Tel Aviv

Professor Jeffrey Sachs, einer der bekanntesten Ökonomen der Welt, stand wiederholt im Zentrum historischer Prozesse. So sass er als Berater im Kreml, als Präsident Boris Jelzin dort die Implosion der Sowjetunion verkündete. Sachs arbeitete flugs eine Strategie aus, um Russlands Wirtschaft aufzurichten. Nach der Auflösung der Sowjetunion, so seine Überzeugung, mussten die Nachfolgestaaten dabei unterstützt werden, einen neuen Platz in Europa einzunehmen, damit die Dynamik, die er beobachtete, zu einer friedlichen Entwicklung führen würde. Deshalb half er Warschau mit einer Schocktherapie beim Übergang zur Marktwirtschaft, um Polen den Weg in den Westen zu ebnen.

Sachs wurde zweimal (2004 und 2005) vom Time-Magazin in die Liste der «100 einflussreichsten Menschen der Welt» aufgenommen. Im Alter von 28 Jahren lehrte er bereits als ordentlicher Professor an der Universität Harvard. Weil ihm die Beschränkung auf Forschung nicht genügte, engagierte er sich im Laufe seiner Karriere wiederholt in der Politik, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er schrieb mehrere Sachbücher und war Berater von drei Uno-Generalsekretären, darunter auch António Guterres.

Jetzt warnt der 68-Jährige eindringlich, dass die Menschheit am Rand eines Atomkriegs stehe. Er wirft US-Präsident Joe Biden vor, seine Verantwortung nicht wahrzunehmen. Statt mit Hilfe der Diplomatie zu versuchen, den Krieg in der Ukraine zu beenden, verweigere Biden das Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sachs ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Wir erreichen ihn per Videoanruf in Wien.

Weltwoche: Herr Professor Sachs, Sie plädieren für eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg. Wo aber sind die Politiker, die über einen Waffenstillstand oder gar über einen Frieden verhandeln könnten?

Jeffrey Sachs: Die Hauptverantwortung liegt bei Biden und Putin. Es handelt sich weitgehend um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland.

Weltwoche: Stellvertreterkrieg? Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland den Krieg begonnen.

Sachs: Auch wenn es viele amerikanische Politiker nicht hören wollen: Putins Warnung vor der Nato-Erweiterung war sowohl real als auch ernst gemeint. Russland will kein schwerbewaffnetes Nato-Militär an seinen Grenzen. Diese Position sollte vom Westen respektiert werden. Es wäre dann der erste Schritt in Richtung Frieden. Als aber Präsident Biden gefragt wurde, ob er Putin auf dem G-20-Gipfel treffen wolle, sagte Biden: «Warum sollte ich mich mit dieser Person treffen?» Meiner Meinung nach versteht Biden seine Aufgabe nicht. Seine Aufgabe ist es, mit Hilfe der Diplomatie zu versuchen, den Krieg zu beenden.

Weltwoche: Und was denkt Putin über ein Treffen mit Biden?

Sachs: Ich weiss nicht, was Putin denkt, aber ich weiss, was die Russen gesagt haben: Sie wollen Verhandlungen.

Weltwoche: Putin hat auf seine Teilnahme am G-20-Treffen in Indonesien verzichtet – um Biden auszuweichen?

Sachs: Putin weigerte sich, zum G-20-Gipfel zu reisen, nachdem Biden ein Treffen mit Putin ausgeschlossen hatte. Die ganze Situation ist absurd, wie unter Kindern auf dem Schulhof, aber in diesem Fall mit Tausenden von Atomsprengköpfen und einem massiven Krieg, der in der Ukraine tobt. Ich halte es im Übrigen mit John F. Kennedy, der in seiner berühmten Antrittsrede sagte: «Wir sollten nie aus Angst verhandeln, aber wir sollten auch nie Angst haben zu verhandeln.» Ich denke also, dass bei einer Bedrohung, wie wir sie gerade erleben, der richtige Zeitpunkt für ein Treffen gekommen ist. Bei einer diplomatischen Lösung bekommt keine Partei alles, was sie will. Putin könnte zum Beispiel darauf verzichten, sein russisches Imperium wiederherzustellen, und die Ukraine könnte davon absehen, der Nato beizutreten. Und die Vereinigten Staaten wären gezwungen, die Grenzen ihrer Macht in einer multipolaren Welt zu akzeptieren, indem sie keine Stützpunkte in der Ukraine errichten. Wenn wir den diplomatischen Weg nicht einschlagen, droht die weitere Zerstörung der Ukraine. Sicherlich hat sie mit dem Rückzug Russlands aus Cherson einen wichtigen Sieg errungen, aber die nächste Schlacht könnte in die andere Richtung gehen und eine massive Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur nach sich ziehen.

