Lwiw

Den Anfang dieses Textes schrieb ich in mein Notizbuch, im Keller. Es hatte plötzlich Luftalarm gegeben. Sirenen warnten lautstark vor der Gefahr eines russischen Raketenangriffs. Wir wissen, was wir dann zu tun haben: Computer abschalten, Gas abstellen und auf Teufel komm raus in den Keller unseres neunstöckigen Gebäudes rasen. Auch dort sind wir zwar nicht wirklich geschützt, weil das nur ein behelfsmässiger Luftschutzraum ist. Sollte unser Haus getroffen werden, könnten wir unter den Trümmern sterben. Aber es ist dort immer noch viel sicherer als in unserer Wohnung im neunten Stock, wo ich mit meinem Mann und unserer Tochter lebe.

Lügen und Hass, wie immer

In meiner Heimatstadt Lwiw, die auf Deutsch Lemberg heisst, heulen die Luftschutzsirenen fast jeden Tag auf, manchmal drei- bis fünfmal, tagsüber und in der Nacht. Das jagt uns jedes Mal Furcht ein, was extrem zermürbend ist. Wobei wir in einer relativ sicheren Stadt leben. Wir können uns deshalb gar nicht vorstellen, mit welchen Ängsten und mit welchem Leid die Menschen in den Städten und Dörfern im Osten, im Norden und im Süden der Ukraine leben, wo die Raketen viel häufiger einschlagen als in unserer Region. Dort sind immer wieder zahlreiche Todesopfer zu beklagen, müssen Verletzte behandelt werden, es kommt zu Schäden an Häusern.

Der Tag, an dem ich diesen Text zu schreiben begann, der 14. Juli, war wieder so ein tragischer Tag für die Stadt Winnyzja und ihre 370 000 Einwohner. Russland zielte mit seinen mörderischen Raketen auf zivile Objekte im Stadtzentrum. Vierundzwanzig Menschen starben, darunter drei Kinder. Wie üblich frohlockten die russischen Propagandamedien und die sozialen Medien, dass «die Nazis eliminiert» worden seien. Und in Bezug auf die Ermordung der unschuldigen Kinder kommentierten sie: «Diese Ukrainer haben es verdient, schade, dass es so wenig Tote gab.»

Lügen und Hass, wie immer.

Das wahre, faschistische Gesicht Russlands und der Russen ist entlarvt worden. Schauen Sie es sich an.

Solche zynischen und menschenverachtenden Sätze sind für uns allerdings nicht neu.

Im Jahr 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine. Die Russen marschierten dreist auf der Krim und in einem grossen Teil der Donbass-Region ein. Die Ukraine war damals schwach, hatte viele ungelöste Probleme – vom Staatshaushalt über die Armee bis hin zu den prorussischen Beamten in den staatlichen und lokalen Amtsstellen. Zudem liessen uns die Länder im Stich, die 1994 im Budapester Memorandum Sicherheitsgarantien für uns unterzeichnet hatten. Daher war die Ukraine damals nicht in der Lage, sich gegen den viel stärkeren Feind zu behaupten und ihre Gebiete zurückzuerobern.

Jetzt, acht Jahre später, sind wir stärker und wehren uns gegen den umfassenden Angriffskrieg, den Russland am 24. Februar begonnen hat, weil es damals straffrei davongekommen war. Seit fast fünf Monaten zerstört es ein friedliches Land, dessen Städte, Dörfer, Häuser und Fabriken, beschädigt Krankenhäuser, Universitäten, Schulen und Museen. Russland hat bereits 20 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt. Die Russen bringen Ukrainer um. Sie töten Kinder. Sie vergewaltigen, deportieren und stehlen. Sie rauben Fabriken aus, nehmen uns Maschinen, Metall und Getreide weg. Aber wir kämpfen. Aufgeben ist für uns keine Option.

Die Ukraine musste immer wieder Einmischungen und Unterdrückungen durch die russische Seite erdulden, künstlich geschaffene Hungersnöte, eine gezielte Ausschaltung der ukrainischen Intelligenz, Verbote der ukrainischen Sprache oder Diebstahl von Kulturgütern. All diese Verbrechen zielten auf die Schwächung und Unterwerfung der ukrainischen Nation ab, was in der Ermordung von Millionen von Ukrainern gipfelte. Russland strebte nach vollständiger Kontrolle, erhob Strafsteuern, verbot den Handel mit Europa, hinderte uns an der Entwicklung von Bildung und Wissenschaft, liquidierte die ukrainische Kirche und Bildungseinrichtungen, verbot das Drucken ukrainischer Schriften, verbrannte ukrainische Bücher, führte bei uns zwangsweise die russische Sprache ein, beschlagnahmte Teile ukrainischer Gebiete und besiedelte diese mit Russen.

