Weltwoche: Russland behauptet, dass die Ukraine biologische Waffen einsetzen werde, die mit Unterstützung der USA hergestellt worden seien.

Ben Hodges: Ich glaube nicht, dass ein solches Labor oder Bioprojekt existiert. Es ist vielmehr eine weitere russische Falschmeldung, um den Einsatz von Chemiewaffen zu rechtfertigen, den Russland möglicherweise in wenigen Tagen durchführen wird

Weltwoche: Könnte das eine Verzweiflungstat sein, weil die russische Armee weniger erfolgreich ist, als Putin gehofft hatte?

Hodges: Falls Russland chemische oder nukleare Waffen einsetzen sollte, wird das das ganze Szenarium verändern. Der Westen müsste sich dann überlegen, wie er darauf reagieren soll, um den Massenmord an unschuldigen Zivilisten zu stoppen. Entscheidend ist und bleibt aber, dass die Nato geschlossen handelt.

Weltwoche: Überrascht es Sie, dass die russische Armee bisher, gemessen an ihren Zielen, nicht sonderlich erfolgreich war?

Hodges: Ja, ich hatte ihre Fähigkeiten überschätzt. Jetzt ist mir aber klar, dass es der russischen Armee an Erfahrung mangelt. Die Koordination der einzelnen Truppengattungen gelingt ihr nicht, also die Koordination zu Land, zur See, in der Luft, im Cyberraum und mit den Spezialeinheiten. Das hat die russische Armee offensichtlich nicht sorgfältig und hart genug trainiert.

Weltwoche: Deshalb ist sie jetzt grausam, aber nicht effizient?

Hodges: Was ihr im Jahre 2014 mit der Einnahme der Halbinsel Krim in kurzer Zeit gelang, gelingt ihr jetzt nicht mehr. Deshalb führen die Russen jetzt einen Zermürbungskrieg, wie sie das im Krieg gegen Tschetschenien taten und dann in Syrien, um das Regime von Baschar al-Assad vor dem Untergang zu retten. Sie nahmen bewusst Städte ins Visier und mordeten in der Zivilbevölkerung mit der Absicht, ein schreckliches Flüchtlingsproblem zu schaffen. Diese brutale Methode wendet Russland jetzt auch in der Ukraine an.

Weltwoche: Sie schenken der Behauptung Moskaus, dass es sich um unbeabsichtigte Kollateralschäden, um Unfälle handle, keinen Glauben?

Hodges: Auch US-Truppen passierten in Afghanistan oder im Irak Fehler. Aber wir nahmen nie bewusst zivile Ziele unter Beschuss. Putin aber setzt bewusst auf Mord, um für alle Probleme zu schaffen.

Weltwoche: Was beabsichtigt er damit?

Hodges: Die Ukraine, aber auch europäische Regierungen sollen unter Druck gesetzt werden, um seinen unerhörten Forderungen nachzugeben. Im Übrigen zwingt Putin die Europäer, sich dem gewaltigen Flüchtlingsproblem zu stellen.

Weltwoche: Wie lange kann Putin mit diesem Zermürbungskrieg noch weiterfahren?

Hodges: Nicht mehr lange. Denn ein Zermürbungskrieg braucht Zeit, Munition und Soldaten. Ich glaube nicht, dass Putin genug davon hat. Die Sanktionen beginnen in den nächsten Wochen oder Monaten langsam zu greifen. Die Logistik begünstigt schon bald die Ukrainer und benachteiligt die Russen, weil ihnen die Munition ausgehen wird, um Gebäude zu zerstören. Anderseits erhalten die Ukrainer von Nato-Staaten aber Unterstützung, indem sie neue Waffen und Munition erhalten. Zudem fehlt es der russischen Armee bald an Soldaten, weil sie so viele Verluste erleidet.

Weltwoche: Haben denn die Ukrainer Ihrer Meinung nach eine Chance, den Krieg zu gewinnen?

Hodges: In den nächsten Wochen wird es grausam und brutal sein. Aber am Ende wird die Ukraine siegen. Wobei ich gleich hinzufügen muss: Ich habe mich in der Vergangenheit immer wieder getäuscht. Hoffentlich nicht dieses Mal.

Weltwoche: Sie waren als US-General mehrmals in der Ukraine. Wie schätzen Sie die ukrainische im Vergleich zur russischen Armee ein?

Hodges: Die Ukrainer sind erstens sowohl moralisch als auch praktisch im Vorteil, weil sie ihr eigenes Land verteidigen. Bei meinen Begegnungen mit ukrainischen Truppen hat mich zudem immer wieder beeindruckt, wie flexibel und technisch versiert sie sind. Als sie modernste Ausrüstungen erhielten, waren sie im Nu in der Lage, diese zu bedienen. Enorm wichtig für den Erfolg ist zudem, dass die ukrainische Armee dezentral organisiert ist. Die Befehle werden nicht von einem Offizier ausgegeben, der in Kiew im Bunker ist. Die Entscheide werden direkt an der Front gefällt. Das macht es für die Russen schwierig: Es reicht nicht, dem Präsidenten den Kopf abzuschlagen und dann zu hoffen, dass die Ukraine auseinanderfällt.