Seit vielen Jahren warnt Anne Applebaum vor Putins imperialen Ambitionen. Ihre Kassandrarufe basieren auf profunder Forschung über die Mentalität der Kreml-Potentaten und deren Herrschermethoden. Ihre Erkenntnisse publizierte sie in einer Reihe von preisgekrönten Büchern. In «Eiserner Vorhang» dokumentierte sie die Abriegelung der Sowjetunion und des Ostblocks. In «Roter Hunger» stand Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine im Fokus. Für «Gulag», ein Standardwerk über die sowjetischen Konzentrationslager, wurde sie mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.

Wir beginnen das Gespräch mit einer Langzeitbetrachtung von Wladimir Putin, dem Mann, der den Krieg in der Ukraine vor einem Jahr vom Zaun gebrochen hat. Kurz nach seiner Machtübernahme als russischer Präsident sprach Putin 2001 im Deutschen Bundestag. Er sagte: «Russland ist eine befreundete europäische Nation. Ein stabiler Frieden auf dem Kontinent ist ein vorrangiges Ziel für unser Land, das ein Jahrhundert militärischer Katastrophen erlebt hat.»

Weltwoche: Frau Applebaum, hat Putin sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend verändert, vom potenziellen Freund zum Feind? Oder wurde der Westen durch seine freundlichen Worte damals im Bundestag geblendet?

Anne Applebaum: Schon in den 1990er Jahren, unter Präsident Jelzin, benutzten die Russen die Sprache des Imperiums, um mit den postsowjetischen Staaten zu sprechen. Der Präsident von Estland hielt 1994 eine Rede, in der er vor dem russischen Revanchismus warnte, und tatsächlich fand 2007 ein russischer Cyberangriff auf Estland statt. 2008 folgte der Einmarsch in Georgien. Die erste Invasion in der Ukraine fand 2014 statt, doch die Bemühungen um die Schaffung eines prorussischen Regimes in der Ukraine reichen viel weiter zurück. Putin war schon immer an der Wiedererrichtung des russischen Imperiums interessiert. Wir wollten es nur nicht wahrhaben.

Weltwoche: Ist Putins Besessenheit von der Ukraine mit strategischem Denken zu erklären, oder gibt es andere Gründe dafür?

Applebaum: Die Ukraine ist ein Symbol für das verlorene Sowjetimperium. Die Ukraine war die zweitbevölkerungsreichste und zweitreichste Sowjetrepublik und diejenige mit den engsten kulturellen Verbindungen zu Russland. Aber die moderne, postsowjetische Ukraine ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie versucht hat, sich der Welt der wohlhabenden westlichen Demokratien anzuschliessen – sie hat darum gekämpft. Die Ukraine hat in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur eine, sondern zwei prodemokratische, anti-oligarchische und antikorrupte Revolutionen durchgeführt. Putin will, dass die ukrainischen Demokraten scheitern, weil er will, dass die russischen Demokraten scheitern. Die Zerstörung der Ukraine ist in seinen Augen mit seinem eigenen politischen Überleben als illegitimer Autokrat verbunden.

«Die Zerstörung der Ukraine ist in Putins Augen mit seinem Überleben als illegitimer Autokrat verbunden.»

Weltwoche: Kritische Stimmen wie Professor John Mearsheimer argumentieren, dass «die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten den grössten Teil der Verantwortung für die Krise tragen». Er vertritt die Ansicht, dass «die Wurzel des Übels die Nato-Erweiterung ist, das zentrale Element einer grösseren Strategie, um die Ukraine aus der Umlaufbahn Russlands herauszuholen und sie in den Westen zu integrieren». Hat Mearsheimer recht, oder sehen Sie die Wurzeln des aktuellen Krieges anderswo?