Weltwoche: Mit westlichen Waffen kann sich die Ukraine verteidigen.

Sachs: Richtig. Aber es führt auch zu einer Eskalationsspirale, die in einem Atomkrieg enden könnte. In der Zwischenzeit drohen der Ukraine weiterhin viele Tote und massive Zerstörung.

Weltwoche: Nach Angriffen auf die Nord-Stream-Pipelines haben Sie mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten und Polen gezeigt. Tatsächlich gab es damals keine Beweise, und wir wissen bis heute nicht, wer für die Lecks verantwortlich ist.

Sachs: Ich habe gesagt, dass die Beteiligung dieser beiden Länder «wahrscheinlich» sei. Aber glauben Sie mir, es waren höchstwahrscheinlich die USA, vielleicht zusammen mit dem Vereinigten Königreich oder anderen Verbündeten.

Weltwoche: Welche Beweise haben Sie für diese schwerwiegende Anschuldigung?

Sachs: Die Beweise liegen doch klar auf der Hand. Präsident Biden sagte am 7. Februar in einem Interview: «Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, dann ist dies das Ende der Nord-Stream-Pipeline.» Der Reporter fragte nach, weil er glaubte, Biden falsch verstanden zu haben: «Wie meinen Sie das, Herr Präsident?» Die Pipeline, so der Journalist, gehöre nicht nur deutschen und niederländischen Unternehmen, sondern vor allem Russland. Der Präsident hingegen wiederholte sinngemäss: «Glauben Sie mir, wir haben Mittel und Wege dazu.»

Weltwoche: Betrachten Sie das als Beweis?

Sachs: Ich betrachte es als starkes Indiz. Es gab zudem eine Äusserung des ehemaligen polnischen Aussenministers, der nach Bekanntwerden des Lecks twitterte: «Danke an die Vereinigten Staaten.»

Weltwoche: Sie haben sicher gesehen, dass er seinen Tweet sehr schnell wieder gelöscht hat.

Sachs: Das ist richtig. Nutzen Sie also Ihr Urteilsvermögen. Ich werde mein Urteilsvermögen nutzen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass der US-Aussenminister im Nachhinein gesagt hat, dass die Zerstörung der Pipeline eine enorme Chance für Europa sei, sich aus der russischen Energieabhängigkeit zu befreien. Ich erinnere Sie auch daran, dass die Vereinigten Staaten von Anfang an gegen die Pipeline waren. Sie haben sogar mit der Zerstörung derselben gedroht.

Weltwoche: Könnte es nicht auch sein, dass Russland ein Interesse an der Zerstörung der Pipeline hat, weil Putin Europa bestrafen will?

Sachs: Nun, das halte ich für absurd.

Weltwoche: Warum?

Sachs: Da Russland ein Druckmittel für seine Verhandlungsmacht haben will, macht die Idee, die eigene Pipeline in die Luft zu sprengen, keinen Sinn, denn Russland könnte Europa «bestrafen», wie Sie es nennen, indem es das Gas abstellt, ohne die eigene Pipeline zu sprengen. Durch die Sprengung der Pipeline würde Russland an Einfluss verlieren, nicht gewinnen.

«Ich erinnere daran, dass die USA gegen die Pipeline waren. Sie haben mit ihrer Zerstörung gedroht.»

Weltwoche: Sie waren Vorsitzender der Covid-19-Kommission, die von der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet eingesetzt wurde. Als Ergebnis Ihrer Studie stellen Sie kritische Fragen zum Ursprung von Sars-CoV-2.

