Als Angela Merkel nach sechzehn Jahren Kanzlerschaft ging, dachte ich, das könne nicht das Ende der Geschichte sein. Auch Merkels Parteifreunde versicherten einander, es brauche einen «Neuanfang», kein «Weiter so!» Ich war mir sicher, jemand aus dem Umfeld der Kanzlerin würde mit ihr abrechnen. Ungefähr so, wie Nikita Chruschtschow beim 20. Parteitag der KPdSU 1956 mit Josef Stalin abgerechnet hatte. Aber nichts geschah.

Umso überraschter war ich, als Bild.de berichtete, der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir habe mit Merkels Aussenpolitik abgerechnet. «Wir haben in vielen Bereichen eine Situation geerbt, die nicht so richtig toll ist», soll er ausgerufen haben, Nord Stream 2 sei «nicht die schlauste Idee» gewesen, man müsse «unsere Energieabhängigkeit von fossilen Energieträgern reduzieren, Resilienz erzeugen, die EU einigen, den Westen wieder stark machen, damit die Putins dieser Welt wissen, dass wir wehrhaft sind».

Özdemir ist ein ruhiger, zurückhaltender Mensch. Für seine Verhältnisse war das ein mittelgrosser Wutausbruch. Aber keine Abrechnung. In zehn der sechzehn Bundesländer sitzen die Grünen mit in der Regierung, in Koalitionen mit der SPD, der CDU, der FDP und der Links-Partei. Was politische Ziele und deren Umsetzung angeht, sind sie sehr flexibel.
Nichts muss, alles kann. Jeder Grüne hätte die Möglichkeit gehabt, mit Angela Merkel abzurechnen. Aber es gab Wichtigeres. Das Klima. Die Migration. Das Kanzleramt. Jetzt ist Angela Merkel in Rente, und eine Abrechnung findet nicht statt.