In der Sowjetunion hatte das System. Alle Nationen, die zur UdSSR gehörten, wurden zielgerichtet assimiliert, um ein einziges homogenes sowjetisches (sprich: russisches) Volk zu schaffen. Dazu gehörten die grausame Unterdrückung nationaler Bewegungen, Verhaftungen, Beeinflussungen bei Gerichtsprozessen und immer wieder Deportationen. Derzeit erleben wir das wieder, es findet direkt vor unseren und Ihren Augen statt. Jede ukrainische Familie hat ihre eigene schreckliche Geschichte darüber, wie ihre Verwandten gefoltert oder zwangsdeportiert und ihr gesamter Besitz enteignet wurden. Auch einige meiner Verwandten wurden verhaftet und für fünf bis zehn Jahre nach Sibirien deportiert, wobei sie ihren gesamten Besitz verloren. Die Ukrainer haben seit Jahrhunderten für ihre Unabhängigkeit gekämpft. Ein solcher Kampf wird in der ganzen Welt respektiert, nur die Russen bezeichnen unsere Patrioten als Nazis.

Putins gewachsener Appetit

Wir werden bis zum Äussersten gehen, wir werden mit aller Kraft kämpfen, bis wir gewinnen.

Heute begeht ein totalitärer, undemokratischer Staat ohne Meinungsfreiheit, in dem die Menschenrechte nicht beachtet werden, einen Völkermord an der ukrainischen Nation im Zentrum Europas. Die Ukraine steht in Flammen, und die Ukrainer sind wütend. Diesmal können wir unter keinen Umständen kapitulieren und das Problem der Koexistenz mit einem terroristischen Nachbarn unseren Kindern überlassen. Wir werden bis zum Äussersten gehen, wir werden mit aller Kraft kämpfen, bis wir gewinnen.

Der Krieg zwischen unseren Ländern ist alt. Er hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Formen angenommen. Aber beim aktuellen Krieg geht es um unsere Existenz. Das Ziel Russlands ist die Zerstörung der ukrainischen Identität und die Wiederherstellung seines Imperiums. Das Ziel der Ukraine ist es, ihre 1991 errungene Unabhängigkeit zu bewahren. Die Ziele Russlands und diejenigen der Ukraine könnten widersprüchlicher nicht sein. Daher ist ein Waffenstillstand unmöglich. Die Ukraine muss und wird siegen, weil der Aggressor bei uns eingefallen ist. Der Preis für unseren Sieg ist zwar in der Tat hoch, schon jetzt hat jeder Ukrainer Verwandte, Freunde oder Bekannte beerdigt. Aber uns bleibt keine Wahl. Die Ukraine ist geeinter denn je.

Ein Viertel der Ukrainer hat bei den Präsidentschaftswahlen vor drei Jahren nicht für den damals völlig unerfahrenen Wolodymyr Selenskyj gestimmt (auch ich nicht), weil sie an seiner Fähigkeit zweifelten, Russland zu widerstehen, insbesondere in Kriegszeiten. Wir hatten uns in ihm getäuscht. Er hat uns überrascht. Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir Ukrainer nicht die Art von Menschen sind, die es zulassen würden, dass ihr Präsident kapituliert. Und nun applaudiert die Welt dem Präsidenten der furchtlosen Nation und unterstützt sie, indem sie uns Rüstungsgüter und humanitäre Hilfe zukommen lässt. Zudem verhängen viele Nationen Sanktionen gegen Russland, weil sie begreifen: Russland stellt eine Bedrohung für die ganze Welt dar.

Russland betrachtet die Welt immer noch durch die Brille des Imperialismus. Wladimir Putin hat sich deshalb das irrsinnige Ziel gesetzt, das Imperium in seinem grösstmöglichen Umfang wiederherzustellen. Fast alle ehemaligen Republiken der Sowjetunion werden heute von Moskau kontrolliert, mit Ausnahme der drei baltischen Staaten, die es geschafft haben, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion recht schnell der Europäischen Union und der Nato beizutreten. Die Ukraine war stets – und ist es bis heute – der widerspenstigste Staat.

