Ihre Dankbarkeit ist ebenso gross wie die Verzweiflung in ihren Schilderungen: Olga (46), Anatoli (60) und ihre Kinder Michail (17) und Mascha (8) sowie das Kätzchen Oliva blicken auf traumatische Tage zurück. Ihre Flucht durch die gesamte Ukraine muss wie ein Rendez-vous mit der Hölle gewesen sein – von russischen Bomben begleitet und der permanenten Ungewissheit, ob hinter der nächsten Kurve nicht der Tod lauert. Unvorstellbar, tieftraurig und schockierend.
Und fast immer gehen ihre Blicke aufs Handy. Olgas Schwester Anna, die mit ihrem Mann und den drei Kindern zunächst in der ostukrainischen Stadt Sumy ausharren wollte, musste mittlerweile ebenfalls flüchten. Der Grund ist dramatisch: In der eingekesselten Stadt gibt es nichts mehr zu essen. Glücklicherweise konnten sie die russische Blockade unversehrt passieren. Doch nun wartet der beschwerliche Weg an die Westgrenze des Landes – über teils zerstörte Strassen, durch russisches Feuer – und mit der ständigen Angst im Nacken. Olga sagt: «Während der vier Tage und Nächte auf der Strasse habe ich keine Minute geschlafen.»
Mittlerweile haben sich unsere Gäste erholt. Die kleine Mascha konnte bereits zweimal am regionalen Leistungszentrum für Sportgymnastik in Uster mittrainieren. Und Michail hat auf Vermittlung eines Freundes einen Platz in einer internationalen Schule in Aussicht.
Doch so einfach, wie es tönt, ist die Sache dann leider doch nicht. Im Prozess, sich in der Schweiz registrieren zu lassen, führt kein Weg am Bundesasylzentrum in Zürich vorbei. Das ist zweifellos richtig. Doch offenbar ist die Anlaufstelle auf den Ernstfall nicht vorbereitet.
In diversen Medienberichten ist von stundenlangen Wartezeiten die Rede und von einem Verfahren, das jeglicher Logik entbehrt. Auch wenn (wie in unserem Fall) Übernachtungsmöglichkeiten bei Verwandten in Zürich bestehen, werden Familien nach Chiasso oder nach Boudry NE transferiert. «Aus logistischen Gründen.»
In der Sonntagszeitung ist von Ukrainern die Rede, die von Zürich aus an die französische Grenze verwiesen wurden – und dort auf Landsleute trafen, die sich zuerst in Boudry gemeldet hatten – und dann nach Zürich mussten. «Aus logistischen Gründen.»
Das kann und darf nicht sein. Der Appell geht an das Staatssekretariat für Migration und an den Bundesrat: Die Menschen brauchen unsere Hilfe. Schnell, unkompliziert, pragmatisch. Bitte stoppt die überflüssige Bürokratie und schaltet den gesunden Menschenverstand ein! Falls dieser in den letzten zwei Jahren nicht völlig abhandengekommen sein sollte.
Das würde Pestalozzi freuen: Ukrainische Kinder, die bei uns ankommen, finden sofort Zugang zu unseren Bildungsinstitutionen mit zuvorkommenden Lehrern, obschon für Schengenmitglieder bloss max. 3 Monate Aufenthalt festgehalten sind. Ich bin nicht Jurist, aber können sich auch Afrikaner und andere darauf berufen? Und ja, gutbetuchte Schweizer können für ihre Kinder an europäischen Universitäten doch wohl die meist nicht bescheidenen Beiträge für Nicht-EU-Mitglieder bezahlen, oder?
Bei mir kamen vorhin auch Ukrainer vorbei. Sie fragten mich in gebrochenen Deutsch nach der Straße in der das Asylheim lag. Ich zeigte denen den Weg und sagte ihnen, dass sie sich dort zur Abwechslung mal anschauen können, was Washington in diesen Fall mit Deutschland gemacht hat.
Thomas Renggli erwartet so etwas wie funktionierende oder gar organisierte Bundesbehörden. In welcher Schweiz leben eigentlich die Weltwoche-Schreiber?