Tel Aviv

Eine Rakete der israelischen Armee schlug in eine Wohnung im dichtbesiedelten Flüchtlingslager Tulkarem im Westjordanland ein. Sie tötete Nisreen Damiri vor den Augen ihres siebenjährigen Sohnes und verletzte ihre Schwägerin. Das passiert, wenn die israelische Armee ‹maximale Anstrengungen unternimmt, um die Verletzung von Nichtkombattanten zu vermeiden›.»

Diese tragische Geschichte mit der sarkastischen Breitseite wurde nicht in einer der zahlreichen Zeitungen im Westen publiziert, die das Verhalten der israelischen Armee (IDF) gegenüber den Palästinensern anprangern. Sie war am vergangenen Freitag in Haaretz zu lesen, Israels renommiertestem und weitherum zitierten Blatt.

Die Zeitung ist links in einem Land, das sich entschieden nach rechts bewegt hat. Sie wirft zwar keine hohen Gewinne ab. Doch sie beeindruckt durch die Breite ihrer Berichterstattung und Analyse. Sie schont niemanden – weder die Regierung, noch Politiker, noch Monopolisten. Verleger Amos Schocken verfolgt eine publizistische Linie, die sich klar von den Mächtigen distanziert. Damit macht sie Werbung. «Wir machen sie mit unseren Artikeln weiterhin wahnsinnig», heisst es zu einem Bild von Israels First Lady Sara Netanjahu, der in der Zeitung regelmässig vorgeworfen wird, einen starken (und aus der Sicht von Haaretz negativen) Einfluss auf den Regierungschef zu haben. Aber, so heisst es im Inserat weiter: «Wir haben vor niemandem Angst.»

Keine andere israelische Zeitung wird im Ausland mehr gelesen als Haaretz, auf Deutsch «Das Land». Das verdankt sie der englischsprachigen Ausgabe, in der seit 1997 ausgewählte Artikel erscheinen. Dieses Jahr hat die Zahl der Abos für die englische Online-Version erstmals diejenige der hebräischen Ausgabe übertroffen. «Die englische Website hat Haaretz ökonomisch gerettet», sagt Akiva Eldar, der bis zu seiner Pensionierung zu den bekanntesten Haaretz-Journalisten zählte.

 

Lieblingsthema Siedler-Übergriffe

Der Einfluss der Zeitung reicht weit über die relativ bescheidene Auflage hinaus. Die Zeitung und ihr Wirtschaftsmagazin, The Marker, werden in der israelischen Elite weithin gelesen – auch von Menschen, die die israelische Politik verabscheuen – und bestimmen die Tagesordnung in zahlreichen politischen Debatten. Ausserhalb Israels werden Artikel, die morgens online in Haaretz erscheinen, im Laufe des Tages oft als Gesprächsthemen in Washington und Brüssel auf die Tagesordnung gesetzt.

Zu den Lieblingsthemen von Haaretz gehören Übergriffe der IDF und der Siedler gegenüber den Palästinensern, Korruptionsskandale und politische Blindheit. «Anstatt sich um die Palästinenser zu sorgen, konzentrieren sich die Israeli auf den westlichen Traum vom Leben in Wohlstand und Ruhe», schrieb neulich Aluf Benn, der seit 2011 Chefredaktor von Haaretz ist. (Eine Interviewanfrage der Weltwoche lehnte er mit der Begründung ab, dass er sich seit Kriegsbeginn voll und ganz auf den Newsroom konzentriere, was «eine ziemliche Herausforderung» sei.)

Von aussen lässt das Zeitungsgebäude von Haaretz nicht erkennen, dass hier ein einflussreiches Medienimperium zu Hause ist. Das hässliche, niedrige grau-weisse Betongebäude erinnert eher an ein Lagerhaus oder an eine Fabrik als an den Sitz eines renommierten Blattes. Es liegt an einer Strasse im Süden Tel Avivs, die nach der Gründerfamilie Schocken benannt ist, der die Zeitung in dritter Generation mehrheitlich gehört. Die Gegend ist heruntergekommen, weit weg von den florierenden Hightech- und Bauhausvierteln der Metropole. Neben den Autoreparaturwerkstätten und Falafel-Lokalen hat sich die Strassenprostitution eingenistet – «der einzige Ort, wo das toleriert wird», sagt ein junger Redaktor. Im Innern des Gebäudes geht es allerdings vornehm zu und her. Die meist jungen Leute im Newsroom sind von guter Kunst umgeben, die nicht nur von israelischen, sondern auch – was für ein Statement! – von palästinensischen Künstlern stammt. Dort leitet Aluf Benn die Tagesgeschäfte.