Sachs: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sars-CoV-2, das Virus, das Covid-19 verursacht, aus der von den USA finanzierten Biotechnologieforschung stammt. Wir wissen, dass die Nationalen Gesundheitsinstitute der Vereinigten Staaten seit den ersten Februartagen 2020 jede objektive Untersuchung dieser Frage blockiert haben. Das Versagen der US-Regierung bei der Untersuchung lässt sich nicht bestreiten. Die von den USA finanzierte Manipulation von Coronaviren hatte bereits in den Jahren vor dem Ausbruch des Virus begonnen.

Weltwoche: Was war das Ziel der Forscher?

Sachs: Ihr Ziel war es, das Ausbreitungspotenzial von Sars-ähnlichen Viren zu untersuchen und vielleicht Impfstoffe zu entwickeln. Wir wissen, dass sehr gefährliche Forschungen im Gange waren und dass die USA keine angemessene Untersuchung durchgeführt haben.

Weltwoche: Sie glauben also nicht an die Theorie, wonach das Virus in einem Labor in China oder auf dem Markt von Wuhan ausgebrochen sein könnte?

Sachs: All das ist möglich. Was ich gefordert habe und was die Lancet-Kommission gefordert hat, ist eine unabhängige, wissenschaftliche, transparente Untersuchung dieser Möglichkeiten. Das ist bis jetzt nicht geschehen.

Weltwoche: Sie sind Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University und haben an der Uno-Klimakonferenz COP-27 in Ägypten teilgenommen. Was wurde an der Konferenz erreicht?

Sachs: Die COP hat zwei Funktionen: formale zwischenstaatliche Verhandlungen sowie globales Networking und Brainstorming zu Klimalösungen. Beim Brainstorming geht es sehr dynamisch zu. Die globale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Unternehmen, Städten, Organisationen der Zivilgesellschaft, Akademikern und anderen ist bemerkenswert. Sie führt zu einem sehr umfangreichen Austausch tiefgreifender und innovativer Ideen. Das ist sehr beeindruckend.

Weltwoche: Aber all das ist nicht handlungsorientiert.

Sachs: Es ist durchaus handlungsorientiert, ist aber zudem auf eine Politik der Regierungen angewiesen, um richtig zu funktionieren. Die zwischenstaatlichen Verhandlungen sind aber in der Tat der rückständigste Teil des Prozesses. Viele Regierungen tun noch nicht, was sie bei Plänen, öffentlichen Investitionen und deren Finanzierung tun müssten.

Weltwoche: Als Wirtschaftswissenschaftler frage ich Sie: Welche Politik ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, Gesetze oder wirtschaftliche Anreize?

Sachs: Natürlich beides, und das haben die 196 Unterzeichner des Pariser Abkommens im Dezember 2015 ja auch vereinbart. Aber die Zusammenarbeit ist zu gering, die Interessen des Sektors der fossilen Brennstoffe sind zu gross und die Regierungen sind zu kurzsichtig. Und deshalb erfolgt der politische Wandel zu langsam. Die Uno berichtete Ende Oktober, dass die Erdtemperatur am Ende des Jahrhunderts bei 2,6 Grad über der vorindustriellen Temperatur liegen könnte. Das wäre weit ausserhalb des im Pariser Abkommen vereinbarten Bereichs und wäre extrem gefährlich.

Weltwoche: Es gibt eine weitere Gefahr: nämlich die Entstehung eines bürokratischen Monsters im Namen der Ökologie.

Sachs: Wir haben bereits heute eine Energiebürokratie, aber die regelt fossile Brennstoffe. Wenn man sich zudem anschaut, wie die Schweiz funktioniert, die Pionierin der Wasserkraft war, dann geht das auf eine staatliche Regulierung von weit über einem Jahrhundert zurück. Dass das Energiesystem reguliert wird, ist also nichts Neues.

Weltwoche: Das klingt wie ein Plädoyer zur Stärkung einer grünen Bürokratie.

Sachs: Es gibt und wird ein gemischtes und reguliertes System geben, teils Markt, teils Staat, und das ist nichts Neues. Das werden wir auch bei einem kohlenstofffreien Energiesystem haben. Aber lassen Sie mich auch Folgendes sagen: Es gibt keinen Platz für eine Konfrontation der Grossmächte in dieser Welt, wenn wir die Umweltkrise lösen wollen, die sich verschlimmert.

