Kürzlich fand in der Dresdner Frauenkirche eine Diskussion zum Thema «Meinungsfreiheit in Deutschland» statt. Auf dem Podium sassen die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Lukas Rietzschel. Die Moderation besorgte die Publizistin Alexandra Gerlach, früher Redaktorin beim öffentlichen Rundfunk. Der Abend war ein wunderbares Beispiel dafür, was Tellkamp an anderer Stelle als «Demokratie-Simulation» bezeichnet hat. Man tut so, als führe man ein Gespräch, und der Dichter hat sich als Narr an die ihm vorgezeichnete Rolle zu halten.

Natürlich ist es immer zu begrüssen, wenn solche Veranstaltungen überhaupt stattfinden. Deutschland tut sich erfahrungsgemäss schwer mit offenen öffentlichen Debatten. Es gibt einen starken unausgesprochenen Zwang, auf der richtigen Seite stehen zu müssen, wo immer das ist. Deutsche Politiker und Intellektuelle vor allem haben einen auffälligen Drang, ihre jeweilige Gesinnung gut sichtbar zur Schau zu tragen, sei es mit Parteiabzeichen, Armbinden oder sprachlichen Erkennungscodes wie heute etwa dem Gendern, mit denen man die eigene Gutheit unterstreicht.

Das Leben im selbstauferlegten Sprach- und Denkgefängnis allerdings ist anstrengend. Zudem kollidiert es mit dem Selbstbild, das die Deutschen gerne und auch zu Recht von sich entwerfen, dem einer modernen, aufgeschlossenen, toleranten, demokratischen und meinungsvielfältigen Nation. Natürlich darf man in Deutschland sagen, was man denkt, dies aber auf eigenes Risiko, und die Vielfaltstoleranz nimmt merklich ab. Die vom Justemilieu als «unumstössliche Wahrheiten» ausgegebenen Meinungen werden erbittert bewacht. Widerspruch wird scharf geahndet.

Der aus Dresden stammende Schriftsteller Uwe Tellkamp ist der hellsichtigste Entlarver und Beschreiber der von oben knallenden deutschen Wahrheitspeitschen. Aufgewachsen in der DDR, Mediziner und Naturwissenschaftler, hat der preisgekrönte Autor ein hochempfindliches Frühwarnsystem für die scherbelnde Verlogenheit der Macht entwickelt, und bei aller Schärfe seiner Diagnosen tut er seinen Kritikern den Gefallen nicht, sich in unhaltbaren Übertreibungen zu vergaloppieren. Deshalb wird er so verzweifelt angefeindet, regelrecht geschnitten.

Natürlich darf man in Deutschland sagen, was man denkt, aber die Vielfaltstoleranz nimmt merklich ab.

Meistens sieht sich Tellkamp in solchen Debatten einem weniger bekannten, dafür dem Mainstream nahestehenden Schriftstellerkollegen gegenüber, der mit verständnisvoller Verwunderung, unendlich geduldig, wie gegenüber einem rebellischen Kind, dem ungleich berühmteren und erfolgreicheren Tellkamp klarzumachen versucht, dass alles, was er sagt, Einbildung ist, Fata Morgana, vielleicht das Resultat frühkindlicher Traumata, bitterer Erfahrungen in der DDR. Gendern? Alles freiwillig! Corona? Unsere Politiker wollten doch nur das Beste! Menschengemachte Klimakatastrophe? Unumstössliche Tatsache!

Ähnlich wie in der Schweiz, die den von oben gelenkten Meinungs-Mainstream auch kennt, allerdings nicht so klirrend und heftig wie bei den Deutschen, läuft das Drehbuch dann so ab: Die Moderatorin und der Justemilieu-Gast spannen zusammen, spielen sich wechselseitig die Bälle zu und versuchen den Andersdenkenden auszugrenzen, in die Isolation zu drängen, wo er sich dann, so die Hoffnung, radikalisiert, worauf die anderen Gesprächsteilnehmer mit der Gelassenheit von Irrenärzten, die dem Verrückten demnächst eine Spritze verabreichen, allen Anwesenden vorführen, es handle sich hier tatsächlich um einen weiteren bedauerlichen, hoffnungslosen Fall.

Die Perfidie besteht darin, dass der orchestrierte Angriff auf die Integrität und Person des Andersdenkenden seitens der Angreifer mit der formelhaften Beschwörung einhergeht, man sei absolut bestrebt, die «Würde jedes Gesprächsteilnehmers» zu achten, während man sie vor aller Augen untergräbt. Dieses Verfahren, auch in den Talk-Formaten des Schweizer Fernsehens gebräuchlich, hat abgesehen davon, dass es die Unglaubwürdigkeit der unerwünschten Person vorführen soll, auch den Vorteil, dass man auf Argumente weitgehend verzichten kann.

Tellkamp allerdings entwand sich den Fallen, indem er bei seiner Botschaft blieb. Er liess sich nicht provozieren, was fast schon bewundernswert war vor so viel geballter, geheuchelter Fürsorglichkeit. Ruhig und bestimmt wies er in der Frauenkirche darauf hin, dass es in einer Demokratie weder «unumstössliche Wahrheiten» noch «unumstössliche Tatsachen» geben kann. Alles sei zu hinterfragen. Sobald die Bedingungen eines offenen Gesprächs nicht mehr gegeben sind, ist die Demokratie in Gefahr. Tellkamp: «Jede ausgewachsene Diktatur hat irgendwann als Embryo angefangen.»

Der Versuch, Tellkamp in die Pflegeabteilung der Hysteriker zu schieben, misslang. Der Schriftsteller erhielt den lautesten und häufigsten Applaus. Er kritisierte das dogmatisch verordnete Einheitsdenken in der Klimafrage, die mittlerweile als Lügen entlarvten Corona-Wahrheiten der Regierenden. Bevor er sich von Leuten, die schon in der Vergangenheit falsch lagen, erneut vorschreiben lassen solle, was er zu denken und zu sagen habe, so der Schriftsteller, erwarte er von ihnen zunächst eine Entschuldigung für all die wirkungslosen, aber schädlichen Ausgangssperren, Maskenpflichten und Impfzwänge.

«Was müssen wir tun, damit Sie unseren Fakten glauben?», fragte an einer Stelle der Abgesandte des Mainstreams, Rietzschel. Nichts hätte das Missverständnis besser ausgedrückt. Die Vertreter der tonangebenden Polit- und Medienmehrheit scheinen sich gar nicht mehr vorstellen zu können, dass es legitime andere Meinungen geben kann. Deshalb müssen die Abweichler bestraft, eingewiesen, geheilt, wiedereingegliedert oder bei fortdauernder Renitenz lebenslang verwahrt werden ausserhalb der salonfähigen Gesinnungsgemeinschaft – Demokratie als Konsens der Mächtigen, die sich mit der Wahrheit verwechseln.

«Lebe so, dass du am Morgen noch in den Spiegel schauen kannst», forderte zum Schluss der Dresdner Schriftsteller. Zum Glück hat Deutschland einen Uwe Tellkamp!