Kaum waren die Streitkräfte von Wladimir Putin in die Ukraine einmarschiert, verglichen ihn politische Experten mit Hitler. Beide Männer hatten ihre jeweiligen Länder diktatorisch regiert, beide Männer unterdrückten abweichende Meinungen und schalteten unabhängige Medien aus, beide Männer zögerten nicht, Menschen zu ermorden, die sie als Bedrohung ihrer Herrschaft ansahen. Sowohl Hitler als auch Putin fielen in eine Reihe von Nachbarländern ein, beide benutzten Lügen und Desinformationen, um ihre Handlungen zu rechtfertigen, beide benutzten ein Symbol – in Putins Fall das «Z», in Hitlers Fall das Hakenkreuz –, um für die Unterstützung ihrer Ziele zu werben. Beide Männer zögerten nicht, Tod und Zerstörung in grossem Ausmass zu verursachen, um ihre Ziele zu erreichen.

Massenmord an den Slawen

Jonathan Katz, der in Washington ansässige Direktor des Netzwerks Democracy Initiatives, hat Putin als «das Äquivalent zu Hitler in diesem Jahrhundert» bezeichnet. Putins Charakter, sagt er, «spiegelt auf beunruhigende Weise Züge Hitlers wider». Der ehemalige Direktor des US-Geheimdienstes James Clapper sagte gegenüber CNN, Putin sei «ein Hitler des 21. Jahrhunderts», eine Formulierung, die von einer Vielzahl von Kommentatoren verwendet wurde, vom ehemaligen irischen Premierminister Leo Varadkar bis zum ukrainischen Verteidigungsminister. Der britische Politiker der Liberaldemokraten, Norman Baker, behauptete in der Daily Mail, dass «alles, was Wladimir Putin tut, an Adolf Hitler erinnert».

Selbst der Prinz von Wales sagte 2014 nach dem russischen Einmarsch auf der Krim in Kanada zu einem jüdischen Holocaust-Überlebenden: «Putin tut fast dasselbe wie Hitler.» Kritiker der vorsichtigen Haltung des Westens gegenüber Putins territorialen Vergrösserungen ziehen routinemässig Parallelen zum Münchner Abkommen von 1938, in dem Grossbritannien und Frankreich versuchten, Hitler zu besänftigen und einen allgemeinen Krieg zu verhindern, indem sie die Tschechoslowakei zwangen, den Forderungen des Nazidiktators nach einem grossen Teil ihres Territoriums nachzugeben.

Jüdische Gruppen haben darauf hingewiesen, dass Putin keine Vernichtungslager oder Gaskammern eingerichtet hat, wie Hitler es tat, um den Massenmord an den europäischen Juden zu begehen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die wahllose Bombardierung der wichtigsten Städte seines Landes jedoch direkt als «Genozid» bezeichnet. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte, die russische Invasion trage «die Züge eines Genozids – sie zielt darauf ab, eine Nation auszulöschen und zu zerstören». Die sich häufenden Beweise für wahllose Massaker an zivilen Männern, an Frauen und Kindern durch die sich zurückziehenden russischen Armeen in Butscha und anderen ukrainischen Städten lassen sich weder ignorieren noch – trotz lächerlicher russischer Bemühungen – wegdiskutieren. Es handelt sich zweifellos um einen Genozid: Diese Menschen werden getötet, weil sie Ukrainer sind – aus keinem anderen Grund.

Der Genozid war das Herzstück des nationalsozialistischen Projekts. In diesem Jahr jährt sich zum 80. Mal der «Generalplan Ost» der Nazis, ein Vorschlag für den Massenmord an bis zu 45 Millionen «Slawen» durch Krankheit, Hunger, Verwahrlosung und «Ausrottung durch Arbeit», um die deutsche Besiedlung Ostmitteleuropas vorzubereiten. In seiner offiziellen Fassung, die im Juni 1942 fertiggestellt wurde, enthüllte der Plan, der erst 1957 ans Licht kam, das ganze Ausmass des radikalsten Genozidprogramms, das je ausgearbeitet wurde. Im Laufe von dreissig Jahren, einen deutschen Sieg im Krieg vorausgesetzt, schlugen die Nazis vor, 50 Prozent der Letten, Esten und Tschechen, 75 Prozent der Weissrussen und 85 Prozent der Litauer und Polen zu «liquidieren». Die Ukrainer sollten gänzlich verschwinden: 35 Prozent von ihnen, die als rassisch geeignet angesehen wurden, sollten «germanisiert» werden; der Rest sollte eliminiert werden.

