Loch 6 in Andermatt, ein Par 4, 380 Meter. Man steht auf über 1500 Metern über Meer, Libellen fliegen, man hört Braunkehlchen singen und denkt an Bernhard Russi, es ist sein Lieblingsloch. Weil man bei jedem Schlag eine Aussicht auf Andermatt hat, sein Dorf, seine Heimat. Weil das Loch «vom Charakter her», wie er sagt, «wie eine Abfahrtspiste ist». Und dass man den Ball nicht mittig spielen soll, sondern etwas rechts.

Man müsste spielen, wie eine Libelle fliegt, denkt man. Der Flug der Libelle ist Leichtigkeit und Eleganz. Die amerikanische Golferin Nelly Korda kommt ihm am nächsten. Sie schwingt so elegant, wie Russi einst Ski gefahren ist, und vielleicht deshalb schaut sich Russi immer wieder ihren Swing auf Video an.

Es ist Januar in Andermatt, das Dorf voller Amerikaner, die kommen, weil sie mit ihrem Epic-Skipass hier fahren können. Ein paar Schläge mit einem Driver entfernt liegt der Andermatt Swiss Alps Golf Course unter einer Schneedecke. Russi ist dessen Präsident, zwanzig Runden jährlich spielt er dort, das ist nicht viel, nicht wenig, aber er brauche auch noch Zeit für anderes. Anderes, das ist das Zu-Berge-Gehen. Russi befindet sich kurz hinter der Ziellinie seiner Karriere, er ist, wenn man so sagen möchte, am aktiven Ausschwingen.

Nelly Korda schwingt so elegant, wie Bernhard Russi einst Ski gefahren ist.Wir sitzen im «Radisson»-Hotel an der Bar, später wird er das Video von Nelly Korda zeigen und schwärmen. Jetzt trinkt er Tee, kommt gerade von einer Massage und spricht über Andermatt, den Golfplatz, die Schönheit des Urserentals; es sind Geschichten, die aus seinem Mund manchmal klingen wie aus einem Märchenbuch.

Lange vergessen

Dort, wo der ägyptische Unternehmer Samih Sawiris ein Luxushotel gebaut hat, eines der schönsten der Welt, und einen Golfplatz, einen der faszinierendsten der Welt, und das einst ein wenig im Schatten der Welt dämmernde Andermatt in Richtung eines kleinen Schlaraffenlandhimmels befördert hatte, dort hätte auch gar nichts sein können ausser Wasser.

1944 wollten die Centralschweizerischen Kraftwerke das ganze Urserental mit einer 208 Meter hohen Staumauer fluten; Andermatt wäre versunken, Hospental und Realp und 254 Häuser, 2000 Menschen hätten umziehen müssen, 1300 Rinder und 1900 Schafe und Ziegen auch. Die geplante Staumauer zerschellte dann an der Härte der Urner Köpfe, es gab Krawall, das Militär griff ein. 1951 kapitulierten die Fantasten der Strombranche.

Anstatt eines Stausees hat Andermatt ein Meer, die Einheimischen nennen es so, es liegt auf dem Golfplatz, zwischen dem Clubhouse und der Driving Range. Es ist an der Oberfläche ein prächtiges Stück Sumpfmoor, darunter war es lange Jahre das Abfalldepot des Dorfes. Fahrräder versanken darin, Skis. Man läuft heute auf kleinen Wegen in surrender Ruhe über und durch das Meer von Andermatt, hin zur Driving Range. Ich kenne keinen schöneren Weg zu einer Driving Range. Ausser vielleicht wenn es regnet.

Viele kannten Andermatt vom Durchfahren, vom Hörensagen und wegen Bernhard Russi.Andermatt ist ein Dorf, das lange ins Vergessen versank; ein Garnisonsdorf, ein Waffenplatz zu Füssen des Reduits, ein bisschen Skiort im Winter, viele kannten es vom Durchfahren auf der Gotthardroute, vom Hörensagen und wegen Bernhard Russi. Vor vielleicht dreissig Jahren wurde jene Weiche gestellt, die Andermatt später aus seinem Dämmerzustand befreien sollte. Realp, das kleine Dorf hinter Andermatt, war gerade dabei, sein Leben zu verlieren. Es gab immer weniger Bauern, die Einwohnerzahl ging zurück, 170, 150, noch weniger, und das Dorf nahm sich vor, sich selbst zu helfen.