Neben der Redaktion hat sich die Prostitution eingenistet– «der einzige Ort, wo das toleriert wird».Gideon Levy, einer seiner Star-Autoren, der in der vergangenen Woche über das tragische Schicksal der palästinensischen Mutter Nisreen Damiri schrieb, publiziert Woche für Woche Reportagen aus dem Westjordanland, in denen er – für Israel fast ein Sakrileg – seine Beobachtungen über Einzelschicksale ausschliesslich aus der palästinensischen Optik schildert. Haaretz sei eine «sehr objektive Nachrichtenquelle und wahrscheinlich die einzige israelische Zeitung, die über die katastrophale Situation des palästinensischen Alltags nach dem 7. Oktober berichtet», sagt zum Beispiel Mkhaimar Abusada, Politologe aus Gaza.

Nachdem Israels Armee am Samstag im Gazastreifen den Anführer des militärischen Arms der Hamas, Mohammed Deif, angegriffen und dabei Dutzende von Menschen getötet hatte, setzte Levy über seinen Kommentar den Titel «Wie viele tote Kinder ist Deif wert?». Akribisch analysiert Levy die Strukturen der Besatzung und macht deren menschliche Kosten sichtbar. Er ist in der israelischen Öffentlichkeit zwar seit mehr als einer Generation eindringlich präsent, aber seine Artikel werden ignoriert.

 

«Jüdische Babys sind viel mehr wert»

Levy gilt in Israel für viele als «Feind des Landes». Neulich wurde auf einer zentralen Strasse in Tel Aviv ein riesiges Plakat mit dem Text «Jüdische Babys sind viel mehr wert» aufgehängt – eine unmissverständliche Anspielung auf seine Exklusiv-Empathie für die Palästinenser. «Das hat sich einer meiner Kritiker 10 000 Euro kosten lassen», meint Levy – und es ist nicht klar, ob er das als Lob empfindet oder ob er den Auftraggeber des Posters schlicht für blöd hält. Vor einigen Jahren wurde für ihn sogar Personenschutz angeordnet. Einige Bürger hatten Todesdrohungen gegen ihn ausgestossen, weil er nach einem Fliegereinsatz Piloten der israelischen Air Force kritisiert hatte.

Während Levy in Israel nur bei Haaretz eine Plattform für seine Artikel und Kommentare hat, ist er im Ausland bei vielen Medien ein gefragter Interviewpartner und Referent. Er ist häufiger Gast bei CNN, Al-Dschasira, Sky News, BBC oder in der «Tagesschau». In der Weltwoche schrieb er, «das Böse ist in der Mitte der israelischen Gesellschaft angekommen».

Auf Veranstaltungen tritt er mit Israel-Verächtern wie Roger Waters oder der palästinensischen Grand Old Lady Hanan Ashrawi auf. Immer positioniert er sich unmissverständlich: gegen Israels Politik, für die Palästinenser. Im Juni bezeichnete er zum Beispiel auf einer Konferenz in Ottawa den Zionismus als «jüdische Vorherrschaft zwischen dem Fluss und dem Meer» – und jeder verstand die Anspielung auf die antiisraelischen Slogans auf den Strassen und Campus in Europa und in den USA.

Auf der Haaretz-Redaktion werden Levys Tiraden gegen Israel nicht von allen Kollegen geschätzt. Er schade der Zeitung, heisst es. Immer mehr Abonnenten würden die Zeitung abbestellen, weil sie ihnen zu linksliberal sei. Und es wäre, hört man von Levys Redaktionskollegen, an der Zeit, dass er auch israelische Ängste ernst nehme und den Nahen Osten endlich aus einer israelischen Optik schildere.

Hannah Arendt bezeichnete Gründer Salman Schocken als «personifizierten Bismarck».Zudem bezweifeln einige Kollegen, dass es Levy mit den Fakten genau nimmt. Da er auf seinen wöchentlichen Reportagen stets mit Aktivisten der Menschenrechtsorganisation B’Tselem oder palästinensischen Feldforschern unterwegs sei und selber nur ungenügend Arabisch spreche, sei er nicht in der Lage, die Schilderungen, die ihm zugetragen werden, zu überprüfen oder zu hinterfragen. «Viele hebräischsprachige Abos wurden wegen israelkritischer Artikel gekündigt», sagt ein Kenner von Haaretz. Aber der Herausgeber Amos Schocken nehme das in Kauf: «Er ist bereit, für seine Meinung einen Preis zu zahlen.»