Putin hat offenbar die Idee eines Regimewechsels aufgegeben und setzt auf die Teilung des Landes.

Glücklicherweise konnte der Plan nie verwirklicht werden, aber die völkermörderische Haltung der Nazis gegenüber den Millionen von slawischen «Untermenschen» fand ihren Ausdruck in der Ermordung Tausender polnischer Intellektueller und dem vorsätzlichen Aushungern von mehr als 3, 3 Millionen Rotarmisten. Letztere wurden gefangen genommen, in riesigen Gehegen in den osteuropäischen Ebenen eingepfercht und ohne Nahrung, Unterkunft oder Medikamente dem Tod überlassen.

Jeder, der glaubt, dass die Ukrainer «Nazis» sind oder dass Stalin der Hauptfeind der Ukrainer und der anderen Bewohner Ostmitteleuropas war, muss dieses schockierende Dokument lesen. Stalin befahl die Erschiessung von etwa 40 000 polnischen Offizieren, die von der Roten Armee in Ostpolen gefangen genommen worden waren, und deportierte Tausende von Polen, vor allem aus der Oberschicht, nach Sibirien, aber diese Verbrechen wurden im Namen des Klassenkampfes und nicht aus ethnischem Hass begangen. Für die Opfer machte das kaum einen Unterschied, doch das fast unvorstellbare Ausmass des «Generalplans für den Osten» stellt ihn in eine ganz eigene Kategorie.

«Weltfeind» der Nazis

Die völkermörderischen Absichten der Nazis gingen weit über die Beseitigung jener «Untermenschen» hinaus, die der deutschen Besiedlung im Wege standen. Genozid gibt es in vielen Varianten und Ausprägungen, und der Massenmord der Nazis an fast sechs Millionen europäischen Juden unterschied sich qualitativ von dem im Generalplan Ost enthaltenen Vernichtungsprogramm.

Für die Nazis waren die Juden von Anfang an der «Weltfeind», der Deutschland und die Deutschen in einer globalen Verschwörung mit dem Ziel der Weltherrschaft vernichten sollte. Hitler glaubte, dass jeder Jude aufgrund seines «rassischen Charakters» dazu prädestiniert sei, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Die Karikaturen der Nazis aus der Kriegszeit zeigten, dass die drei mächtigsten Feinde Deutschlands – das britische Empire, die Sowjetunion und die USA – von böswilligen jüdischen Verschwörern von hinten gesteuert wurden.

Es war dieser Glaube, der die deutschen Angreifer in Ostmitteleuropa dazu veranlasste, die jüdischen Einwohner des Gebiets zu erniedrigen und zu demütigen, indem sie jüdische Ältere zwangen, auf den Plätzen der Städte zu tanzen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen, jüdische Mädchen zwangen, mit ihren Blusen Latrinen zu putzen, und andere Gräueltaten verübten, die zu abscheulich waren, um sie im Einzelnen zu beschreiben. Dies veranlasste die Nazis auch dazu, die europäischen Juden so schnell wie möglich zu vernichten, im Gegensatz zu der längerfristig geplanten Massenvernichtung der Slawen in der Region, die selten mit dem grotesken und aufwendigen Sadismus behandelt wurden, der den Juden vorbehalten war.

In beiden Fällen wurde eine Invasion, die auf keinen Widerstand stossen sollte, zu einer Katastrophe.

