Limor ist ein Profi. Mit unnachahmlicher Grazie steigt die Siamkatze aus ihrer Transportkiste, hüpft auf das Bett der alten Dame in einem Seniorenheim bei Frankfurt und sichtet kurz die Lage. Dann weiss sie, was zu tun ist. Mit hochgerecktem Schwanz schreitet sie zielsicher auf die alte Dame zu, die reglos in ihren Kissen liegt. Limor prüft mit kurzem Nasendippen die knochige, altersfleckige Hand auf der Bettdecke, scheint einen Augenblick zu überlegen und reibt dann entschlossen Lippen und Wange an den Fingern. Ein warmes Schnurren füllt die Stille.

Und dann geschieht etwas, das Frau Glasemann, die Besitzerin von Limor, jedes Mal wieder begeistert: Die schwer altersdepressive Frau scheint aus einer anderen Welt zurückzukommen. Vorsichtig beginnt sie, das weiche Fell von Limor zu streicheln. Und dann beginnt sie zu sprechen, nach Monaten, in denen niemand ein Wort von ihr gehört hat. «Ich hatte auch mal eine Katze . . .», erzählt sie leise und lächelt versonnen vor sich hin.

 

Natürliches Anti-Stress-Mittel

Limor und ihre Besitzerin arbeiten ehrenamtlich für den Verein «Tiere helfen Menschen». Limor ist eine von vielen Besuchskatzen, die Senioren- und Pflegeheime, Behinderteneinrichtungen und Schulen besuchen. Katzen können hervorragende Therapeuten sein – und die Siamkatze Limor ist eine der besten. «Sie steigt freiwillig in ihren Transportkorb, wenn wir uns wieder mal auf den Weg machen. Und sie geniesst es, wenn sie gestreichelt wird. Besonders gerne legt sie sich den alten Leuten wie ein Pelzkragen um die Schulter, und manchmal fängt sie sogar an, jemanden zu ‹putzen›. Da redet keiner mehr über seine Krankheiten, und apathische Leute haben auf einmal so ein Leuchten in den Augen!»

Frau Glasemann hat oft erlebt, dass Menschen, die sich an nichts mehr erinnern, bei Limors Besuch die Sprache wiederfinden und anfangen, aus ihrem Leben zu erzählen. «Eine Katze holt oft die Erinnerung zurück.» Nicht immer ist das möglich, aber auch verwirrte alte Menschen, die vom einfachsten Gespräch überfordert sind, können noch eine laut schnurrende Katze streicheln und bekommen die Bestätigung, dass sie «richtig» sind, genau so, wie sie sind.

Katzen sind Balsam für die Seele, daran haben Katzenliebhaber nie gezweifelt. Ihre Gegenwart wirkt entspannend und stressabbauend, Katzen nehmen Ängste und machen ihren Job so gut, dass sie mittlerweile in vielen psychologischen und psychotherapeutischen Praxen gefragte Co-Therapeuten sind. Die Psychologin Regina Lessenthin etwa bindet ihre Katzen seit über zehn Jahren in den Praxisalltag ein, wobei die Intensität der Mitarbeit ganz den Tieren überlassen bleibt.

Wenn ihnen danach ist, kuscheln sie sich auf einen Patientenschoss und geniessen laut schnurrend die Streicheleinheiten. Regina Lessenthin könnte sich kein besseres natürliches Anti-Stress-Mittel als ihre neun Samtpfoten vorstellen: «Die psychologischen Entspannungsmethoden wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung liefern in der Regel nicht wesentlich bessere Entspannungsergebnisse für den Patienten.»

 

Wie machen sie das nur?

Doch die heilsame Wirkung der Stubentiger geht noch deutlich weiter und ist wissenschaftlich belegbar. Erste Hinweise zeichneten sich schon vor knapp vierzig Jahren ab. In einer Langzeitstudie wurden 1983 bei Philadelphia von zwanzig alleinstehenden Personen Gesundheitsdaten erhoben; ausserdem wurden sie zu ihren Empfindungen wie Angstgefühlen, Depressionen und dem Gefühl von Einsamkeit befragt. Elf der Testpersonen nahmen dann für mehr als ein Jahr eine Katze bei sich auf.

Zu Beginn des Testjahres hatten sich die beiden Gruppen in ihrer Bewertung nicht voneinander unterschieden; nach dem Testjahr aber waren die Unterschiede zwischen Katzenbesitzern und katzenlosen Testpersonen signifikant. Die Katzenbesitzer hatten eine intensive Bindung zu ihrem Vierbeiner entwickelt; Bluthochdruckpatienten und die Diabetiker unter ihnen hatten nach dem Katzenjahr deutlich verbesserte Werte. Eine Frau konnte sogar die Medikamente absetzen. Bei den Nicht-Katzenbesitzern dagegen waren die Gesundheitsdaten mit einer Ausnahme gleich geblieben oder hatten sich sogar verschlechtert.

