Lehrlinge müssen jetzt also zum Knigge-Kurs, weil ihnen Anstand und grundlegende Manieren fehlen. Das haben Lehrbetriebe beschlossen, der Nebelspalter berichtete. Die Lehrmeisterin Christine Frey erzählt bei 20 Minuten, dass man manche daran erinnern müsse, den Stuhl zurückzuschieben oder die benutzten Gläser in die Küche zu stellen. «Ein Schnupperlernender lungerte in seinem Stuhl herum, als ob er gamen würde.» Es gibt Lehrlinge, die erscheinen in Trainerhosen und mit Cap zur Arbeit. Frey ortet das Problem bei den Eltern, die ihre Kinder zu sehr verwöhnen, so dass sie dann nicht verstehen, dass in der Arbeitswelt andere Regeln gelten. Die Lehrlinge werden unter anderem Nachhilfe erhalten in Körperhygiene, Bekleidung und Begrüssung, dafür werden Händeschütteln, Blickkontakt und Körperhaltung geübt. Händeschütteln üben? Der Hund neben mir liegt auf dem Rücken vor lauter Lachen. Okay, wo beginnen wir, Digga?

Grundsätzlich treffen gute Manieren auf sinkendes Verständnis in der Gesellschaft. Ich finde das schade, denn Höflichkeitsbezeugungen drücken ja nicht nur Respekt aus im gesellschaftlichen Umgang, sie erregen unbewusste Sympathie, etwas, von dem man nie genug kriegen kann. Über die Basis-Gepflogenheiten herrscht aber selbst im 21. Jahrhundert noch Konsens. Die Knigge-Ausgabe vom Jahr 2223 werde ich glücklicherweise nicht mehr erleben.

Ein Lehrbetrieb kann natürlich nicht erwarten, dass 15-Jährige, frisch aus der Schule, umgangstechnisch perfekt geschliffene Mitarbeiter sind. Nur gehört es bestimmt nicht zu den Aufgaben des Bildungs- und Lehrsystems, ihnen die einfachsten Grundlagen beizubringen; dass man nicht im Trainingsanzug im Betrieb erscheint, mit Kunden nicht gleich spricht wie mit Freunden, dass «Digga» und «Alter» da halt nicht so gut passen. Es ist ein bisschen ein Schauspiel; in der Arbeitswelt spricht man anders, verhält sich anders.

Erledigen Eltern ihren Job nicht, erschweren sie ihnen den Einstieg in den Berufsalltag.

Das Problem sind nicht Schulen, Lehrbetriebe oder die Kinder, die einen Knigge brauchen. Das Problem sind die Eltern. Wenn 15-Jährige im Nachhilfekurs erst mal lernen müssen, dass man sich morgens vor der Arbeit duscht oder wie man eine Hand schüttelt, muss man leider fragen: Wie beschäftigen sich diese Eltern mit ihren Kindern? Was leben sie ihnen vor, um ihnen Anlass zu mangelnden Manieren zu geben?

Es ist ihre Aufgabe, dem Nachwuchs die einfachsten Grundregeln mit auf den Weg zu geben und ihn erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. «Zieh dich anständig an für die Arbeit», «Hand vor den Mund beim Gähnen», «Sieze die Erwachsenen» – ältere Jahrgänge dürften sich noch an diese elterlichen Gebote erinnern, die wir zwar doof fanden, aber befolgt haben, meistens jedenfalls. Eltern sind auch Vorbilder, Kinder beobachten Verhalten und übernehmen sie. Erledigen sie ihren Job nicht, erschweren sie ihnen den Einstieg in den Berufsalltag. Eigentlich sollte man sie zu einem Knigge-Kurs verpflichten.

Nun würden manche vielleicht einwenden: Warum soll sich mein Kind verstellen? Und ich würde entgegnen: weil das in der Arbeitsumgebung erwartet wird und weil es noch andere Bedürfnisse gibt als die der Kinder. Zum Beispiel entscheidet der Kunde, dass er im teuren Restaurant vom Kellner nicht geduzt werden will – und nicht die Eltern. Das ist vielleicht das grundlegende Missverständnis, das moderne Eltern von überbehüteten Kindern hegen; das Wohlgefühl des Nachwuchses steht über allem anderen – und alle müssten das verstehen.

Man würde mich vielleicht darauf hinweisen, dass etwa eine alleinerziehende Mutter nicht so viel Zeit hat. Gut, aber alleinerziehende Mütter interagieren nicht mit ihrem Sprössling? Es geht ja nicht darum, aus ihm den kultiviertesten Teenager der Welt zu machen. Aber es stehen einem 15 Jahre zur Verfügung und unzählige Gelegenheiten, sich zu entschliessen, von seinen Manieren Notiz zu nehmen und, wenn nötig, korrigierend einzuschreiten – «stell dein benutztes Geschirr in die Küche»; das ist nicht zeitintensiv, das gibt man Kindern doch intuitiv en passant mit.

Den Kids Manieren beibringen war bisher eine Aufgabe, die Eltern noch nicht an den Staat abdelegieren konnten. Indem man nun Benimmkurse organisiert, wird sie ihnen vollumfänglich abgenommen. Wie ausserordentlich praktisch.