Kaum etwas in der Propaganda von Wladimir Putin erscheint daher absurder als seine Behauptung, die Ukraine werde von einer Clique von «Nazis» regiert, nicht zuletzt, weil der ukrainische Präsident selbst jüdisch ist. Im Gegensatz zu Hitler betrachtet Putin die Ukrainer jedoch nicht als Untermenschen, geschweige denn als eine bösartige globale Bedrohung für die Existenz seines Landes. Er sieht sie als Russen. Im März 2014, als er die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland feierte, erklärte er, Russen und Ukrainer seien ein Volk. «Kiew», fuhr er in Anspielung auf das Mittelalter fort, «ist die Mutter der russischen Städte.»

Im Februar 2020 wiederholte er diese Überzeugung und behauptete, die ukrainische nationale Identität sei das Werk bösartiger ausländischer Einflüsse. Es gebe keinen ukrainischen Staat; er sei eine Fiktion. Folglich würden die Ukrainer, abgesehen von der winzigen Minderheit der «Nazis», die sie beherrschten, die Russen willkommen heissen, da diese sie von der ausländischen Besatzung befreiten.

Putins demütigende Niederlage

Und so waren die russischen Wehrpflichtigen nicht auf die Invasion vorbereitet. Sie wurden schnell desillusioniert, als sie auf unerwartet starken Widerstand stiessen. Seit dem Einmarsch sind sie in einigen Grenzregionen nur langsam und in anderen überhaupt nicht vorangekommen. An einigen Orten wurden sie von ukrainischen Truppen zurückgeschlagen. Die Zivilbevölkerung in den besetzten Städten und Dörfern hat mit ukrainischen Fahnen gegen die Invasoren demonstriert. Artilleriebeschuss und Luftangriffe haben der Bausubstanz vieler ukrainischer Städte schweren Schaden zugefügt, aber sie scheinen den Widerstand nicht geschwächt, sondern eher gestärkt zu haben.

Die Nato und die EU, die bei der Besetzung der Halbinsel Krim und der östlichen Grenzprovinzen der Ukraine durch Russland nur zuschauen konnten, haben Putin mit der Verhängung starker und konzertierter Sanktionen überrascht, die der russischen Wirtschaft bereits schaden. Die erwartete rasche Besetzung des gesamten Landes, sodann die schnelle Absetzung Selenskyjs und dessen Ersetzung durch eine russische Marionette sind nicht eingetreten. Für Putin und sein Regime ist dies eine militärische und politische Niederlage von demütigendem Ausmass. Es hat den Anschein, dass die russischen Streitkräfte diese peinliche Realität erkennen und sich aus der Zentralukraine zurückziehen, um ihre Position in den östlichen Provinzen des Landes zu festigen.

Hier, wenn überhaupt, ist die Parallele zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zu finden. Denn auch Hitler rechnete mit einem schnellen Sieg, als er am 22. Juni 1941 seine Armeen – mehr als dreieinhalb Millionen Mann, mit Tausenden von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Kampfflugzeugen und Artillerie – auf sowjetisches Gebiet schickte. Hitler war so zuversichtlich, dass das Gebäude der sowjetischen Gesellschaft zusammenbrechen würde, dass er sich nicht die Mühe machte, seine Truppen mit Winterkleidung auszustatten.

Es handelt sich zweifellos um einen Genozid: Diese Menschen werden getötet, weil sie Ukrainer sind.

Koloss Russland unterschätzt

Zunächst schien seine Zuversicht auch berechtigt zu sein. Entlang einer tausend Meilen langen Front rückten die deutschen und alliierten Armeen mit hoher Geschwindigkeit vor, kesselten Hunderttausende von Rotarmisten ein und nahmen sie gefangen oder töteten sie. Hitler und seine Generäle waren euphorisch. «Es ist also wohl nicht zu viel gesagt», notierte Franz Halder, der Chef des Oberkommandos des deutschen Heeres, am 3. Juli 1941 in seinem Tagebuch, «wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen wurde.»