Applebaum: Mearsheimer weiss nichts über die Ukraine und fast nichts über Russland. Die Wurzeln dieses Konflikts liegen in Putins Überzeugung, dass seine Autokratie nur überleben kann, wenn sie sich nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf Europa ausdehnt. Der russische Präsident sieht allein die Existenz eines liberalen demokratischen Staates an seinen Grenzen als Bedrohung für seine persönliche Herrschaftsform. Zweitens: Die Nato hat nicht beschlossen, die Ukraine aufzunehmen. Hätte sie das getan, hätten wir diesen Krieg vielleicht vermeiden können. Die Ukraine wurde in einem Sicherheitsvakuum zurückgelassen, und Putin glaubte, niemand würde sie verteidigen. Drittens gesteht Mearsheimer der Ukraine oder den Ukrainern keinerlei Handlungsspielraum zu: Es ist, als ob er glaubt, dass ihre Ansichten keine Rolle spielen. Dies ist eine Form des Denkens über Weltpolitik, die wir aus dem Zeitalter der Imperien gut kennen, und wir sollten alle dankbar sein, dass sie vorbei ist.

Weltwoche: In «Gulag», einer Geschichte über die sowjetischen Konzentrationslager, ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis, haben Sie Ihren Lesern Einblick in die Mentalität der Sowjetführung im Umgang mit Oppositionellen verschafft. Wie viel von dieser Mentalität ist im heutigen Russland noch lebendig?

Applebaum: Meistens ist sie in Form von Angst und Apathie noch lebendig. Die Menschen halten sich von der Politik fern, sie sind apathisch gegenüber dem öffentlichen Leben, sie glauben nicht, dass sie etwas verändern oder beeinflussen können. Das Einzige, was sie tun können, ist zu gehorchen.

Weltwoche: Seit Russlands Einmarsch auf der Krim, in Donezk und Luhansk im Jahr 2014 bemüht sich Patriarch Kyrill um die Verankerung des Prinzips «Russkij Mir», die «Russische Welt», worunter er die geistige und kirchliche Vereinigung der Ostslawen versteht. Welchen Einfluss hat Kyrill auf Putin, und was hat die russische Invasion in der Ukraine mit Religion zu tun?

Applebaum: Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass sie etwas mit Religion im eigentlichen Sinne zu tun hat. Die Religion ist nur ein weiteres Instrument, das Putin benutzt, um seinen Imperialismus zu rechtfertigen, und den Imperialismus braucht er, um an der Macht zu bleiben. Putin hat Angst vor einer demokratischen Revolution im eigenen Land, und er wird jedes Mittel und jede Idee nutzen, um sie zu verhindern.

Weltwoche: Was sollten die Ziele des Westens gegenüber der Ukraine sein? Wie könnte ein Waffenstillstand erreicht werden, und wie könnte ein Frieden zwischen der Ukraine und Russland aussehen?

Applebaum: Es gibt nur eine Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden – und ich meine für immer, nicht nur für ein paar Monate: Das russische Regime muss begreifen, dass die Invasion ein Fehler war. Sie müssen auch begreifen, dass sie die Ukraine niemals erobern werden. Jede andere Lösung – ein vorübergehender Waffenstillstand oder ein Abkommen über die Abtretung von Gebieten –birgt das Risiko, dass der Krieg zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt wird, dass die Russen einige Monate oder Jahre abwarten und dann die Invasion wiederaufnehmen. Und natürlich wird der russische Staat weiterhin Ukrainer in den besetzten Gebieten verhaften und ermorden, und der Widerstand in diesen Gebieten wird weitergehen, so dass weiterhin Menschen sterben werden. Das Einzige, was wir jetzt tun können, ist, der Ukraine weiterhin bei der Rückeroberung ihres Territoriums zu helfen: nicht um eine Pattsituation zu erreichen, sondern um einen Sieg zu erringen. Die genauen Grenzen der Ukraine werden durch die militärischen Fortschritte im Feld bestimmt.

Erschienen in Weltwoche Nr. 07/23

Die 3 Top-Kommentare zu "«Putin wird die Ukraine niemals erobern»"
  • buelope

    Typisch die westliche Doktrin! Eine Expertin eben. Russland hat meines Wissens nie eines der westlichen Länder unterjocht. Anders die Sowietunion.

  • werner.widmer

    Die Apfelbaum hat eine Blendung getroffen. Putin wollte nie die UA erorbern! Ich kenne keine solche Quelle. Es gibt auch kein "Nie Mehr". Wer Mersheimer folgt, weiss was er kennt; auch global.

  • rolf s

    Die erneute Veröffentlichung älterer Artikel der Weltwoche ist interessant. Wie steht Frau Apfelbaum heute zu ihren Aussagen? Was würde sie heute anders einschätzen?