Tel Aviv

Wie eine Generalin steht Shikma Bressler vor den rund 150.000 Bürgern, die seit vier Monaten jeden Samstagabend im Zentrum von Tel Aviv gegen die geplante Schwächung des Justizsystems protestieren. In ihrer Uniform – ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck «Demokratie» – warnt die 42-jährige Protestführerin eindringlich vor den Folgen des Umbaus der Justiz und dem Einfluss der Ultraorthodoxen. «Wir wollen nicht, dass dieses Land von Fanatikern mit ihren Bärten und ihrer Religion übernommen wird», bringt Bressler eines der Ziele ihres Feldzugs auf den Punkt.

Universums Rätsel

Während sie Sätze sagt wie «Wir kämpfen für die Grundwerte unseres Landes», «Wir werden die Diktaturgesetze der Regierung verhindern» oder «Wir werden nicht nachgeben», hält sie die blauweisse Israel-Fahne in der rechten Hand und streckt den Arm mit angewinkeltem Ellbogen in die Höhe. Dazu trommeln Demonstranten und skandieren «De-mo-kra-tie». Wenn die Reformpläne oder deren Urheber erwähnt werden, rufen sie wie im Chor «busha», Schande, oder sie blasen in Trillerpfeifen.

Shikma Bressler, die Ikone der Protestbewegung, die an deren Front steht, ist Physikerin am Weizmann Institute of Science, einem weltweit angesehenen Forschungszentrum südlich von Tel Aviv, wo sie ein Labor für Teilchenphysik mit fast einem Dutzend Forschern managt. Die Assistenzprofessorin jettet zudem regelmässig ans Kernforschungszentrum Cern in Genf. Dort leitet sie einen der wichtigsten israelischen Beiträge beim Atlas-Experiment am Large Hadron Collider (LHC), dem grössten und leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt.

Ihr Projekt soll «die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis erweitern», heisst es beim Cern.

Der 27 Kilometer lange Ring enthält supraleitende Magnete und eine Reihe von Beschleunigungsstrukturen, die die Energie der Teilchen erhöhen. Bresslers Projekt bei «Atlas» soll das gesamte Entdeckungspotenzial des LHC ausschöpfen «und die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis erweitern», heisst es beim Cern, wo die israelische Demokratieaktivistin die Zusammensetzung der Materie erforscht. 95 Prozent der Masse und Energie des Universums sind immer noch ein Rätsel.

Auf der Suche nach Effekten jenseits des Standardmodells der Elementarteilchen hofft Bressler auf Hinweise, um den zwei ganz grossen Geheimnissen des Universums auf die Spur zu kommen: dunkle Materie und dunkle Energie. «In meinem Fachgebiet suchen wir nach dem Grundlegenden, das der gesamten Masse des Universums gemeinsam ist», sagte sie neulich in einem Interview.

Wenn Shikma Bressler vor der Menge steht und ihre Reden mehrfach über Lautsprecher und Bildschirme übertragen werden, kommt ihr eine Fähigkeit zugute, die sie sich im Laufe ihrer Karriere als Top-Wissenschafterin angeeignet hat. Sie müsse in der Lage sein, vor Kollegen zu stehen, ihnen komplexe Sachverhalte zu erklären und sie zu überzeugen, dass sie einen erfolgversprechenden Ansatz verfolge.

Diese Kunst nutzt sie jetzt im Kampf gegen die angekündigte Justizreform. Seit vier Monaten holt sie zudem prominente Gegner des Justizumbaus auf die Bühne, darunter Banker, Techniker, Lehrer, Hightech-Unternehmer, Studenten, Kampfpilotinnen, ehemalige Richter und Sicherheitsoffiziere, die den Widerstand gegen die geplanten radikalen Änderungen des Regierungssystems unterstützen. In einem aussergewöhnlichen Akt des zivilen Ungehorsams haben sich sogar Hunderte von Militärreservisten, darunter Geheimdienstler und Piloten, geweigert zu trainieren.

Britisches Gewohnheitsrecht

Die hitzige Debatte über den künftigen Stellenwert der Justiz ist auch eine Folge der Unklarheit des israelischen Rechtssystems. Das Land hat keine geschriebene Verfassung. Stattdessen stützt das Oberste Gericht seine Entscheidungen auf das britische Gewohnheitsrecht, die Entwicklung israelischer Präzedenzfälle und eine Reihe von Grundgesetzen, die eine verfassungsähnliche Wirkung haben. Und schon skandiert die Menge «Wir brauchen eine Verfassung».

Beim Cern, wo sich Bressler einem langfristigen Projekt widmet, haben schon kleinste Abweichungen vom Standardmodell das Potenzial, später einmal sehr wichtig zu werden. Doch bei ihrem Einsatz in Israel drängt die Zeit, muss die drohende Gefahr rasch entschärft werden. Bereits stehen 150 parlamentarische Vorstösse an, die sich an Religionsgesetze anlehnen und den Obersten Gerichtshof schwächen sollen. Das alles will die Cern-Forscherin verhindern, nicht im Labor mit einem Modell, sondern auf der Strasse mit Hilfe der Masse: «Solange die Reform nicht auf Eis gelegt wird, wird die Protestbewegung nicht ruhen.»