Doch Halder und sein Vorgesetzter hatten sich verkalkuliert. Die ukrainischen Bauern begrüssten die einmarschierenden Truppen mit den traditionellen Gaben von Brot und Salz und erwarteten die Befreiung von Stalins Herrschaft, unter der es während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft Anfang der 1930er Jahre zu einer Hungersnot mit Millionen Toten gekommen war. Stattdessen wurden sie mit weiteren Gräueln konfrontiert, als sich die Deutschen plündernd und brandschatzend ihren Weg durch das Land bahnten, die Städte in Schutt und Asche legten und selbst kleinere Widerstände mit Massenexekutionen und dem Abfackeln ganzer Dörfer beantworteten.

Ermutigt durch Stalins Abkehr von der bolschewistischen Rhetorik und den Aufruf, die Deutschen im Geiste des russischen Patriotismus zu bekämpfen, bildeten sich bald überall Partisanengruppen, und Stalins Generäle mobilisierten militärische Reserven und brachten sie an die Front. Anfang August gesteht Halder in seinem Tagebuch, «dass der Koloss Russland von uns unterschätzt worden ist». Die Sowjets schienen über unbegrenzte Reserven an Männern und Material zu verfügen. Immer wieder trafen Verstärkungen ein, um die Hunderttausenden von Gefallenen und Gefangenen an der Front zu ersetzen.

Für die Deutschen sollte es noch schlimmer kommen. Als der Herbstregen einsetzte, versanken ihre Armeen in einem Meer aus Schlamm. Bald darauf begann ihnen der russische Winter mit Temperaturen von bis zu minus vierzig Grad Celsius zuzusetzen. Hitlers übergrosse Zuversicht, die aus seiner anhaltenden Verachtung für die «Slawen» herrührte, liess ihn all diese Probleme ignorieren. «Noch niemals», so verkündete er am 8. November 1941, «ist ein Riesenreich in kürzerer Zeit zertrümmert und niedergeschlagen worden als diesmal Sowjetrussland.» Doch seine Truppen waren nach Monaten des ständigen Vormarsches müde. Sie waren für einen Winterfeldzug schlecht ausgerüstet, und ihre Zahl wurde durch die ständigen Gegenangriffe der Roten Armee verringert. Eine Katastrophe bahnte sich an.

Als der sowjetische General Georgi Schukow einen Gegenangriff startete, wurden die Deutschen zurückgedrängt. Unter den schrecklichen winterlichen Bedingungen begannen sie in ihren Sommeruniformen zu erfrieren. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels startete eine breitangelegte Kampagne in Deutschland, um die Zivilbevölkerung dazu zu bewegen, der bedrängten Armee Winterkleidung zu schicken. Doch es war zu spät. Unter dem Druck der Niederlage erlitt ein deutscher General nach dem anderen einen Herzinfarkt oder einen gesundheitlichen Zusammenbruch und trat zurück, darunter auch Halder selbst. Hitler betrachtete inzwischen alles andere als kompromisslosen Widerstand gegen die vorrückenden Russen als Feigheit. Jeder General, der einen Rückzug anordnete, um das Leben seiner Truppen zu retten, wurde sofort entlassen.

Beide Männer zögerten nicht, Tod und Zerstörung zu verursachen, um ihre Ziele zu erreichen.

Echoraum für den «Führer»

Wütend über seine hohen Offiziere, übernahm Hitler im Dezember 1941 den Oberbefehl über das Heer. In den folgenden Monaten stiessen die deutschen Truppen erneut in den Osten vor, aber es war eine trügerische Morgendämmerung: Im Winter 1942/43 besiegelte die Schlacht von Stalingrad ihr Schicksal und leitete eine Periode des kontinuierlichen Rückzugs ein, die 1945 mit der Besetzung Berlins durch die Sowjets und dem Selbstmord Hitlers endete.

Sowohl Hitler als auch Putin wurden in ihren tödlichen Illusionen von Untergebenen bestärkt, die kein Wort der Kritik an ihrer Politik äusserten. Der Grund dafür könnte die Furcht vor den Konsequenzen einer abweichenden Meinung sein. Das im Fernsehen übertragene Treffen Putins mit seinen führenden Beratern Ende Februar zeigte, wie er sie schikanierte, bis er die gewünschte Unterstützung erhielt. Was Hitler betrifft, so wurde jeder, der seine Politik, dem Feind keinen Zentimeter nachzugeben, in Frage stellte, aus der Armee entlassen und um seine Rente gebracht. Beide Diktatoren umgaben sich mit treuen Gläubigen, Männern, die ihre Unabhängigkeit längst aufgegeben hatten und lediglich als Echoraum für die Ansichten ihres «Führers» fungierten.