Für den Neurologieprofessor Adnan Qureshi von der Universität Minnesota in Minneapolis sind die Zusammenhänge klar: «Seit Jahren ist bekannt, das psychischer Stress und Angst mit Erkrankungen korreliert sind.» Für Qureshi stehen dabei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems im Vordergrund. In einer zehn Jahre dauernden Studie des Herzzentrums der Universität Minnesota unter seiner Leitung stellte sich heraus, dass für Katzenbesitzer das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, um fast ein Drittel geringer ist als für katzenlose Mitbürger. Aber warum haben ausgerechnet Katzen diese Heilerqualitäten? Gilt nicht der Hund vor allen anderen Tieren als der beste Menschenversteher? Lawrence McGill, Veterinär-Pathologe und Vizepräsident der Arup Laboratories in Salt Lake City, Utah, ist nicht sonderlich überrascht, dass Katzen im Kampf gegen Herzerkrankungen die Spitzenreiter sind: «Das hat mit der Art des Tieres zu tun», erklärt McGill. «Katzen liegen gern auf dem Schoss und lieben es, gestreichelt zu werden. Während des Streichelns sinkt der Stresslevel von Katze und Besitzer, meistens auch noch der Puls und der Blutdruck.»

Hunde dagegen, so McGill, forderten Aktivität von ihren Menschen, und das kann den Besitzern seiner Meinung nach sogar zusätzlichen Stress bescheren. «Wenn du von der Arbeit nach Hause kommst, und es ist gerade Gassi-Zeit, dann musst du eben mit dem Hund losziehen.» Ausserdem sei Hundegebell für manche Menschen Stress pur.

Wenn man Katzenfreunde fragt, was die pelzigen Partner für sie so anziehend macht, kommt garantiert die Antwort: «Das Schnurren. Das verbreitet so viel Frieden und Gemütlichkeit.» Wissenschaftler geben sich mit so wolkigen Angaben natürlich nicht zufrieden. Leo Brunnberg, bis 2017 Leiter der Tiermedizinischen Klinik der Freien Universität Berlin, stellte fest, dass Katzenschnurren mit seiner Frequenz von 25 bis 150 Hertz genau in dem Schwingungsbereich vibriert, der die Muskulatur anregt. das Knochenwachstum stimuliert und die Regenerationsfähigkeit von Körpergewebe erhöht.

 

Konkurrenz Roboterhund?

Heisst das, dass Schnittwunden und Knochenbrüche schneller heilen, wenn der Patient regelmässig eine schnurrende Katze auf den Schoss nimmt? Der Gedanke ist gar nicht so abwegig. Immerhin ist im Fitness-Bereich das sogenannte Vibrationstraining seit Jahrzehnten etabliert. Die Sportler stehen dabei auf einer vibrierenden Platte, die mit einer Frequenz von 30 bis 50 Hertz schwingt, während sie ihre Übungen ausführen. Auch bei der Behandlung von Osteoporose sind Vibrationen das Mittel der Wahl – Vibrationen in der richtigen Frequenz, der Katzenfrequenz.

Vor einigen Jahren entwickelte ein Grazer Ärzteteam ein Gerät, das Vibrationen in der Frequenz des Katzenschnurrens elektronisch verstärkt und auf den Körper des Patienten überträgt. Das Gerät namens KST-2010 soll Erstaunliches bewirken. Es soll die Heilung gebrochener Knochen beschleunigen, die Knochendichte verbessern und bei Osteoporose helfen, ausserdem auch noch Rückenschmerzen und Asthma lindern. Allerdings betonen die Mediziner, dass vor jedem Einsatz des Schnurrgeräts eine genaue Diagnose des Krankheitsbildes angesagt sei. Und man dürfe zwar Besserung, aber keine Wunder erwarten.

Dann vielleicht doch lieber das Original? Statt des Geräts eine schnurrende Katze auf dem Schoss?

Limor und andere haben es bewiesen: Für Seniorenheime wäre das die richtige Entscheidung. Die wohltuende Wirkung von Katzen auf das menschliche Seelenleben ist bekannt, und sie ist dort besonders wichtig, wo Menschen sich der Grenze ihres Lebens nähern. Viele Heime in Österreich und Deutschland sind einverstanden, dass neu zugezogene Bewohner ihre Haustiere mitbringen. In der Schweiz leben laut einer Umfrage des Schweizer Tierschutzes schon in vier Fünfteln der Altersheime Haustiere. In den USA akzeptieren drei Viertel der Seniorenresidenzen, dass Neuankömmlinge ihre Haustiere mitbringen.

Eine ermutigende Tendenz, aber manchmal ist das, was so wünschenswert wäre, nicht möglich. Allergien der Mitbewohner, Überlastung des Pflegepersonals oder andere Gründe können dagegensprechen, dass die Katze mit in die letzte Wohnung umsiedelt oder Besuchskatzen ihre Aufwartung machen.

Doch selbst für solche Fälle gibt es eine tierische Lösung: Immer öfter werden besonders bei Demenzkranken Robotertiere eingesetzt. Mittels Bewegungsmelder registrieren die flauschigen Kunstwesen die Annäherung eines Menschen und reagieren mit Lauten und Bewegungen. Sie können Ohren, Schwanz und Pfoten bewegen, sie können fiepen, betteln und Laute des Wohlbehagens äussern. «Die alten Leute sind ganz verrückt nach dem Roboterhund», erzählt die Leiterin eines Seniorenheimes in Südengland. «Sie verdösen nicht mehr den Tag, sondern werden aktiv und beschäftigen sich stattdessen mit ‹Biscuit›.»

Zweifellos haben auch die Plüschgeschöpfe ihre Berechtigung. Sie wecken die Lebensgeister der alten Damen und Herren. Leben aber bringen sie nicht in die letzte Wohnung. Sie bringen das Surrogat.