In Politik, Medien und Soziologie erfreut sich der Begriff «alte Rollenbilder» einer populären Verwendung, in allen Varianten: «gesellschaftliche Normen», «alte Rollenmuster», «internalisierte Rollenbilder», «Rollenerwartungen». Er wird gerne als Erklärung herangezogen, wenn Frauen Entscheide treffen, Dinge denken oder tun, die ihnen (vermeintlich) nicht zugutekommen. Oder die man in progressiven Kreisen als falsch empfindet.

Neulich las ich, dass Frauen, die mehr verdienen als ihr Lebenspartner, deutlich unzufriedener seien als solche, die das kleinere Gehalt haben. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für die Faz bewerten Frauen in Partnerschaft ihr Leben am besten, wenn sie weniger verdienen als ihr Mann oder ungefähr gleich viel. Untersuchungen aus den USA zeigen dasselbe Phänomen, genauso wie in Schweden.

Ich las von Studien, die besagen, dass Frauen, die sich für das traditionelle Familienmodell entscheiden (sie: Hausfrau-Mutter, er: Versorger), ihr Glücksempfinden insgesamt als höher bewerten als jene, die das moderne Modell leben.

Und dann, stellt man fest, dass die unbegrenzten Möglichkeiten Frauen gar nicht so glücklich machen.

Das Interessante: Als Erklärung dieser Befunde ziehen praktisch alle Autoren und Experten die alten Rollenbilder heran; es liege eben an den von den Eltern vorgelebten Rollenbildern, diese liessen sich nur schwer überwinden, oder an den «gesellschaftlichen Normen».

Ein Stück weit stimmt das gewiss. Unbewusst handeln wir aufgrund von Rollenmustern, die wir wahrgenommen und die sich in uns von früh an manifestiert haben. Aber massgeblichen Einfluss auf Entscheide oder Gefühle im Leben eines Erwachsenen haben nicht externe Einflüsse, sondern vielmehr persönliche Erfahrungen und Bedürfnisse.

Indem man sämtliche Entscheide, die nicht ins gängige Bild der modernen Frau passen, mit alten Rollenbildern oder einer gesellschaftlichen Erwartung rechtfertigt, vermittelt man den Eindruck, Frauen seien ferngesteuerte Wesen, nicht fähig, eigenständig zu denken und eigene Entscheide zu treffen, sei es aus Eigennutz, Kalkül oder einfach, weil sie es so wollen. Und vor allem vermittelt man, dass Frauen nicht in der Lage seien, sich von alten Rollenbildern zu lösen.

Du bist dreissig, top ausgebildet, ehrgeizig, willst ein Unternehmen leiten, weil aber die Mutter Hausfrau war und der Vater Alleinversorger, lässt du dich davon abbringen? Du willst Vollzeitmutter sein, nicht weil es dich am allerglücklichsten macht, sondern weil das eine «Rollenerwartung» ist, im Jahr 2023? Also bitte. Das ist wirklich amüsant. Mit der permanenten Rollenbilder-Argumentation entbindet man uns auch der Verantwortung über die eigenen Entscheide – und guess what: Auch Frauen treffen falsche Entscheide. Und erklärt uns stattdessen, warum und womit wir glücklich sind. Entschuldigung, aber das ist einfach nur eine neue Art der Bevormundung. Natürlich schreibt uns niemand vor, wie wir zu leben haben. Aber mit der Rollenbilder-Rhetorik wird Druck aufgebaut. Subtext: Lebst du als Frau so, empfindest du so, dann ist das nicht modern!

Die moderne Familienpolitik lässt nichts unversucht, um Frauen in ihren Karrieren zu fördern, sie redet uns ein, die Doppelrolle Mutter und Karrierefrau sei erstrebenswert, das traditionelle Modell tue uns nicht gut. Und dann, auweia, stellen Untersuchungen fest, dass all die Führungspositionen, die unbegrenzten Möglichkeiten am Arbeitsmarkt, das «Having it all»-Prinzip Frauen im Grossen und Ganzen gar nicht so glücklich machen. Und verantwortlich sind? Die alten Rollenbilder! Sie funktionieren wie ein Joker. Man kann sich ihrer auch einfach bedienen, um die eigene Agenda voranzutreiben: «Wir müssen in diese Richtung weitermachen. Denn eigentlich wären Frauen ja andersrum glücklicher, würde man sie nur seit Generationen anders erziehen.»

Ich weiss nicht, welches System Menschen zufriedener macht. Ich bin weder Hausfrau noch Mutter und lebe glücklich. Blicke ich mich um, sehe ich, dass das traditionelle Familienmodell nicht das dümmste ist, und sowieso, neuere Lebensmodelle müssen erst noch beweisen, dass sie besser sind. Das wäre ja auch etwas, das man in Rollenaufbrecher-Kreisen wenigstens in Betracht ziehen könnte, statt alte Muster per se als problematisch zu verteufeln. Aber das wäre wohl unpassend, weil es die eigene Gesinnung zu relativieren droht.