 

Goethe und Nietzsche im Gepäck

Levys Artikel über palästinensische Schicksale stehen ganz in der Tradition des Haaretz-Urvaters: Salman Schocken. Der 1877 geborene Grossvater des heutigen Haaretz-Verlegers stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Nach der Primarschule bildete er sich als Autodidakt weiter und verdiente sein Geld als fliegender Kaufmann. Auf seinen Reisen las er Goethe und Nietzsche. Später gründete er mit seinem Bruder Simon in Zwickau eines der grössten Warenhäuser Deutschlands. Doch Salman Schocken hatte auch andere Ambitionen: «In ganz Europa stand sein Name für hochwertige Konsumgüter und gehobene Kultur, die für die arbeitende Bevölkerung zugänglich gemacht wurden», so sein Biograf Anthony David. ›››

Salman, der Selfmademan, legte sich eine Sammlung seltener deutscher und hebräischer Bücher an. Wie die Prinzen der Renaissance wollte er der Zeit seinen Stempel als kultureller und politischer Impresario aufdrücken, indem er sein Geld in die Kultur steckte, Künstler förderte, Bibliotheken gründete und Akademikern Stipendien zahlte, schreibt David in der Biografie «The Patron».

 

Flucht vor Hitler

Nachdem Salman Schocken zu Beginn der 1920er Jahre Palästina bereist hatte, begann er in die dort wachsende jüdische Gemeinschaft zu investieren. Er half, den Hafen von Haifa zu bauen, und beteiligte sich an der Finanzierung der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zehn Jahre später entstand in Berlin sein Verlagshaus, der Schocken-Verlag, wo er unter anderem Werke von Franz Kafka und Heinrich Heine publizierte. Wie ein «jüdischer Medici» unterstützte er Schriftsteller, die er schätzte, mit Geld. Gleichzeitig war er aber so herrschsüchtig, dass Hannah Arendt ihn einmal als «personifizierten Bismarck» bezeichnete.

Als Hitler im Jahr 1933 Kanzler wurde, wanderte Salman Schocken, der Kaufmann und Verleger, ins damalige Palästina aus. Wenig später kam auch sein Sohn Gustav nach Palästina, der seinen Namen bald ins hebräische Gershom verwandelte. Der 24-Jährige musste sich in Palästina zunächst von einem Liebeskummer erholen, den eine Londoner Beziehung bei ihm ausgelöst hatte.

Vater Salman, wie immer zielbewusst, fackelte nicht lange und fädelte für seinen Sohn eine Ehe mit der Tochter eines der reichsten Männer im Lande ein. Nun musste Salman nur noch einen Job für Gershom finden, was dadurch erschwert wurde, dass sein Spross gegenüber allem Geschäftlichen eine tiefe Aversion hatte. Er wollte nicht das Geld seines Vaters investieren, sondern Journalist werden.

Deshalb, wurde damals gemunkelt, habe Salman seinem Sohn zur Hochzeit eine Zeitung gekauft: die 1919 gegründete Haaretz. (Gershom Schocken erklärte später, das sei tatsächlich eine hübsche Geschichte, nur stimme sie nicht.) Die Schockens träumten davon, aus der Zeitung eine hebräische Version der damaligen Frankfurter Zeitung zu machen: nüchtern, analytisch, mit einem starken Kulturteil.

«Man hatte Angst vor ihm, nicht nur die Angestellten, sondern das ganze Land.»Sie war weitgehend die Zeitung eines einzigen Mannes: «zionistisch, liberal und kritisch, gelegentlich überheblich, trotzig, meist entschlossen kämpferisch, häufig sehr couragiert», sagt Tom Segev, einer der bekanntesten Historiker Israels, der seit dreissig Jahren für Haaretz schreibt. Haaretz war damals laut Segev «eine der Grundfesten der europäischen Kultur, die damals in den sozialen Eliten Israels vorherrschte». Die Zeitung wahrte ihren Einfluss ein halbes Jahrhundert lang. «Doch je mehr die amerikanische, russische und vor allem mediterrane Kultur an Raum gewann, sank auch der Einfluss von Haaretz.» Jetzt, schätzt der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann, lesen nur noch zwischen 6 und höchstens 10 Prozent Haaretz. Aber sie werde von der Elite beachtet und sei deshalb eine «grosse Herausforderung für die Regierung».