Weltwoche: Neben dem Krieg in der Ukraine bahnt sich eine weitere Krise an, nämlich die zwischen dem Westen und China. Wie bei Russland geht es auch hier um die Gefahr wirtschaftlicher Abhängigkeiten. Könnte das zum Ende der Globalisierung führen?

Sachs: Die Globalisierung ist seit je Teil der menschlichen Geschichte. Wir waren in den letzten 500 Jahren weltweit voneinander abhängig, und das wird auch so bleiben. Die Globalisierung ist also keineswegs am Ende. Sie wurde im digitalen Zeitalter auf vielen Gebieten sogar intensiver.

Weltwoche: Wirtschaftliche Abhängigkeit kann zum Bumerang werden, wie Europa jetzt bei den Energielieferungen aus Russland erlebt.

Sachs: Ich finde diesen Vergleich sehr seltsam. Natürlich sind wir voneinander abhängig. Aber die Vereinigten Staaten haben im Moment einen neurotischen Komplex gegenüber China. Das ist eine Art Abwehrreaktion, die darauf zurückzuführen ist, dass der Westen nicht mehr die ganze Show beherrscht. Der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Produktion verlagert sich nach Osten, nach Asien. Dieser Prozess lässt sich eigentlich schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten, besonders seit 1980. Dafür gibt es einen einfachen Grund: 60 Prozent der Weltbevölkerung leben in Asien. Es war also sehr ungewöhnlich, dass 60 Prozent der Weltbevölkerung in Asien lebten, aber 1950 nur 20 Prozent der Weltproduktion in Asien erwirtschaftet wurden. Deshalb ist das Wirtschaftswachstum Asiens meiner Meinung nach nicht nur ein natürlicher, sondern ein höchst wünschenswerter Prozess, denn er bedeutet, dass die asiatischen Länder der Armut entkommen.

Weltwoche: Sie begrüssen also die Tatsache, dass die westlichen Volkswirtschaften derzeit auf der Verliererseite stehen? Oder wäre das zu viel gesagt?

Sachs: Es ist komisch, in diesem Zusammenhang von einer wirtschaftlichen Verliererseite zu sprechen. Asiens Flucht aus der Armut ist nicht der Verlust des Westens. Wir Ökonomen denken vielmehr an die gegenseitigen Gewinne, die der Handel ermöglicht. Als Entwicklungsökonom begrüsse ich es zudem, wenn arme Länder weniger arm werden. Ich bin nicht der Ansicht, dass dies ein Verlust für die reichen Länder ist. Ich betrachte Chinas Fortschritt deshalb nicht als Verlust für den Westen.

Weltwoche: Die extreme Armut im Süden der Welt führt zu einer Abwanderung in reichere Länder. Was wäre die Lösung, um dies zu stoppen?

Sachs: Die Lösung ist, in allen Teilen der Welt für eine lebensfähige Wirtschaft zu sorgen.

Weltwoche: Afrika hat viele Ressourcen, wie der Nahe Osten, aber die afrikanischen Länder bleiben arm und die Golfstaaten gehören zu den reichsten der Welt. Was machen die afrikanischen Regierungen falsch?

Sachs: Es ist wichtig, allzu vereinfachte Vergleiche zu vermeiden. Das Wichtigste für Afrika sind heute Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur, einschliesslich Elektrifizierung, Verkehr, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie der digitalen Entwicklung. Auf diese Weise hat sich China in den letzten vierzig Jahren rasant entwickelt.

Weltwoche: Eines der Probleme Afrikas ist, dass die Investitionen nicht zur Bevölkerung durchdringen, sondern bei korrupten Führern bleiben.

Sachs: Bei allem Respekt, es ist ein bisschen komplizierter als das, und ich würde den Leuten empfehlen, meine Bücher zu diesem Thema zu lesen. Afrika kann sicherlich ein schnelles Wirtschaftswachstum erreichen, wenn es in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Unternehmensentwicklung investiert. Ich bin sogar optimistisch, dass es dies in den kommenden Jahren tun wird, vor allem wenn die internationale Finanzarchitektur so angepasst wird, dass mehr globale Ersparnisse zur Finanzierung von Investitionen in nachhaltige Entwicklung fliessen.