Sowohl bei Putin als auch bei Hitler war es die Ideologie – im ersten Fall der nationalistische Glaube an den im Wesentlichen russischen Charakter der Ukrainer, im zweiten Fall die dogmatische Überzeugung von der Überlegenheit der «arischen» Rasse –, die zu einer Überheblichkeit führte, die in einer demütigenden militärischen Niederlage endete. In beiden Fällen wurde eine Invasion, die auf keinen ernsthaften Widerstand stossen sollte, zu einer Katastrophe. In beiden Fällen handelte ein Diktator auf der Grundlage ideologisch motivierter Annahmen, die sich schnell als falsch herausstellten.

Sowohl Hitler als auch Putin projizierten ihre eigenen mörderischen Überzeugungen auf diejenigen, die sie für ihre Feinde hielten: Hitler und Goebbels rechtfertigten den Holocaust mit der Behauptung, dass die Juden die deutsche Rasse ausrotten wollten, während Putin und seine Untergebenen ihren Angriff auf die Ukraine mit der Behauptung rechtfertigten, dass die «Nazis» in der Führung des Landes die Russen in der östlichen Donbass-Region ausrotten wollten.

Doch damit endet die Ähnlichkeit. Nach seinen Reden der letzten Jahre zu urteilen, will Putin, der den Zusammenbruch der Sowjetunion als nationale Katastrophe betrachtet, das Russland seiner frühen Jahre wiederherstellen und Nachbarstaaten eingliedern, die seiner Meinung nach kein Recht auf ihren unabhängigen Status haben. Dabei ist er offensichtlich bereit, jedes Mittel einzusetzen, das er für notwendig hält, um sein Ziel zu erreichen. Zumindest im Moment scheint sich der Konflikt auf einen Teil Europas zu beschränken, und die Ziele der Invasion sind begrenzt, ja sogar rückläufig: Putin hat offenbar die Idee eines Regimewechsels in der Ukraine aufgegeben und setzt stattdessen auf die Teilung des Landes.

Da die Breite und Tiefe des ukrainischen Nationalbewusstseins deutlich geworden ist, haben Putin und seine Truppen beschlossen, dass die «Nazis», die sie angeblich bekämpfen, nicht nur eine winzige Clique, sondern praktisch das ganze Volk sind. Dennoch scheint der Massenmord an der Zivilbevölkerung ein Produkt der Niederlage und des Rückzugs zu sein; er wurde nicht im Voraus geplant, anders als der Massenmord an Ukrainern und anderen «Slawen» durch die einmarschierenden Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Putins Ziele sind begrenzter

Hitlers Ziele waren im Gegensatz zu denen Putins nicht auf eine Ecke Europas beschränkt. Ihm ging es nie bloss darum, die im Versailler Vertrag von 1919 getroffene territoriale Regelung rückgängig zu machen; er war nicht nur daran interessiert, die deutsche Hegemonie über den Rest des Kontinents zu errichten. In einer Rede vor seinen Anhängern am 5. November 1930, nach seinem überwältigenden Erfolg bei den Parlamentswahlen im September, beklagte Hitler, dass sich Grossbritannien und Frankreich beim Gerangel um Afrika in den 1880er Jahren den Löwenanteil genommen und dem neugegründeten Deutschen Reich nur die Reste überlassen hätten:

«Kein Volk hatte mehr Recht auf den Begriff der Weltherrschaft als das deutsche Volk. Wir hätten dieses Recht gehabt, und kein anderes Volk [stürmischer Beifall]. Nicht England und nicht Spanien, nicht Holland, keine andere Nation hätte ein angeborenes Recht gehabt, aufgrund ihrer Tatkraft und ihrer Tüchtigkeit und auch ihrer zahlenmässigen Stärke die Weltherrschaft zu beanspruchen. [. . .] Heute behaupten manche, dass wir in ein Zeitalter des Friedens eintreten, aber ich muss Ihnen sagen: Meine Herren, Sie verstehen das Horoskop unserer Zeit schlecht, das wie nie zuvor nicht auf Frieden, sondern auf Krieg hinweist.»

