Er träume davon, ein Parlamentarier wie die anderen zu sein, sagte Ricardo Lumengo am Samstag. Die dreiwöchige Frühjahrssession hat dem 48-jährigen Juristen wohl genau das Gegenteil vor Augen geführt. Der dunkelhäutige SP-Nationalrat, das Symbol der Sozialdemokraten für eine multikulturelle Schweiz und für die Integration von Immigranten, wird neben 199 weissen Nationalrätinnen und Nationalräten immer auffallen. Aber das hat er satt: «Ich möchte, dass man die Farbe meiner Haut vergisst, ich möchte einfach ein Politiker sein», zitierte ihn die Westschweizer Zeitung 24 heures.

Als er vor zwei Jahren in den Nationalrat einzog, störte es den ehemaligen Asylbewerber aus Angola weniger, dass er im Mittelpunkt stand. Reporter von New York Times, El País und BBC begleiteten ihn von seinem Wohnort Biel bis ans Pültchen im Ratssaal. «Der erste Schwarze im Schweizer Parlament», als Kontrast zum Wahlsieg der SVP. Dabei war das nicht einmal korrekt: Mit Tilo Frey (FDP, NE) sass von 1971 bis 1975 die erste Farbige im Nationalrat. Das interessierte fast niemanden, zu gut war die «Tellerwäscherkarriere» (Schweizer Fernsehen) vom Flüchtling aus Angola zum Juristen und Nationalrat. «Jetzt bin ich als schwarzes Schaf im Parlament», jubilierte Lumengo im Blick. Für Le Matin posierte er vor einem Christoph-Blocher-Plakat und liess sich zitieren: «Ich bin das gewählte schwarze Schaf.»

Heute will Lumengo lieber schweigen. Der Gerichtstermin wegen Verdachts auf Wahlfälschung steht an. Ein Interview mit der Weltwoche lehnte er ab. Dann willigt er in ein kurzes Gespräch in der Wandelhalle im Bundeshaus ein. Der Mann ist eine sympathische Erscheinung, tadellos gekleidet, freundlich und offen. Sein Hochdeutsch ist praktisch perfekt – neben Französisch und Deutsch spricht er weitere sechs Sprachen, darunter drei afrikanische Dialekte. Am «Bärndütsch» arbeite er. Sein herzliches Lachen ist ansteckend, doch bei den Fragen bleibt er ernst, passend zu seiner Situation: Seit er verdächtigt wird, 44 Wahlzettel bei den Grossratswahlen 2006 selber ausgefüllt zu haben, blättert der Lack des strahlenden Symbols ab.

Per Anwalt versuchte er, die Medienmitteilung des Untersuchungsrichters zu verhindern. Dann machte der Blick die Sache publik. Zuerst war vom weniger gravierenden Delikt des Stimmenfangs die Rede. Die Mitteilung erschien später trotzdem und bestätigte, dass der Verdacht auf Wahlfälschung lautet, was mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden kann. Lumengo teilte mit, er trete bei einer Verurteilung zurück – und relativierte im Tages-Anzeiger: «Der Rücktritt wäre eine Möglichkeit.» Es sei «ein naiver Fehler» gewesen, die Wahlzettel auszufüllen, doch habe er nur helfen wollen. Bekannte mit ausländischen Wurzeln seien vom Wahlverfahren überfordert gewesen; die Zettel habe er nach deren Willen ausgefüllt.

Nur Tage nach der Erklärung schienen die Vorwürfe vergessen. Das Blatt wendete sich: «Ich habe über hundert rassistische E-Mails erhalten», verkündete er in der Zeitung Sonntag. Man verspotte ihn als «dreckigen Neger, ich solle in Afrika Bananen pflücken gehen», sagte er gemäss 24 heures. Lumengo, das Opfer.

Bewährtes Muster

Er scheint zerrissen zu sein: Da der Wunsch, seine Symbolrolle zu überwinden, und dort der Reflex, Vorwürfe als rassistische Attacken abzutun. Die Angriffe sind zuweilen tatsächlich hässlich, einmal schlug ihm ein Rechtsradikaler einen Stock gegen den Kopf. Doch Bieler Lokaljournalisten erzählen, es zeichne Lumengo aus, dass er auch harmlose Fragen sofort auf seine Hautfarbe beziehe.