Sollte Putin schliesslich die Ukraine erobern, wird dies den Weg für Russland ebnen, seinen früheren Einfluss in Osteuropa zurückzuerobern. Denn mit jeder seiner aus Moskaus Sicht erfolgreichen Militäroperationen ist Putins Appetit gewachsen – man denke an Transnistrien, Tschetschenien, Abchasien, Südossetien. Um das ganze Ausmass von Putins Absichten zu verstehen, genügt ein Blick auf die Karte des Russischen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg, als noch Polen, die baltischen Staaten, Finnland und Bessarabien dazugehörten.

Lange und glorreiche Geschichte

Putin wird auch die Lage auf dem Balkan destabilisieren, indem er seinen Einfluss in Serbien nutzt. Dabei wird es sich nicht unbedingt um militärische, sondern vor allem um hybride Interventionen handeln, da Russland damit bereits gute Erfahrungen gemacht hat. Pro-russische Einflüsse sind in Österreich, Frankreich, Deutschland, Ungarn und Italien stark zu spüren. Russland hat nie Anstrengungen und finanzielle Mittel für Bestechung und Propaganda gescheut. Putin will diesen Einfluss ausdehnen und vertiefen. Das hat Folgen, auch für den Westen.

Die Demokratien in Europa werden an Macht und Einfluss verlieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass jetzt alle von der Gefahr eines dritten Weltkriegs reden, bei dem Atomwaffen eingesetzt werden, mit denen Putin unmissverständlich droht. Die Idee des Einsatzes von Atomwaffen in der Ukraine wird von russischen Propagandisten auf ihren einschlägigen Kanälen aufgegriffen und ernsthaft diskutiert.

Die Unterstützung für Putins Regime und den blutigen Krieg, den er entfesselt hat, um die Ukraine und möglicherweise die ganze Welt zu zerstören, ist unter russischen Bürgern gross. Russland ist ein Staat von schweigenden Sklaven, die seit Jahrzehnten mit Propaganda im Fernsehen gefüttert werden und jedes Mal für Putin stimmen. Die Russen, von denen viele in der benachbarten Ukraine geboren wurden und dort Verwandte haben, unterstützen die Bombardierung ukrainischer Städte. Ich kann immer noch nicht glauben, dass dieses Grauen im 21. Jahrhundert stattfindet.

Ich bin keine Politik-Expertin. Ich bin eine ukrainische Frau, deren Mutterland jetzt ein Monsterstaat auslöschen will. Für mich ist es deshalb sehr wichtig, dass die Menschen in Europa wissen: Die Ukraine hat eine sehr lange und glorreiche Geschichte, auf die wir stolz sind. Damit ist das wahre, faschistische Gesicht Russlands und der Russen entlarvt worden. Schauen Sie es sich an. Es ist auch für Europa gefährlich und gefährdet Ihre Freiheit. Tun Sie alles, um die Verbrecher zu stoppen und zu bestrafen. Wir Ukrainer werden das Unmögliche tun.

Iryna Banakh lebt zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter in Lwiw. Sie hat an der Nationalen Universität von Lwiw Mathematik studiert und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in einem akademischen Institut in Lwiw.

Aus dem Englischen von Pierre Heumann

Erschienen in Weltwoche Nr. 29/22

Die 3 Top-Kommentare zu "Wofür wir kämpfen"
  • PRO / CONTRA

    Es ist vielmehr wichtiger, dass die die Ukraine Ihre gesamten Schulden an die Steuerzahler im Westen zurückzahlt, die nähmlich nicht gefragt wurden, ob sie damit einverstanden sind, dass ihr täglich hart erarbeiteten Steuergelder für einen Krieg verschleudert werden, mit dem sie nichts zu tun haben und zu tun haben wollen.

  • PRO / CONTRA

    Die Lösung ist, den sogenannten Präsidenten absetzen und dazu das gesamte braune Kiewer-Regime. Das Zynische, Menschenverachtende und völlig unsinnige Verbot von Friedensverhandlungen zurücknehmen und dann Friedensverhandlungen aufnehmen und zwar unter konsequenten Ausschluß des Westens. Und dann schweigen in kürzester Zeit die Waffen, so wie es Russland immer wieder angeboten hat. Ganz einfach eigentlich.

  • heidipeter4145

    Dieser Bericht strotzt vor Unwahrheiten, es wird behauptet unsere Freiheit zu verteidigen. Wir bezahlen diesen von den USA angezettelten Krieg der nur zur Machterweiterung und den strategischen Interessen dient.