Eben erst gab der einstige Ölmilliardär Michail Chodorkowski dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus seiner Zelle in Sibirien ein langes Interview. Er kritisierte den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin und bezeichnete sich als Opfer einer politischen Vergeltung. Er erweckte das Bild eines ehrlichen Geschäftsmanns und eines aufrechten Dissidenten, der mit staatlichen Mafiamethoden bekämpft wird.

Bevor wir uns den Einzelheiten zuwenden und das Selbstbild kritisch prüfen: Der Aufstieg und der Fall Michail Chodorkowskis ereigneten sich in einer turbulenten Zeit der russischen Geschichte. Das einstige Riesenreich stand während der achtziger und neunziger Jahre wirtschaftlich und politisch am Abgrund. Das Ausmass der Krise dürfte den meisten Leuten im Westen nicht bewusst gewesen sein. In dieser Periode brachen neue Freiheiten auf. Sie wurden von vielen gebraucht und missbraucht – auch von Chodorkowski.

Begabter Schüler

Biografisch ist Chodorkowski wie alle Oligarchen der ersten Stunde in der Sowjetunion verwurzelt. Er wurde 1963 geboren und wuchs in einem jüdischen Haushalt in Moskau in einer Zweizimmerwohnung auf. Beide Eltern waren Chemiker; er galt als intelligenter Schüler und schloss mit 23 sein Studium am chemisch-technischen Mendelejew-Institut ab. Wie viele Studenten war er Mitglied des Komsomol, der Jugendorganisation der KPdSU.

Chodorkowski allerdings war nicht nur einfaches Mitglied, sondern er machte Karriere beim Komsomol und wurde nach dem Studium stellvertretender Komsomol-Sekretär des Mendelejew-Instituts. Durch seine dortige Tätigkeit konnte er ein Netzwerk zur Macht im Sowjetapparat auf- und ausbauen. Unter diesem Schutzschirm eröffnete er auch sein erstes Geschäft – ein Café , und ab 1987 leitete er das NTTM, ein Komsomol-Unternehmen, das dank der vom damaligen Staatschef Michail Gorbatschow lancierten Politik der Umgestaltung (Perestroika) möglich wurde. Das NTTM handelte mit Computern und Alkohol. Chodorkowski war nur noch einen Schritt vom ersten grossen Erfolg entfernt.

Laut offiziellen Quellen betrug im Jahr 1988 der Umsatz seiner Unternehmung 10 Millionen Dollar. 1989 baute Chodorkowski mit dem bereits bestehenden Kapital und seinen guten Verbindungen die Menatep-Bank auf. Noch immer half ihm die schützende Hand der Politorganisation Komsomol, durch deren Verbindungen er die notwendige Banklizenz erhielt. Die Gelder aus den Depots wurden für das Import-Export-Geschäft gebraucht. Gleichfalls dank Chodorkowskis guten Verbindungen zum Sowjetapparat erhielt die Menatep-Bank das Recht, Gelder zu verwalten, welche für die Hilfe an Tschernobyl-Opfern bereitgestellt wurden.

Verschwundene Tschernobyl-Milliarden

Es kursierten damals Gerüchte, dass die Chodorkowski-Bank für die mächtigen Russen von damals Gelder illegal ins Ausland schaffte. So seien Milliarden aus dem Tschernobyl-Fonds in einem schwarzen Loch verschwunden. Der Erfolg der Menatep brachte Chodorkowski immer näher an den Kreml. Bereits 1992 gehörte er zum Beraterstab des russischen Premierministers Boris Jelzin, und ein Jahr darauf wurde er stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie. Bis 1994 war er auch Mitglied des Rats für Industriepolitik und mit anderen Oligarchen einer der grossen finanziellen Unterstützer der Wiederwahl des Staatschefs.

In dieser Phase erwarb Chodorkowski sein späteres Milliardenimperium. Der aufstrebende Oligarch nahm 1995 an einer berühmt gewordenen Kabinettssitzung teil. Besprochen wurden die Privatisierung von Erdölunternehmen und das Verfahren, wie die Privatisierung abzuwickeln sei. Im Zuge dieser Vorgänge gelang es Chodorkowski in mehreren Schritten, dank seinen Firmen Menatep und Rosprom, die Aktienmehrheit an dem maroden, von allen Investoren gemiedenen staatlichen Erdölkonzern Yukos weit unter Marktwert zu erwerben. Bereits 1999 stieg der Jungmagnat dann zum einflussreichen Politikmitgestalter auf, indem er die liberale Partei Jabloko finanziell unterstützte. Geschäftlich orientierte er sich verstärkt Richtung Amerika – es fanden Gespräche mit den Ölriesen Exxon Mobil und Chevron Texaco statt.

