Der Bundesrat hat sich im Rahmen des Pariser Klimaübereinkommens verpflichtet, bis 2030 den Treibhausgasausstoss der Schweiz gegenüber dem Stand von 1990 zu halbieren. Im Sommer August 2019 hat er dieses Ziel verschärft: Ab dem Jahr 2050 soll die Schweiz unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen. Im indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, der im Juni vors Volk kommt, soll das Ziel gesetzlich festgeschrieben werden. Ein Blick ins Ausland zeigt, wo die Probleme dieser Politik liegen.

1. Der enorme Sprung nach oben – Der Solarmarkt sei «ganz extrem» gewachsen, «wesentlich schneller, als wir zuvor angenommen hatten», sagt Michael Schmela, Marketingchef von Solarpower Europa: «In der EU sind derzeit für 41 Gigawatt Solaranlagen installiert, fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr.» Der Ausbau kommt zwar rasant schnell voran. Dass aber Europa mit der kompletten Umstellung auf regenerierbare Energien überfordert wäre, hat neulich der Grazer Forscher Georg Brasseur vorgerechnet. 2019 wurden auf dem ganzen Kontinent 58 Prozent der Energieprodukte importiert. «Um das mit grüner Energie zu kompensieren, würden wir 110-mal so viel Fotovoltaikfläche wie heute brauchen», so Brasseur. Das entspräche der Fläche Rumäniens. Oder man bräuchte in Europa das 36-Fache an Windrädern. Brasseur: «Allein diese Zahlen zeigen, dass das nicht geht – rechtlicher oder gesellschaftlicher Widerstand noch exklusive.»

2. Gewaltige Investitionen – Die globale Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen beträgt derzeit 80 Prozent. Darauf komplett zu verzichten und sie durch Erneuerbare zu ersetzen, würde massive Investitionen in Anlagen alternativer Energien voraussetzen. Daniel Yergin, einer der bekanntesten Energieexperten weltweit, fordert deshalb etwas mehr Bescheidenheit bei der Formulierung der Ziele. Die Öko-Transformation der Energieversorgung sei komplexer, als viele Politiker annehmen würden, sagt er. Trotz einem riesigen Subventionsvolumen im Wert von weltweit mehreren hundert Milliarden Dollar pro Jahr ist der Anteil der Erneuerbaren an der gesamten Endenergienachfrage in den Sektoren Gebäude, Industrie, Landwirtschaft und Verkehr gering geblieben.

Deutschland und Europa drohen im Wettbewerb mit anderen Ländern Rohstoffquellen zu verlieren.

Die Ablösung fossiler Brennstoffe durch kohlenstoffarme Technologien würde im Vergleich zu heute eine Verachtfachung der Investitionen in erneuerbare Energien erfordern, heisst es in einer Studie des Internationalen Währungsfonds. Bjarne Steffen, Professor für Klimafinanzierung und -politik an der ETH Zürich, hat den Bedarf berechnet und dabei vor allem Investitionen in erneuerbare Energien, Fotovoltaik und Windturbinen berücksichtigt – «und zwar in einem viel grösseren Umfang als zusätzliche Erdgasinfrastrukturen wie LNG-Terminals». Um das Ziel netto null bis 2050 zu erreichen, müssten die EU, die Schweiz, Norwegen und Grossbritannien in den nächsten Jahren jährlich rund 75 Milliarden Euro in Solar- und Windkraftanlagen investieren, schätzt Steffen zusammen mit der Doktorandin Lena Klaassen.

Zum Vergleich: Für diesen Betrag könnten pro Jahr mehr als ein halbes Dutzend Kernkraftwerke gebaut werden, wie Beispiele in Frankreich oder Finnland zeigen.

3. Langfristiger Preisauftrieb – Der Preisanstieg bei den Rohstoffen, die für Energietechnologien notwendig sind, beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit sauberer Energietechnologien «stark». So haben sich beispielsweise die Preise für Lithium oder Kobalt im Jahr 2021 mehr als verdoppelt, während die Preise für Kupfer und Aluminium um etwa 25 beziehungsweise 40 Prozent gestiegen sind. Im selben Jahr drehte auch der langfristige Abwärtstrend bei den Kosten für Windturbinen und Fotovoltaikmodulen. Im Vergleich zu 2020 stiegen ihre Preise laut einem Bericht der EU um 9 beziehungsweise 16 Prozent. Batteriepacks kosteten 2022 mindestens 15 Prozent mehr als im Vorjahr.

Kostentreibend wirkt vor allem die Verknappung der Rohstoffe. Eine Trendumkehr ist mittelfristig nicht in Sicht: Die Entwicklung von Bergwerken ist ein sehr lange dauernder Prozess – oft ein Jahrzehnt oder länger. Deshalb bleibt der Druck auf die Rohstoffpreise hoch. Die Umstellung auf saubere Energie könnte in den kommenden Jahrzehnten zudem eine noch nie da gewesene Nachfrage nach Metallen auslösen, so eine Studie des Internationalen Währungsfonds.

4. Neue Abhängigkeiten – Jahrzehntelang hat sich Europa auf billige russische Energie verlassen. Doch während Europa jetzt versucht, seine Importe aus Russland zu verringern, läuft es Gefahr, sich ein neues Klumpenrisiko aufzuladen, um seinen Energiehunger zu stillen. Um es mit Mark Widmar zu sagen, dem CEO des amerikanischen Herstellers First Solar: «Solarenergie ist ‹Freiheitsenergie› – es sei denn, wir sind bei der Technologie von Autokratien abhängig.»

