Die Trauer um den Tod von Wolfgang Schäuble ist erkennbar über Deutschland hinaus ausserordentlich gross. Bei vielen wird ein besonders grosser Verlust spürbar. Warum? Warum hörten immer alle so aufmerksam zu, wenn Wolfgang Schäuble das Wort ergriff?

Stets sprach er reflektiert, konzentriert aus, worauf es in diesem Moment ankam, und nicht, was gerade ankam. Um die Zukunft zu sichern, brauche es Mut, Ambition, echtes Ringen und Streiten um den besten Weg, wirkliche Lösungen, nicht die – vielleicht karriereförderliche – Verständigung auf den allerkleinsten gemeinsamen Nenner oder liebgewonnene Rezepte von gestern. Das war sein Anspruch – hart gegen sich selbst und extrem anspruchsvoll gegenüber seiner Umgebung. Kein Termin war ihm dafür zu weit oder zu unwichtig.

 

Unprätentiös, klar, mit Humor

Aus seiner Sozialisation (Jahrgang 1942) wusste er: Nichts kam und kommt von allein, und wenig ist automatisch von Dauer. Die deutsch-französische Freundschaft sah er immer als den Tempomacher Europas, die europäische und die deutsche Einigung, deren Baumeister er wurde, die soziale Marktwirtschaft, die Demokratie: Alles erfordere sowohl ständige Einsatzbereitschaft als auch erhebliche Fortentwicklungen, um ökologische Herausforderungen zu bestehen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Es ging ihm dabei immer um die Sache, das Wohl des Landes, den Frieden, den Wohlstand, den Ernst der Lage: unprätentiös, klar, ohne Floskeln, mit Humor bis zur bitteren Ironie. Immer unbequem und zugleich loyal. Soeben noch riet er in der Zeit, «im Sinne Lessings klug zu handeln, statt andächtig zu schwärmen». Es war ein Wink auch an seine Partei.

Wolfgang Schäuble hatte Ahnung und Haltung, enorme Kompetenz in der Innen-, Wirtschafts-, Finanz-, Europa- und Gesellschaftspolitik, Unabhängigkeit und Mut. Eigenschaften derer, die seit Jahrzehnten weniger in die Politik gehen. Diese bittere Erkenntnis sollten wir uns eingestehen beziehungsweise die dramatischen Folgen, wenn dies weiter anhält. Wolfgang Schäuble förderte deshalb unaufhörlich junge Menschen, um sie zur Übernahme von Verantwortung zu ermutigen und zu befähigen.

 

Ermunterung zur kritischen Debatte

1998 wurde Wolfgang Schäuble CDU-Vorsitzender. Er verhinderte von Anfang an, die Wahlniederlage 1998 wie die im Jahre 1969 erneut als Betriebsunfall zu betrachten. Seine Generalsekretärin Angela Merkel liess er mit dem Slogan «Mitten im Leben» verhindern, dass sich die CDU in ein Schneckenhaus der miefigen Selbstvergewisserung zurückzog. Im Präsidium ermunterte er zu kritischen Debatten von Angesicht zu Angesicht, nach aussen verlangte er Loyalität und Geschlossenheit. Von keinem Politiker habe ich in so kurzer Zeit so viel gelernt. Er hatte vor 1998 bereits wegweisende Beschlüsse zur Steuervereinfachung vorgelegt, die an Pragmatismus und fehlendem Mut der Regierenden scheiterten. Nun wollte er weitreichende Reformvorschläge für die sozialen Sicherungssysteme mit mehr Eigenverantwortung, eine moderne ortsnahe Arbeitsvermittlung und Bürokratieabbau zur programmatischen Vorbereitung der Bundestagswahl 2002.

Mir vertraute er als einem seiner Stellvertreter den Vorsitz der Kommission «Sozialstaat 21» an, und wir bereiteten tatsächlich einen ambitionierten Reformwahlkampf vor, der nach Meinung der dann Verantwortlichen sich später nicht mehr wiederholen sollte. So entstand sicher auch ein bis heute verschärfter Reformnotstand. Als er spätnachts am Ende einer Präsidiumssitzung im provisorischen Gebäude der CDU-Bundesgeschäftsstelle an der Mauerstrasse in Berlin-Mitte im Jahr 2000 seinen Rücktritt für den nächsten Tag ankündigte, hatte ich das einzige Mal in einer CDU-Sitzung Tränen in den Augen. Er stürzte über eine Parteispendenaffäre, die andere zu verantworten hatten, war aber unersetzlich.

 

Rat für ein glückliches Leben

Wolfgang Schäuble war eine intellektuelle Autorität mit einem unerschöpflichen Lebenswerk, als Christ und Demokrat. Er schuf beispielsweise 2006 wegweisend die Deutsche Islam-Konferenz, ein Dialogformat, um das uns noch heute andere Länder beneiden. Er sagte als Erster, dass inzwischen auch der Islam zu Deutschland und Europa gehöre. Er sah die zu lösenden Probleme viel früher als andere, nämlich die Muslime in unsere Verfassungsordnung zu integrieren. Die Aufregung, die ich bis heute ausgelöst habe, als ich dies sagte, hat sicher zur Grundlage, dass ich es am Tag der Deutschen Einheit gesagt habe, dass ich es als Bundespräsident gesagt habe, und vor allem, dass ich es auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte 2010 gesagt habe. Aber vermutlich gehört zur Wahrheit auch, dass ich nicht das Vertrauen und die enorme Autorität von Wolfgang Schäuble hatte.

Von keinem Politiker habe ich in so kurzer Zeitso viel gelernt.Für mich lebte Wolfgang Schäuble gemäss dem grossen Schweizer Gelehrten Carl Hilty: «Das Glück des Lebens besteht nicht darin, wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.» Für die Zukunft hinterlässt uns Vorbild Wolfgang Schäuble einen Rat: «Man führt ein glückliches Leben, wenn man weiss: Es ist begrenzt und in jeder Sekunde unvorhersehbar.»

 

Christian Wulff ist Bundespräsident a. D. der -Bundesrepublik Deutschland und Ministerpräsident a. D. des Landes Niedersachsen.