Pakt mit Putin

Als Zäsur sollte sich für Chodorkowski die Jahrtausendwende erweisen. Nach dem zusehends als korrupt, alkoholisiert und inkompetent bewerteten Jelzin-Regime wurde der frühere Geheimdienstmann Wladimir Putin zum russischen Präsidenten gewählt. Der neue starke Mann im Kreml rief kurz darauf die mächtigsten Oligarchen des Landes zu sich, darunter auch Chodorkowski. Putin teilte den Mächtigen sinngemäss Folgendes mit: «Ihr lasst die Finger von der Politik, und dann schaue ich nicht nach, wie ihr eure Riesenbeteiligungen zusammengerafft habt.» Den Anwesenden muss bewusst gewesen sein, dass sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten, würde der Kreml seine Drohung wahrmachen und rückwirkende Untersuchungen anstellen.

Zwei der sich Putin widersetzenden Oligarchen Boris Beresowski und Wladimir Gusinski verliessen Russland unverzüglich. Chodorkowski war zu jener Zeit der reichste Mann im Land und hatte keine Angst. Seine politischen Ambitionen lebte er ungehindert weiter aus, finanzierte Duma-Abgeordnete und hielt sich nicht zurück mit öffentlicher Kritik an Putin und der Politik des Kremls. Das blieb nicht ohne Folgen. Im Oktober 2003 wurde Chodorkowski verhaftet. Der Katalog der Vorwürfe reichte von Privatisierungsbetrug über Exportbetrug bis zu Steuerdelikten. Noch 2003 wurde er ins Gefängnis geworfen. Ein neuer Prozess gegen ihn ist derzeit im Gange.

Wie ist nun die Rolle Chodorkowskis vor dem hier gezeigten Faktenhintergrund zu beurteilen? Ist er Opfer oder Täter? Rücksichtsloser Wirtschaftskrimineller oder Märtyrer?

Chodorkowski hatte durch seine Herkunft keine geschäftlichen oder politischen Verbindungen. Daher wählte er als ersten Karriereschritt bewusst den Komsomol. Beitreten musste man, aber Chodorkowski nutzte diese Zwangskörperschaft für die Verfolgung seiner Ziele sehr geschickt. Für ihn war der Komsomol ein Instrument, um das System auszutricksen. Er wählte von Anfang an den politischen Weg, um sich Vorteile im Geschäft zu verschaffen. Ganz anders etwa ging Roman Abramowitsch vor, der russische Multimilliardär, der heute in England lebt. Über ihn kursieren Gerüchte, wonach er mit gestohlenem Benzin gehandelt und so den Grundstein für sein Vermögen gelegt habe – auch hier wurde das fragile russische System für eigene Zwecke missbraucht.

Chodorkowski gehörte bei der politischen Vorbereitung der Privatisierung zum innersten Machtzirkel. Die politische Führung Russlands war mit der Aufgabe allerdings überfordert. Die Männer aus der Wirtschaft, die zur Unterstützung beigezogen wurden, nutzten diese Schwächen ohne Rücksicht aus.

Dass auch die beteiligten Politiker kräftig mitverdienten, ist hier nicht das Thema. Schrittweise gelang es Chodorkowski, die Kontrolle über Yukos zu erlangen. Mit Unternehmertum nach unseren Begriffen hatte die Übernahme nichts zu tun. Man stelle sich einmal vor, die Eidgenossenschaft würde das Nationalstrassennetz privatisieren und einer der reichsten Bürger der Schweiz wäre Mitglied der entsprechenden Kommission. Die Privatisierung würde dann einer Bank, welche von ebendieser Person kontrolliert würde, übertragen. Den Zuschlag erhielte schliesslich die Muttergesellschaft dieser Bank zu einem Preis, der achtzig Prozent unter dem Marktwert läge. Unterlegene Mitbieter, die das Verfahren als «Verrat» betitelten, würden mundtot gemacht. Genau so ging Chodorkowski vor. Wie andere Oligarchen segelte er hart am Wind.

