Dominique Fortier: Städte aus Papier. Vom Leben der Emily Dickinson. Luchterhand. 187 S., Fr. 29.90

Der Mensch ist einer, der in die Welt geworfen ist. Mit dem Verlassen des Uterus findet er sich in einem Aussen wieder, das nichts gemein hat mit dem vormaligen Geborgenheitsraum. Diese Ur-Erfahrung beschrieb der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal mit dem Satz: «Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.» Wäre es da nicht besser, zu fliehen? Doch wohin? Und lockt nicht zugleich das noch Unbekannte? Vielleicht ist Leben vor allem und zuallererst ein stetes Oszillieren zwischen Weltflucht und Weltsucht. Nur Elfenbeinturm-Figuren wie etwa Emily Dickinson machen den Anschein, aus dieser Pendelbewegung ausgestiegen und der Welt endgültig abhandengekommen zu sein. Allein: Stimmt das?

Keine Fremdbestimmung. Schon gar keine Pflicht gegenüber Gott – das Frömmlerische war ihr zuwider.

In ihrem letzten Lebensdrittel verliess die im Jahr 1830 geborene Emily Dickinson, die entschieden und ganz gegen den Zeitgeist der Ehe und dem Mutterdasein trotzte, kaum mehr ihr Zimmer, das sie in ihrem Elternhaus in Amherst, Massachusetts, bewohnte. Ausschliesslich in Weiss gekleidet, überliess sie sich dort der über sie hereinbrechenden Flut der Worte – ihre Produktivität war erstaunlich. «Sie versteckt sich nicht, zieht sich nicht zurück. Sie ist im Herzen der Dinge, tief in sich selbst versunken, im Gleichgewicht zwischen den Bienen im Garten und den zwei Bären, dem Grossen und dem Kleinen, die bei Einbruch der Nacht am Himmel erstrahlen [. . .]», so schildert Dominique Fortier den Zustand, in dem sich die grosse, geheimnisvolle Dichterin befunden haben könnte. Und es könnte auch wahr sein, dass es ein «vollkommenes Leben» gewesen ist, «rund und voll wie ein Ei». Und dass «die Welt an Intensität gewonnen hat, seit sie sie von der Höhe ihres Zimmers aus betrachtet».

Die Konjunktive sind nicht zu vermeiden, sind vielmehr zwingend, denn die Geschichte der Emily Dickinson ist eine, in der man weitestgehend auf Spekulationen angewiesen ist – zu wenig ist bekannt und verbrieft. Auch Fortier, die zu den wichtigsten Stimmen der frankokanadischen Literatur zählt, bleibt in «Städte aus Papier» fast nur, eine weisse Leinwand aufzuspannen, auf der sie, verknüpft mit dem wenigen, was man über Emily Dickinson weiss, Projektionen ablaufen lässt. Ihre biografische Annäherung an eine aussergewöhnliche Frau, die in weltliterarischer Reihung mit Edgar Allan Poe und Walt Whitman steht, gründet nicht ausschliesslich, aber vor allem auf intuitiven, episodisch gefassten Atmosphären, die sich zu warmen, poetischen Bildern verdichten.

Das liest sich behaglich. Schon bald glaubt man, gemeinsam mit der präsenten Erzählerin, in einem alten Fotoalbum zu blättern und dabei in Erinnerungen an eine Verwandte zu schwelgen, die einem besonders lieb und teuer war. Sieh mal Emily, wie sie vom Kuchen nascht, der in der Küche abkühlt. Und schau, hier sammelt sie Blüten für ihr Herbarium. Und dort liegt sie, umringt von ihren Geschwistern, rücklings im Schnee. Und wieder: Es lässt sich nicht genau sagen, wie es gewesen ist. Aber: Muss es das? Wahrheitsfindung wird meist überschätzt, allein deshalb, weil etwas viel schwerer wiegt, wie einst die amerikanische Intellektuelle Joan Didion in banaler Wucht konstatierte: «Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.»

Wie jemand zurückgezogen in einem Zimmer lebt, lässt sich nicht nur auf eine Weise schildern. Vielleicht ist alles, was sich darüber denken lässt, ohnehin ein Irrtum. Denn: «Es ist nicht wahr, dass sie nur noch ihr Zimmer hat. Sie hat Starengesang, tintenschwarze Novembernächte, Hagelschauer im Frühling, vertraute Stimmen, die zusammen mit dem Geruch von Brot im Ofen aus dem unteren Stock heraufdringen . . .» Wie eigentlich lässt sich die selbstgewählte Isolation begründen? Auch Fortier fahndet, wie viele vor ihr, nach einem Wendepunkt, wird aber ebenso wenig fündig: keine Tragödie, kein Trauma, keine Offenbarung.

Es ist wohl mit Emily Dickinson so gekommen, weil sie sich radikal für sich selbst entschieden hat. Keine Fremdbestimmung. Schon gar keine Pflicht gegenüber Gott – das Frömmlerische war ihr zuwider. Einzig eine, im kantischen Sinne, Pflicht gegenüber ihrer Begabung. Von ihrem Talent wussten allerdings die wenigsten Zeitzeugen – zu Lebzeiten veröffentlichte sie lediglich sieben ihrer fast 1800 Gedichte.