Samih Sawiris’ Plan

Russi half mit. Der Ausbau des Wintersports war kein Thema, Realp setzte auf den Sommer, auf Golf. «Das Gelände war optimal für einen 9-Loch-Platz», erzählt Russi. Da seien überall Terrassen gewesen, angelegt von den Bauern, um im Zweiten Weltkrieg Traugott Wahlens Kartoffelanbauschlacht wahr werden zu lassen. «Wir schufen im Grunde nur Abschlagszonen und Greens.» Das war der Beginn des Golfs in Andermatt. Und der Anfang vom Aufstieg des Urserentals.

Und dann kam der Mann aus dem Land der Pharaonen, Samih Sawiris. Schon länger war er auf der Suche nach einer Million Quadratkilometer in der Schweiz, um darauf ein Luxushotel zu bauen. In Andermatt fand er sie. Mit Russi lief er auf den Bäzberg, sah auf das Tal, das Dorf, den einstigen Waffenübungsplatz. Sawiris schwärmte von der guten Luft, die er durchaus verkaufen könne, die so ganz anders sei als die gelegentlich fast uneinatembare in Ägypten, sie sprachen darüber, dass die Welt wärmer werden würde und dass Sommerdestinationen mehr Zukunft hätten als Winterdestinationen. 2005 war das.

Sawiris mag das Wort «Vision» nicht, er sagt lieber «Plan» dazu, und zusammen mit Russi entwickelte er einen. Sie sahen einen Golfplatz unten im Tal, Sawiris sah den besten der Welt, auf dem all die grossen Turniere stattfinden sollten, Russi sah die Realität. Entstanden ist einer der schönsten 18-Loch-Golfplätze, ein grossartiges Kleinod. Das Tal besteht heute aus einem Drittel Landwirtschaft, einem Drittel Biosphäre und einem Drittel Golf. Das einzig irritierende am Golfplatz ist der Wind, der den Berg hinunterrauscht und die Ballkontrolle erschwert. Aber wie sagt Russi: «Das ist für uns hier kein Wind. Das ist Airconditioning.»

Das meisterwähnte Loch der Anlage, die von oben aus betrachtet aussieht wie eine schwimmende Wasserschildkröte, ist das dritte (Par 4, 269 Meter). Man steht am Abschlag, 150 Meter vor einem steht eine Mauer, eine kleine Festung fast, ein bisschen unüberwindlich sieht sie aus. Viele nehmen hier den Driver, Russi vermutet, aus Gewohnheit, einfach, weil da Par 4 stehe, doch ein Holz fünf ist viel geschickter, und wenn der Schlag gelingt, fühlt man sich ein bisschen wie der Eroberer von Andermatt.

Als Sawiris’ Geschäftssinn und sein Herz im Einklang schlugen, die ersten Pläne gezeichnet waren, die Gerüchte im Dorf die Runden machten, war es an der Zeit, in der Mehrzweckhalle die Urner Grinden davon zu überzeugen. Es kam zu einer öffentlichen Präsentation, Standing Ovations von den meisten und zum inzwischen legendären Sawiris-Satz: «Ich liebe Andermatt, ich komme gerne hierhin, aber ich kann eure Probleme nicht lösen. Das können wir nur gemeinsam.»

7800 Runden pro Jahr

«Das ganze Projekt», sagt Russi heute, «war damals für die Leute nicht einfach zu verstehen.» Er selbst war noch nicht an Bord von Sawiris’ Ideenschiff für Andermatt. «Komm lieber aufs Schiff, Bernhard», riet Sawiris, «es werden dich sowieso alle darauf ansprechen, und so kannst du was bewirken.»

Auf den Zonenplan hin, erinnert sich Russi, der mit 98 Prozent angenommen wurde, gab es drei, vier Einsprachen, «alle auf vorgedruckten Formularen festgehalten». Hauptsächlich Umweltverbände waren dagegen und ein, zwei Ewiggestrige. «Wir sind dann auf die Landwirte zugegangen, auf den schwierigsten zuerst. Was da alles genau gelaufen ist, an Versprechungen auch, ist nicht ganz klar. Aber es hat funktioniert. Geholfen hat auch, natürlich, dass wir von Anfang an die Umweltverbände mit an Bord geholt haben.»