Wie ist die Rolle Putins in dieser Sache zu beurteilen und insbesondere der Umstand, dass Putin lediglich Chodorkowski zerstörte, die anderen jedoch weiter gewähren liess? Putins Vorschlag wirtschaftliche Macht ja, politischer Einfluss nein war pragmatisch und sehr wahrscheinlich zu jener Zeit das beste Mittel, um die Oligarchen wenigstens ihrer beträchtlichen Einflussnahme auf die Politik zu berauben, ohne das ganze Wirtschaftssystem zu gefährden. Hätte Putin diese Vorkehrung nicht getroffen, hätte die Verfilzung von Macht und Geld das Land in den Ruin treiben können.

Chodorkowski bricht den Deal

Das Einvernehmen mit den Oligarchen war zu dieser Zeit wohl die einzige praktikable Variante, die Geld und Macht trennte, ohne das Riesenreich einem grossen Risiko des Scheiterns auszusetzen: Die Vereinbarung war für Putin ein politischer Vertrag und somit auch die (moralische) Rechtsgrundlage, um nach der Verletzung dieses Vertrages gegen Chodorkowski entschlossen vorzugehen. Die vorgebrachten Klagen hatten zwar nicht diese Vereinbarung als Grundlage, denn die Vereinbarung war nicht geschriebenes Recht. Für den Kreml war sie jedoch gültig, obschon legalistisch Steuer- und andere Vergehen vorgebracht wurden.

Betrachtet man den Prozess gegen Chodorkowski unter diesem Aspekt, so erscheint das Verhalten des Kremls als rechtsstaatlich korrekt – die Vereinbarung wurde durch Chodorkowski verletzt, und damit hatte er sein Recht, Yukos zu behalten, verspielt. Gewiss: Das russische System funktioniert nicht nach westlichen Vorstellungen, aber es hat durchaus seine Regeln. Das Argument, Chodorkowski sei sich des Risikos nicht bewusst gewesen, ist etwa so plausibel wie die Behauptung, ein Löwe habe keine Ahnung von der Verletzungsgefahr, wenn er ein Rhinozeros angreife. Die Rechtsgrundlage der Entmachtung Chodorkowskis war eine Vereinbarung unter mächtigen Herren – eine Art Gentlemen’s Agreement , die vom machtgewissen Oligarchen gebrochen wurde.

Auch im Westen würde er verurteilt

Womit man sich die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit im engern Sinne stellen muss. Sind die legalistischen Vorwürfe, die der russische Staat gegen Chodorkowski vorbrachte, gerechtfertigt oder fabriziert? Wurde er mit ungerechtfertigten Straf-, Zoll- und Steueransprüchen zugedeckt? Das ist nicht so. Zunächst: Der Yukos-Erwerb war zweifelhaft. Vor allem aber betrieb Chodorkowski innerhalb seines Imperiums sogenanntes Transfer-Pricing.

Diese Methode wurde selbst in der konservativen Stanford Law Review detailliert und kritisch beschrieben: Chodorkowski blutete Tochterfirmen von Yukos dadurch aus, dass diese ohne jeden Gewinn Güter an die Holdingstrukturen verkauften. Damit erreichte er, dass in den russischen Firmen praktisch kein Gewinn anfiel, sondern nur in steuerbefreiten Offshore-Gesellschaften der Holding. Viele dieser Gesellschaften hatten überdies auch Minderheitsaktionäre, welche durch die Gewinnverschiebung um Dividenden gebracht und somit betrogen wurden. In der Konsequenz wurden Ausführungs- und Zollbestimmungen verletzt. Allein aufgrund seiner Transfer-Pricing-Tricks hätte Chodorkowski auch in den meisten westlichen Rechtsstaaten zwangsläufig verurteilt und ins Gefängnis geschickt werden müssen.

Chodorkowskis Glaube, als reichster Russe für den Kreml unantastbar zu sein, erwies sich als fataler Fehler. Ihn als Opfer darzustellen, das als sauberer Geschäftsmann in die Mühlen einer korrupten Justiz geriet, ist irrig. Chodorkowskis Ziel war Geld und Macht. Durch die Art, wie er seine Pläne verfolgte, machte er sich angreifbar. Das Geld wollte ihm Putin ursprünglich lassen, die Macht nicht. Wie wird es weitergehen? Russland tickt auch hier etwas anders. Bleibt Putins Popularität hoch, ist Chodorkowski ein Verbrecher. Sinkt Putin in der Gunst der Bürger, könnte Chodorkowski zum Märtyrer werden.

Noch sind die Russen nicht der Meinung, dass mit Chodorkowski ein Opfer in Sibirien schmachte. Der Verfasser dieser Zeilen, der mit sehr vielen Russen spricht, hat bis jetzt noch keinen gefunden, der so denkt.