Dieses Muster hat sich bewährt. Lumengo zelebriert es seit den ersten Tagen in der Schweiz: Er reiste 1982 als Zwanzigjähriger ein. In seiner Heimat Angola sei er verfolgt worden, weil er politisch aktiv gewesen sei, sagte Lumengo. Allerdings wurde er nicht als Flüchtling anerkannt. Er erhielt eine Aufnahme aus humanitären Gründen und dann Ende der 1980er Jahre die B-Bewilligung. In einer Fleischfabrik und in einem Restaurant verdient er sich das Jura-Studium ab. 1994 besteht er an der Universität Freiburg das Lizenziat. Dann ist die akademische Karriere zu Ende. Bei der Anwaltsprüfung fällt er durch. «Für mich bedeutete dies das Ende der Welt», sagt er über zehn Jahre später in einem Interview auf der christlichen Website jesus.ch. «Nach einer langen Zeit im Dunkeln habe ich Gott gefunden. Plötzlich konnte ich mich so akzeptieren, wie ich war.»

1997 wurde Lumengo eingebürgert und 2004 ins Parlament der linksdominierten Vielvölkerstadt Biel gewählt. Bis heute arbeitet Lumengo als juristischer Berater im «interkulturellen Begegnungszentrum» Multimondo. Im Stadtrat entzündete sich ein wüster, jahrelanger Streit mit dem Bieler Polizeidirektor Jürg Scherrer von der Freiheits-Partei (FPS). Lumengo warf der Polizei vor, er und andere Schwarze seien nur wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert worden. Auf dem Posten sei es zu Misshandlungen gekommen. Scherrer bezeichnete das als «Schauergeschichten». Lumengo klagte wegen Rassendiskriminierung, doch der Staatsanwalt trat nicht darauf ein, Lumengo rekurrierte. Ein Jahr später entschuldigte sich Scherrer vor Gericht, Lumengo zog die Klage zurück. Die Auseinandersetzungen hielten Lumengo und Scherrer im Gespräch – im Frühjahr 2006 schafften beide den Sprung ins Kantonsparlament.

Mitten im Nationalratswahlkampf 2007 touchierte Lumengo auf der Autobahn beim Überholen die Leitplanke – und fuhr auf den Felgen nach Hause, ohne sich bei der Polizei zu melden. «Weil ich regelmässig Morddrohungen und Beschimpfungen erhalte, hatte ich wegen der anderen Autos Angst und fuhr weiter», sagte er später – Scherrer hatte die Presse informiert. Lumengo kassierte eine bedingte Geldstrafe.

Der Wahlsommer 2007 in Biel wurde noch hitziger: Auf der Tribüne des Stadtrats verspies der Präsident der bernischen FPS, Willi Frommenwiler, Bananen und Mohrenköpfe. «Die Schweiz kommt mir wie eine Bananenrepublik vor. Die Mohrenköpfe passen auch», sagte Frommenwiler und bezog sich auf ein richterliches Verbot, die Besucher der von ihm reservierten Website lumengo.ch auf einen Blog («Lumengo lügt!») umzuleiten.
Das machte Lumengo zum Thema in der ganze Schweiz. Der Südostschweiz sagte er: «Viele denken bei Schwarzen an Kriminelle. Das merkt man an Kleinigkeiten: Wenn ich im Parkhaus mein Auto parkiere, checkt der neben mir nochmals, ob er sein Auto auch gut abgeschlossen hat.» Lumengo wurde gewählt.

Schlecht vorbereitet und unpünktlich

Nach Lumengos ersten zwei Jahren im Bundeshaus und mit dem Gerichtstermin vor Augen, fragen sich jetzt zunehmend auch Parteikollegen: Wer sitzt da für uns im Parlament? Er wolle sich an seiner Arbeit messen lassen und nicht an seiner Hautfarbe, sagte Lumengo. Aufgefallen ist er ausserhalb des Rats: Er wurde Schirmherr des Panini-Museums der Euro 08, liess sich im Blick feiern, nachdem er eine Frau vor einem Übergriff gerettet hatte, und inszenierte sich in einem Kampfsporttraining, weil ihm am 1. Mai jemand eine Banane an den Kopf geworfen hatte. Einen landesweit beachteten Vorstoss lancierte er: ein Red-Bull-Verbot. Fraktionschefin Ursula Wyss (SP, BE) hätte gerne an einen verspäteten 1.-April-Scherz geglaubt.

«Lumengo ist ein tragischer Fall, denn für die SP war er ein wichtiges Symbol – jetzt ist die Glaubwürdigkeit zerstört. Politisch wäre sein Rücktritt kein Verlust», sagt einer von vielen aus der SP, die aus Angst vor der Rassismuskeule nur anonym Auskunft geben.

Aus der Aussenpolitischen Kommission, wo Lumengo seit Dezember sitzt, vernimmt man, er sei schlecht vorbereitet und unpünktlich. Auf einer Couch vor dem Nationalratssaal sagt er: «Natürlich tut es weh, wenn gewisse Leute behaupten, ich leiste politisch wenig und sei faul, aber diese Meinungen lasse ich stehen. Mein Gott, ich kommentiere doch nicht jede Behauptung.» Gerne würde er weitererzählen. Dann aber erinnert er sich, dass er ja gar nichts mehr sagen will.