Energie ist unser Lebenselixier. Steht sie nicht zur Verfügung, stirbt die Wirtschaft und damit das Herz jeder Gesellschaft. Das ist eine Binsenweisheit, und eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die politischen Entscheidungsträger in den Nationalstaaten und der EU sie zur Grundlage ihres Handelns machen. Die Sicherung der Energieversorgung muss stets und in jedem Fall gewährleistet sein. Alles andere ist nachrangig. Aber in vielen Ländern der EU sowie in Brüssel hat man andere Prioritäten gesetzt. Es gibt nach wie vor hochfliegende Pläne für das Energiesystem, bei denen die Sicherheit der Energieversorgung nur noch eine wenig beachtete Nebenbedingung ist. Dieses Energiesystem soll nachhaltig sein, also frei von Atomkraft (vor allem in Deutschland) und frei von fossilen Brennstoffen.

Der Klimaschutz und oft die Angst vor der Atomenergie bestimmen das energiepolitische Denken und beflügeln die Fantasie. Viele träumen von einem Europa, das sich nur mit erneuerbaren Energien versorgt und gleichzeitig an den Weltmärkten mit dem Verkauf klimafreundlicher Technologie den Wohlstand des Kontinents sichert. Und jetzt stehen wir vor einem Winter und wissen nicht, ob wir genug Energie haben werden, um ihn ökonomisch und sozial überleben zu können. Was ist schiefgegangen? Und was können wir tun?

Natürlich kann man alle Schuld Putin in die Schuhe schieben, der mit seinem Gas-Boykott tatsächlich der Auslöser für die Kalamität ist, in der wir gerade stecken – die einen mehr (Deutschland zum Beispiel), die anderen weniger (die Schweiz zum Beispiel). Aber das wäre viel zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es so, dass ein exogener Schock – der Krieg in der Ukraine – auf eine Energiepolitik getroffen ist, die planlos und oft genug ohne Sinn und Verstand an den europäischen Energiesystemen herumgedoktert hat. Man sieht dem Energiesystem Europas kaum an, dass es die Energie für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bereitstellen soll.

Verwirrung in der Energiepolitik

Sicher, die Strommärkte und auch der Gasmarkt sind liberalisiert worden. Das ist aber eigentlich auch schon alles. Von einer gemeinsamen Strategie, die den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit gleichrangig als Ziele verfolgt, kann keine Rede sein. Vielmehr macht jeder sein Ding: Frankreich setzt auf die Atomenergie. Deutschland versucht sich durch Wind und Sonne mit Energie zu versorgen und schaltet die Atom- und die Kohlekraftwerke ab. Italien setzt vor allem auf Gas, und Europa hat den Energiesektor in den EU-ETS integriert, den europäischen Handel mit Emissionszertifikaten.

Wie tief die Verwirrung geht, zeigt sich gerade am Umgang mit dem letztgenannten Instrument. Wir wissen inzwischen, dass der EU-ETS eines der erfolgreichsten Klimaschutzinstrumente dieser Erde ist. Jedenfalls dann, wenn man die vermiedene Menge CO2 und die Kosten der Vermeidung als Massstab heranzieht. Bis 2018 wurden in diesem Handelssystem mehr als 570 Millionen Jahrestonnen vermieden und das bei Kosten von fünf bis acht Euro pro Tonne. Das für 2030 ausgegebene Reduktionsziel von minus 40 Prozent wurde bereits 2021 erreicht! Das hat Deutschland freilich nicht davon abgehalten, seine Klimaschutzpolitik vollständig auf den Energiesektor zu konzentrieren, obwohl dieser Sektor durch den ETS bereits kosteneffizient reguliert ist. Die deutsche Energiewende sieht vor, die Stromerzeugung vollständig auf die erneuerbaren Energien zu verlagern.

Die hohen Gaspreise setzen die richtigen Knappheitssignale und erzwingen nötige Einsparungen.

Die Zusatzkosten, die durch den Ausbau von Wind- und Solarenergie entstehen, belaufen sich auf jährlich 25 bis 30 Milliarden Euro. Und das, ohne dass dadurch auch nur eine einzige Tonne CO2 eingespart wurde, denn jede nationale Klimaschutzmassnahme im Energiesektor ist bei gleichzeitiger Existenz eines Emissionshandels wirkungslos: Die nationalen Zusatzmassnahmen reduzieren nicht die Anzahl der in Europa verfügbaren Emissionsrechte. Sie führen nur zu dem berühmten Wasserbetteffekt, bei dem sich die Flüssigkeit unter der Oberfläche selber ihren Weg sucht: An einer Stelle wird zwar weniger emittiert, aber die eingesparten Rechte werden an anderer Stelle genutzt, so dass sich an den europäischen Gesamtemissionen nichts ändert.

Klimapolitisch war die deutsche Energiewende bestenfalls wirkungslos. Aber energiepolitisch hat sie dazu geführt, dass der gleichzeitige Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom beschlossen wurde, was die Energielandschaft erheblich verändert hat. Man setzt vollständig auf die heimischen erneuerbaren Energien und benutzt die Verstromung von Gas als Brückentechnologie, mit der man die Volatilität der Einspeisung der Erneuerbaren und die unvermeidlichen Dunkelflauten ausgleichen kann.

Eine fatale Entscheidung, die Deutschland nicht nur die weltweit höchsten Strompreise eingebracht hat (schon vor dem Ukraine-Krieg), sondern die Gaslieferungen aus Russland zu einem fast unersetzbaren Bestandteil der Energiewende werden liess. Jetzt ist guter Rat teuer.

