Ende des vergangenen Jahres wurden in Deutschland drei der sechs letzten Kernkraftwerke vom Netz genommen. Damit folgte das Land seinem Plan von 2011, bis Ende 2022 vollständig aus der Kernenergie auszusteigen.

Diese sechs Kernkraftwerke gehören zu den grössten, die Deutschland je gebaut hat. Sie produzierten 2019 rund 64 TWh Strom (1 Terawattstunde ist eine Milliarde Kilowattstunden). Das war mehr als der gesamte Stromverbrauch der Schweiz von 62 TWh. Deutschland entzieht dem europäischen Netz also in kürzester Zeit mehr Stromproduktion, als unser Land verbraucht. Damit verliert die europäische Stromversorgung einen wichtigen Stabilisator. Mit welchen Folgen für die Schweiz?

Günstiger Strom – ein Wunschtraum

Deutschland hat uns 2019 rund 8 TWh Strom geliefert, den wir grossenteils nach Italien weitergeleitet haben, das auf Stromimporte angewiesen ist. Bei 64 TWh weniger erzeugter Elektrizität – 11 Prozent seiner gesamten Produktion – wird Deutschland in Zukunft kaum noch Strom in die Schweiz liefern können, schon gar nicht an kalten Wintertagen, wenn er am meisten gebraucht wird. Der Ausbau der Solar- und Windenergie wird diese Lücke nicht ausgleichen können, zumal sich die neue Produktion nicht nach dem Bedarf, sondern nach Tageszeit und Wetter richtet und Stromspeicher in der erforderlichen Grössenordnung nicht annähernd zur Verfügung stehen.

Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass sich die Versorgungslage in Deutschland und Italien und damit auch bei uns spätestens zum Ende dieses Jahres schlagartig verschlechtern wird. Strom aus der Steckdose, wenn wir ihn brauchen, zu konstant niedrigen Preisen, kurzum ein Leben, wie wir es heute kennen und schätzen, wird dann schnell zu einem Wunschtraum.

Die Versorgungslage wird sich spätestens zum Ende dieses Jahres schlagartig verschlechtern.

Was kann unser Land tun, um sich von der Strompolitik seiner Nachbarn unabhängiger zu machen? Einerseits können wir unsere eigene Produktion stärken, andrerseits können wir Massnahmen ergreifen, um unsere Stromversorgung vor Schäden durch die Nachbarn zu schützen.

Schutz unseres Stromnetzes

Die Voraussetzungen der Schweiz für eine starke Selbstversorgung sind gut. Unsere herkömmliche Produktion mit 40 Prozent Kernenergie und 60 Prozent Wasserkraft versorgt uns bedarfsgerecht, kostengünstig und praktisch CO2-frei.

Mit der Ausserbetriebnahme des Kernkraftwerks Mühleberg sind jährlich 3 TWh an zuverlässiger Produktion verlorengegangen. Mit der künftigen Stilllegung der Kernkraftwerke Beznau 1 und 2, Gösgen und Leibstadt werden dereinst weitere 6 TWh, 8 TWh und 9 TWh pro Jahr wegfallen (zusammen 35 Prozent unserer Landeserzeugung). Neben der Grosswasserkraft, die aber weitgehend ausgeschöpft ist, sind Erdgaskraftwerke der geeignetste Ersatz, da sie Strom in ähnlicher Qualität, das heisst regelmässig, in grossen Mengen und zu geringen Kosten liefern. Ausserdem ist zu hoffen, dass unsere derzeit aktiven Kernkraftwerke noch lange betrieben werden können.

Der Schutz unserer Stromnetze vor einer Destabilisierung durch umliegende Länder ist eine politische, rechtliche und technische Herausforderung, denn eine moderne Stromversorgung ist auf den Austausch im grossen Stil ausgelegt. Das kann aber nur funktionieren, wenn sich alle Austauschpartner an die gleichen Standards für eine sichere Versorgung halten.

Die Zeit läuft uns davon

Angesichts der jetzt notwendigen Investitionen muss unsere gegenwärtige Ausgaben- und Subventionspolitik hinterfragt werden. Der Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen verschlingt grosse Summen und trägt wenig zur Versorgungssicherheit bei. Gleichzeitig müssen wir unsere bestehende Stromversorgung für Zeiten mit ungenügend Sonne und Wind erneuern und ausbauen. Beides zu bauen, ist unwirtschaftlich und unökologisch.

Wir brauchen unverzüglich eine Priorisierung der Investitionen zugunsten der Versorgungssicherheit, geeignete Rahmenbedingungen für den Einsatz von Gaskraftwerken und Notfallpläne für einen Inselbetrieb der Schweiz, falls einvernehmliche Lösungen mit unseren Nachbarländern nicht möglich sind. Damit dies gelingt, müssen alle Verantwortlichen ihren Beitrag leisten: die Parlamentarier, die Gesetze in Auftrag geben und beschliessen, die Energieämter, die sie entwerfen, und die Wirtschafts- und Umweltverbände, die die öffentliche Diskussion prägen. Sie müssen sich beeilen.

Lukas Weber ist Ingenieur, Publizist und Präsident der Arbeitsgruppe Christen + Energie. Er war Mitglied des Referendumskomitees gegen die Energiestrategie 2050.