Die kritische Linie gegenüber den Mächtigen in Politik und Wirtschaft hat bei Haaretz Tradition. Sie lässt sich bis auf Salman Schocken, den aus Berlin stammenden Immigranten, zurückverfolgen. Er schloss sich dem Friedensbündnis «Brit Schalom» an, das von 1925 bis in die frühen 1930er Jahre aktiv war. Brit Schalom vertrat die Ansicht, dass der Zionismus keine Chance habe, solange die Araber der Einwanderung von Juden nach Palästina nicht zustimmten und kein binationaler Staat gegründet werde.

Salman Schocken war fasziniert: Die Gruppe konzentrierte sich in erster Linie auf die jüdisch-arabischen Beziehungen und betrachtete das Zustandekommen eines Abkommens mit den palästinensischen Arabern als eine moralische und politische Notwendigkeit für die Verwirklichung des Zionismus. Brit Schalom zog den heftigen Widerstand der zionistischen Elite auf sich, die die Mitglieder von Brit Schalom als Verräter betrachteten – ein Vorwurf, der Jahrzehnte später auch gegenüber Haaretz erhoben wurde. Für seine Zeitung gab Schocken ehrgeizige Ziele vor. Sie habe die Aufgabe, die «künftige Meinung» des Landes zu formen, indem sie die Bürger in «reifem politischem Urteilsvermögen» unterrichte, in Staatsgedanken.

 

Tod in Pontresina

Salman Schocken fühlte sich in Israel nie richtig zu Hause. Der jüdische Nationalismus im neuen Staat behagte ihm, dem Kosmopoliten, nicht. Er blieb bewusst ein Aussenseiter in Israel. Das ermögliche es ihm, das Land intuitiv zu verstehen, sagte er einmal — mit dem Blick von aussen, der für Haaretz bis heute in Israel ein Alleinstellungsmerkmal ist. Er wohnte lieber in Hotels und Häusern – von New York bis Zürich. Im Laufe seiner fünfzigjährigen Ehe war er ein Schürzenjäger, und als er seine Frau Lilly schliesslich verliess, sagte er, nun sei er «ein freier Mann». Fünf Jahre später, 1959, starb er allein in einem Hotelzimmer in Pontresina. Die Angestellten fanden den Toten mit zwei Büchern in der Hand: den Geschichten eines bekannten Rabbis und Goethes «Faust».

Gershom, sein Sohn, erzählte später, dass der Tod seines Vaters «zu den befreiendsten Ereignissen in meinem Leben gehörte». Wenn Gershom Schocken in späteren Jahren Artikel in der Zeitung veröffentlichte, tat er das oft unter einem Pseudonym, das seinen kindlichen Groll kaum verbergen konnte: Ben-Dam war der Name, den er benutzte – Sohn des Blutes.

«Gershom Schocken war verschlossen, furchterregend», erinnert sich Segev. «Man hatte Angst vor ihm, nicht nur die Angestellten, sondern das ganze Land.» Segev: «Die Schockens kannten die Bedeutung ihrer Zeitung, die damals jeder las.»

 

«Hannibal»-Befehl

Gershom Schocken baute die Zeitung zu einer wichtigen nationalen Stimme in Israel auf und wurde von der in den USA ansässigen World Press Review für die Berichterstattung von Haaretz über die israelische Invasion im Libanon 1982 zum «internationalen Redaktor» des Jahres ernannt. Schocken, der in den 1950er Jahren vier Jahre lang der Knesset angehörte und seine Zeitung zur führenden Stimme des Liberalismus in Israel machte, war ein progressiver und überzeugter Bürgerrechtler.

Nach seinem Tod (1990) übernahm die dritte Schocken-Generation: Amos Schocken. Er sei linker als die meisten Redaktoren unter ihm und linker als der Grossteil der israelischen Gesellschaft, sagen Haaretz-Mitarbeiter. Amos Schocken sei ein «energischer linker Polemiker auf Twitter», bezeichnet Israel auch schon einmal als «Apartheid-Regime», weil es palästinensisches Land unbefristet besetzt halte, und warnt vor einer Situation, in der sowohl der Zionismus als auch der Staat «illegitim» würden.