Zwei Jahre wurde gebaut, 2016 war die Eröffnung der ersten neun Löcher, es kamen weitere hinzu, das Clubhouse; dem Platz wohnte von Anfang an ein Zauber inne, der nie nachliess. Kaum woanders hat man das Gefühl, beim Golfspiel so in der Natur zu sein wie bei diesem Platz. Vielleicht ist das mit der Grund, weshalb auf ihm jährlich 7800 Runden gespielt werden. Da und dort nervt das Biotopische links und rechts der Fairways auch, natürlich. Wer seinen Schlag verzieht, dessen Ball ist für immer verloren. Wie sagt Russi: «Du musst halt auf dem Platz spielen.»

Russi spielt kein Golf im Winter. So wie er im Sommer nicht Ski fährt. Es ist eine Art Selbstschutz.Es ist Abend geworden im «Radisson» und leider noch nicht Frühling, um auf diesem Platz zu spielen, für mich zum zweiten Mal nach dem ersten Weltwoche-Open letzten Juni. Diesem Course, der seinen Weg und seine Geschichte gefunden hat, eine Geschichte, in der alles liegt, was Golf und Leidenschaft erzählen können.

Russi spielt kein Golf im Winter. So wie er im Sommer nicht Ski fährt. Es ist eine Art Selbstschutz. «Fange ich im Winter an auf der Driving Range, kann ich nicht nur einmal gehen, ich muss dann immer wieder hin. Da fängt das Programm an zu laufen. Und alles andere würde liegen bleiben.» Vielleicht, so erwägt er, geht er mal ins Unterland in eine Indoor-Anlage. Um seinen Schwung ästhetischer aussehen zu lassen, damit er sich jenem von Korda annähert.

«Wie lange spielst du schon, Bernhard?» – «Seit November 1977.» Wahrscheinlich würde er für eine Antwort länger brauchen, fragte man ihn nach dem Jahr, in dem er geheiratet hat. «Damals im November habe ich meinen ersten Ball geschlagen.»

Russi schlug Bälle, bis er blutete

Es war in Lausanne und Russi Weltmeister und Olympiasieger, und er war eingeladen. Der Klub in Lausanne wollte ein bekanntes Schweizer Sportlergesicht, jemanden, der Golf spielt und so einen Boom auslöst. Russi ging auf drei Löcher mit Yves Hochstetter, dem heutigen Präsidenten des Lausanner Golfklubs. Hofstetter stand am Abschlag und sagte zu Russi, er müsse den Ball mit einem Fade spielen, damit er nach 200 Metern rechts abdrehe, dort sei das Grün versteckt. Und Hofstetter schlug. Es war ein Schlag, den Russi nie vergessen hat. «Ich bekomme heute davon noch Gänsehaut, wie der Ball flog, gerade aus, dann rechts, unglaublich.»

Danach ging es auf die Driving Range, zwei drei Bälle nur waren geplant, die andern gingen zum Aperitif, Russi sagte, er käme gleich. Er schlug Bälle, so viele, wie vielleicht Perlen im Champagner aufsteigen, immer noch einen und noch einen. Irgendwann verfärbte sich sein weisser Handschuh rot, er blutete, ging rein ins Clubhouse, wo die andern schon den ersten Gang gegessen hatten.

Er bekam ein Buch geschenkt, eines, in dem die Regeln waren und Bilder, wie man schwingt. Bei jedem Skirennen hatte er das Buch dabei, und abends stand er vor dem Spiegel und vollführte Probeschwünge. Als die Skisaison vorbei war, ging er nach Hawaii, sozusagen in Driving-Range-Isolationshaft. Seither ist Russi Golfer.

Nicht mehr lange, und der Schnee wird weg sein. Der Boden wird lebendig werden, die Vögel zurückkommen, die Libellen ihren Larven entschlüpfen. Und man selbst wird dastehen, am ersten Loch, der Wind wird den Berg hinunterwehen. Die Hüfte wird sich in Richtung Andermatt drehen, die linke Schulter sanft in Richtung Boden, die Arme gehen nach oben, die Augen ruhen auf dem Ball. Und dann fliegt man, wie eine Libelle, wenn man Glück hat.