Für Hitler war der Überfall auf die Sowjetunion nur ein Schritt auf dem Weg zur Weltherrschaft, da ihre enormen Ressourcen die Grundlage für weitere Invasionen bilden würden, darunter auch – wie er in seiner unveröffentlichten Fortsetzung von «Mein Kampf» andeutete – die USA. Der ewige Krieg war seiner Meinung nach der einzige Weg für die Deutschen – die Arier, um seine Terminologie zu verwenden –, um im Existenzkampf der Rassen um das Überleben des Stärkeren zu bestehen.

Putins Ziele sind weitaus begrenzter. Er wird von einem engagierten und fehlgeleiteten Nationalismus angetrieben, der die territoriale Einigung der frühen 1990er Jahre rückgängig machen und Russland wieder in die Riege der Grossmächte einreihen will. Und sie beruhen auf einer bizarr verdrehten Geschichtsauffassung, die jeden, der versucht, sie zu vereiteln, als «Nazi» betrachtet, der genauso wie die Nazis von der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg getötet werden soll.

Sowohl Hitler als auch Putin sind von einer tiefverwurzelten Ideologie besessen, die auf falschen Erinnerungen an den Weltkrieg beruht. Hitler glaubte, die deutsche Nation sei von Sozialisten und Juden verraten worden, die der Armee im Ersten Weltkrieg in den Rücken gefallen waren. Er war von Anfang an entschlossen, diese Niederlage rückgängig zu machen und Deutschlands «Griff nach der Weltmacht» wieder aufzunehmen, wenn auch in weit grösserem Massstab als zuvor; und die Beseitigung des «jüdischen Weltfeindes» war eine Voraussetzung für den Erfolg.

Putin glaubt, dass die russische Nation von Führern verraten wurde, die ihre Integrität nach 1917 und erneut nach 1989 aufgegeben haben. Auch er ist bestrebt, die seiner Meinung nach historischen Niederlagen rückgängig zu machen. Genozid ist in beiden Fällen das Ergebnis. Die Tatsache, dass Hitlers Genozid geplant war und Putins Genozid nicht, ändert nichts an dem Schrecken dessen, was heute in der Ukraine geschieht.

Richard J. Evans ist emeritierter Regius-Professor für Geschichte an der Universität Cambridge und Experte für Nazideutschland. Sein neustes Buch auf Deutsch: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. DVA. 368 S., Fr. 41.90

Erschienen in Weltwoche Nr. 16/22

Die 3 Top-Kommentare zu "Ist Putin ein neuer Hitler?"
  • freige richter

    Anfangs habe ich den Kommentar gelesen und bin immer mehr ins "Überfliegen" übergegangen. Herr Evans ist für mich kein "Experte". Er spricht die NATO-Sprache und ist sehr eindimensional.

  • gelegentlicher kommentar

    Mich erstaunt und erfreut die mediale Bandbreite, die WW hier zulässt. Den Artikel mag ich nicht kommentieren. Manche Dinge sind so selbsterklärend wie fallende Regentropfen.

  • einchemiker

    An freige richter: Ist man denn nur ein Experte, wenn man gegen den Westen schiesst und pro Russland ist? Sind alle, die gegen Putin sind, aus Ihrer Sicht Nazis und/oder haben keine Ahnung? Sind 95% der westlichen Medien eindimensional? Ich sehe dies anders: Herr Evans hat die Parallelen anhand vieler Beispiele und auch sehr differenziert aufgestellt. Seine Aussagen lassen sich auch verifizieren. Ich bin einfach nur erstaunt darüber, dass ein solcher Artikel überhaupt in der WW erscheinen darf.