Haaretz lässt keine Gelegenheit aus, Netanjahus Regierung anzugreifen. So publizierte Amos Schocken am Montag ein Editorial, in dem er vor einem Angriff Netanjahus auf die Pressefreiheit warnte. Nach dem Attentat auf Donald Trump warf Haaretz Netanjahu «und seiner Bande» Manipulation vor, weil der Regierungschef während zweier Stunden über das Risiko debattieren liess, dass auch er Opfer eines Anschlags werden könnte. «Die Rechte, deren Geschichte voller politischer Gewalt ist, hat die Chuzpe, sich weiterhin als Opfer eingebildeter politischer Gewalt von links darzustellen», kommentierte Haaretz und nannte die Namen von knapp zehn Attentätern aus dem rechten Spektrum, unter anderen Yigal Amir, den Mörder von Jitzhak Rabin.

In der Kritik steht auch eine Institution, die in Israel in der Regel nicht hinterfragt wird: die Armee respektive ihr Verhalten am 7. Oktober 2023, jenem schwarzen Samstag, als die Hamas im Süden Israels einfiel, mordete und entführte. Es herrschte damals «eine verrückte Hysterie», schrieb Yaniv Kubovich am 7. Juli. Dokumente und Zeugenaussagen, die Haaretz vorliegen, würden zeigen, dass die Anwendung von Gewalt befohlen wurde, um die Entführung von Soldaten zu verhindern – auch wenn sie zum Tod von Gekidnappten führe. Dieser als «Hannibal» bekannte Befehl wurde vor einigen Jahren zwar abgeschafft — aber in der chaotisch-unübersichtlichen Lage wurde der Befehl ausgegeben, «keine Fahrzeuge nach Gaza zurückkehren zu lassen».

Haaretz wisse nicht, ob oder wie viele Zivilisten und Soldaten durch diese Massnahmen getroffen wurden. Aber die kumulierten Daten würden darauf hindeuten, dass viele der entführten Personen gefährdet und israelischen Schüssen ausgesetzt waren, auch wenn sie nicht das Ziel waren. «Die Anweisung», zitiert Haaretz eine Quelle im Südkommando, «sollte das Gebiet um den Grenzzaun in eine Todeszone verwandeln und nach Westen hin abriegeln.»

«Die Anweisung», so Haaretz, «sollte das Gebiet um den Grenzzaun in eine Todeszone verwandeln.»Berichte über «Hannibal» gab es bereits im Juni von einer Uno-Kommission und im Januar im Massenblatt Yediot Achronot. Aber nirgends wurde der Hergang so detailliert beschrieben wie in Haaretz: mit Zeitangaben, Namen der Verantwortlichen – und am Schluss dem Eingeständnis, dass Haaretz nicht wisse, ob oder wie viele Zivilisten und Soldaten durch diese Massnahmen getroffen wurden. «Es gab keinen Fall, in dem ein Fahrzeug mit entführten Personen wissentlich angegriffen wurde, aber man konnte nicht wirklich wissen, ob sich solche Personen in einem Fahrzeug befanden.»

 

«Konsequent humanitär»

Links, liberal und frech: Wenn es eines Beweises für die lebendige Demokratie und für die Meinungsäusserungsfreiheit in Israel bedürfte, so sei es dieses Blatt mit seinem «konsequent humanitären und liberalen Kurs», meint ein jüdischer Leser aus Zürich. In Haaretz manifestiere sich «mutiger Widerspruch gegen die Regierenden in einer Deutlichkeit, die in der Schweiz kaum bekannt ist».

Inzwischen warnt der Haaretz-Chef Aluf Benn in Foreign Affairs vor den Gefahren, die auf Israel lauern. Ob mit oder ohne Netanjahu: «Konfliktmanagement» werde weiterhin Staatspolitik sein – was mehr Besatzung, Siedlungen und Vertreibung bedeutet. Diese Strategie mag als die am wenigsten riskante Option erscheinen, zumindest für eine israelische Öffentlichkeit, die von den Schrecken des 7. Oktober gezeichnet und gegenüber neuen Friedensvorschlägen taub ist. Aber sie wird zu einer weiteren Katastrophe führen. Benn: «Die Israeli können keine Stabilität erwarten, wenn sie die Palästinenser weiterhin ignorieren und ihre Bestrebungen, ihre Geschichte und sogar ihre Anwesenheit ablehnen.»