beispiel Artillerie für fünf Bataillone, und die Holländer wollen Panzerhaubitze 2000 liefern. Der russischen Armee sollte so viel Schaden zugefügt werden, dass sie ihre Nachbarn nicht mehr bedrohen kann.

Weltwoche: Wäre Europa stark genug, um sich vor der russischen Armee zu verteidigen?

Hodges: Im Prinzip ja, aber es wäre ein sehr verlustreicher Krieg.

Weltwoche: Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem bisherigen Kriegsverlauf?

Hodges: Dass grosse Munitionslagerzentral sind. Da müssen wir daran arbeiten. Zudem haben wir Probleme mit der militärischen Mobilität, also mit der Fähigkeit, Truppen quer durch Europa zu verschieben, vor allem in Osteuropa. Die Nato strebt deshalb permanente Stützpunkte in Rumänien, Polen und baltischen Ländern an. Und sollten Finnland und Schweden der Nato beitreten, würde das die Verteidigungsbereitschaft entlang der Ostflanke signifikant verbessern.

Weltwoche: Ein Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens wäre für Putin freilich eine Provokation.

Hodges: Es ist doch Putin, der den Krieg provoziert hat, indem er die Ukraine angegriffen hat. Er ist offenbar nicht ein so grosses Genie, wie viele bisher gedacht haben. Mit seiner Invasion trägt er dazu bei, die Nato zu vergrössern und zu stärken. Aber ich halte Putin eben auch nicht für einen verrückten Kaiser Nero.