Hohe Preise kurzfristig aushalten

Was ist zu tun in Deutschland, der Schweiz, in der EU? Kurzfristig gilt: Alles ans Netz, was uns unabhängig vom Gas macht und die Gaskraftwerke aus dem Preissystem der sogenannten Merit-Order verdrängt. Dieses System sorgt nämlich dafür, dass das teuerste Kraftwerk den Strompreis bestimmt. So lange das Gaskraftwerke sind, bleibt der Strompreis astronomisch hoch. Dazu müssen die Deutschen ihre Atomangst überwinden und die Schweizer noch stärker auf die Wasserkraft setzen.

So hart es klingt – wir müssen die hohen Gaspreise in der kurzen Frist aushalten. Sie setzen die richtigen Knappheitssignale und erzwingen dadurch Einsparungen, die notwendig sind, um mit der Knappheit umgehen zu können. Mit gezielten Einkommenstransfers und Unterstützungszahlungen lässt sich die Reduktion der Gasnutzung erreichen, ohne einkommensschwache Haushalte zu sehr zu belasten. Wenn es ausserdem gelingt, kurzfristig neue Gasquellen zu erschliessen, sollten wir durch den Winter kommen.

Langfristig bedarf es einer Neugestaltung der europäischen Energiepolitik, die endlich ernsthaft versuchen muss, Versorgungssicherheit und Klimaschutz zu wettbewerbsfähigen Preisen zu realisieren. Zwei zentrale Weichenstellungen sind dafür notwendig: Erstens müssen die Mitgliedstaaten der EU auf kostspielige und wirkungslose Alleingänge verzichten und den Klimaschutz konsequent mit Hilfe eines umfassenden Emissionshandels angehen. Zweitens muss die Dekarbonisierung durch den Übergang zu einer wasserstoffbasierten Wirtschaft begleitet werden. Es ist gewissermassen ein Glücksfall, dass sich diese Strategie relativ leicht mit dem Aufbau einer krisenfesten Versorgungsinfrastruktur verbinden lässt.

Exlusive Versorgung Europas

Folgendes Szenario mag das verdeutlichen: Gehen wir davon aus, dass Europa sich darauf verständigt, den Einkauf und die Bevorratung von Gas zu einer Sache der EU zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn Europa verfügt über erhebliche Lagerkapazitäten. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, erfolgt der Einkauf von Gas diversifiziert in solchen Ländern, die einerseits über hohe Gasreserven verfügen, andererseits aber auch Zugang zu erneuerbaren Energien haben, weil sie beispielsweise im Sonnengürtel der Erde liegen. Die Golf-Region kommt dafür in Frage, aber auch Länder wie Argentinien.

In diesen Lieferländern baut die EU eigene Verarbeitungs- und Transportkapazitäten auf, die eine exklusive Versorgung Europas sicherstellen. Langfristig werden diese ergänzt durch Anlagen, die aus Solarenergie und CO2, das der Atmosphäre entzogen wurde, Wasserstoff und Wasserstoffderivate produzieren. Beides kann mit der gleichen Infrastruktur gelagert und transportiert werden, die zuvor für das fossile Gas gebaut wurde. So verbindet sich in einer gemeinsamen europäischen Anstrengung die Sicherung der Versorgung mit einer Dekarbonisierung der Primärenergie. Europa wird 2022 etwa tausend Milliarden Euro mehr für Energie ausgeben als 2021. Es lohnt sich also, in Infrastruktur zu investieren, die vor solchen Preiseffekten schützt. Die Schweiz hat mit dem Beitritt zum EU-ETS bereits einen richtigen und wichtigen Schritt getan. Eine Beteiligung an der Realisierung des oben beschriebenen Szenarios könnte ein weiterer sein.

Joachim Weimann ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg.

Die 3 Top-Kommentare zu "Wie wir den Winter ökonomisch und sozial überstehen"
  • hansj.

    „ … alle Schuld Putin in die Schuhe schieben, der mit seinem Gas-Boykott tatsächlich der Auslöser für die Kalamität ist“ hab ich da etwas verpasst? War es nicht so, dass man Russland zuerst die Bankverbindungen gekappt hat und dann die daraus folgende Zahlungen in Rubel verweigerte? Glaubt denn wirklich jemand Russland verschenkt seine Rohstoffe an Länder, die auch noch gegnerische Kriegspartei sind? Ausserdem, wo ist denn die Turbine für NS1? Aber das ist ja alles sowieso obsolet…

  • gonzo der grosse

    Die Preise für Strom wurden bewusst mit Kalkül künstlich hochgetrieben. Wer noch glaubt, dass die Hälfte der französischen AKW gleichzeitig in Revision gehen mussten, glaubt echt an den Storch. Jetzt auf einmal heisst es, die Revisionen können früher beendet werden und man fahre die AKW's für den Winter auf Volllast. Kein produzierender Unternehmer fährt die Hälfte seines Maschinenparks runter, wenn sein Produkt grosse Nachfrage hat bzw. die EU auf Strom aus Frankreich angewiesen ist.

  • Schweizer-im-Ausland

    Ich verstehe die Aversion vom Gas nicht. Es ist bei der Verbrennung sehr sauber, speziell mit den neuen Heizungen. Ich habe eine Gasheizung und da kommt nur Wasserdampf raus! Auch muss nicht mit LKW's oder andere Transportmittel das Gas befördert werden, denn die Verteilung wird via Leitungen getätigt. Auch die Gasgewinnung benötigt nicht viel Ressourcen. Kurzum, Gas ist das umweltfreundlichste was wir zur Zeit haben können. Leider wird es unter dem Deckmantel der Fossilen Energie, gebrandmarkt.