Mit der kompletten Umstellung auf regenerierbare Energien wäre Europa überfordert.

Weit über die Hälfte der Solarpanels stammt aus China, aus Europa aber weniger als 3 Prozent. Die Welt werde bis 2025 von China abhängig bleiben, heisst es bei der Internationalen Energieagentur. Komponenten und Materialien wie Polysilizium oder Wafers würden bald fast zu 95 Prozent in der Volksrepublik hergestellt.

Der Wettlauf um strategisch wichtige Rohstoffe sei in vollem Gang, meint der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm. Dabei drohen Deutschland und Europa im Wettbewerb mit anderen Ländern wichtige Rohstoffquellen zu verlieren. «Die Folge: Abhängigkeiten vergrössern sich», so Russwurm. Ohne Rohstoffe werde es aber keine Energiewende, keine E-Mobilität oder Digitalisierung geben.

Ähnliches gilt für die USA. «Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Vereinigten Staaten und die meisten anderen Länder der Welt spektakulär schlecht vorbereitet sind, um der steigenden Nachfrage nach kritischen Mineralien gerecht zu werden», sagte vor einem Jahr US-Senator Duncan Wood im Energiekomitee des Senats. Ein Problemfall ist auch Kobalt: Der Südkongo verfügt über schätzungsweise 3,4 Millionen Tonnen Kobalt, fast 70 Prozent der weltweiten Produktion. Vergrössert wird das Klumpenrisiko dadurch, dass der Grossteil des Abbaus dort von China kontrolliert wird, dem wichtigsten Handelspartner des Landes.

Bei Wechselrichtern, einem wichtigen Teil in Solarnetzen, sei Europa zwar führend, sagt Alfred Karlstetter von der israelischen Firma Solaredge, die nach eigenen Angaben der weltweit führende Anbieter von Smart-Energy-Technologie-Lösungen ist. «Aber wir müssen aufpassen, dass die Produktion nicht in die USA abwandert, wo die Hersteller mit Subventionen überschüttet werden», warnt Karlstetter, der von München aus den europäischen Markt betreut. Seit Jahren würden zudem Wechselrichter von Grossanlagen «immer mehr in asiatische Hände übergehen». Deshalb sagt er: «Wir müssen wachsam sein, damit wir bei den Wechselrichtern nicht in eine ähnliche Abhängigkeit geraten wie bei den Modulen.»

5. Seltene Erden – Die Metalle der seltenen Erden sind für das Gelingen der Energiewende essenziell – und ausserhalb Europas konzentriert, vor allem in China. Zwar wurden neulich in Schweden und in Norwegen Vorkommen entdeckt. Aber es wird laut Experten noch bis zu fünfzehn Jahre dauern, bis mit dem Abbau begonnen werden kann. Bis es so weit ist, bleibt Europas Energiewende vor allem von China abhängig, wo die grössten Vorkommen dieser Metalle zu finden sind.

6. Umweltschäden – Für den Einsatz regenerierbarer Energien braucht es Metalle und Rohstoffe, deren Abbau umweltbelastend ist. Dazu gehören Grafit, Kobalt und Lithium. Kobaltvorkommen im Kongo sind zum Beispiel Giftschleudern. Die Produktion von Rohstoffen ist mit vielen sozialen und ökologischen Risiken und Herausforderungen verbunden. Im Kobalt-Kleinbergbau werden Kinder eingesetzt. Es wird geschätzt, dass weltweit rund eine Millionen Jugendliche im Bergbau arbeiten müssen.

7. Europa lagert Öko-Belastungen aus – Der Abbau und insbesondere die chemische Aufbereitung der Rohstoffe wurden in Europa lange Zeit vernachlässigt. Es wurde nur bedingt in die Technologie investiert, da diese ein «gewisses Gefährdungspotenzial aufweist – und das möchte man nicht unbedingt im Land haben», sagt Urs Peuker, Lehrstuhlinhaber an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg.

8. Netzkapazitäten massiv erhöhen – Je mehr Solaranlagen ans Netz angeschlossen werden, desto eher stösst es an seine Grenzen, zumal auch Wärmepumpen und Ladevorrichtungen für E-Autos ans Netz drängen. Erneuerbare Energien – ob Solar oder Wind – beeinträchtigen die Zuverlässigkeit des Stromnetzes: Der Ausbau der Erneuerbaren und der Netzkapazitäten verläuft nicht synchron. Milliardeninvestitionen sind nötig, um lokale Stromausfälle zu verhindern.

9. Politik in blinder Hektik – In der Vergangenheit haben Technologien und ökonomische Vorteile die Umwälzungen im Energiesektor vorangetrieben. Jetzt will die Politik den Lauf der Dinge bestimmen. Während frühere Umstellungen im Laufe von vielen Jahrzehnten erfolgten, soll jetzt der Wechsel auf die Erneuerbaren im Eiltempo und auf Befehl durchgezogen werden. Die Revolution, sagt Energieexperte Yergin, werde von der Politik vorangetrieben, ohne dass sie makroökonomische Analysen gebührend berücksichtigt. In einem Interview mit der Zeit legte Yergin dar, Deutschland habe die Wahl zwischen Erdgas aus Fracking und Kohle, um die Schwankungen des Ökostroms auszugleichen. Angesichts der geringeren CO2-Belastungen plädierte Yergin für Gas aus heimischer Produktion als eine Flankierung der erneuerbaren Energien.