Im Sommer des letzten Jahres erschollen in den Titeleien der Neuen Zürcher Zeitung noch solche Fanfarenstösse über den Ukraine-Krieg: «Zuerst der Sieg, dann der Beitritt». Denn ohne einen solchen Sieg auf dem Schlachtfeld werde der Nato-Beitritt für das Land nicht möglich.

Zuerst müsse die Ukraine «militärisch die Oberhand gewinnen» und so den Kreml «von der Aussichtslosigkeit seines Eroberungsfeldzuges überzeugen». Der Westen müsse die Militärhilfe ankurbeln, so der Schreibtisch-Kriegsberichterstatter Andreas Rüesch: «Denn ohne eine freie Ukraine wird es keine Sicherheit in Europa geben.»

Gestern tönte es in der NZZ wesentlich leiser, setzte das Blatt doch in Anführungszeichen folgenden Titel: «Die Russen werden den Krieg gewinnen». In einem Gespräch äusserte der renommierte französische Historiker Emmanuel Todd Sätze, mit denen er punktgenau die NZZ angesprochen haben könnte: «Der Journalismus ist eine kriegstreibende Kraft geworden. Eine kriegstreibende Kraft bedeutet für die Menschheit nichts Gutes.»

Wenn der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj einen «Siegesplan» vorstelle, gemahne das an die orwellsche Methode, «die Realität komplett auszublenden». Denn die russische Armee sei auf dem Vormarsch, und man frage sich, wie lange sich das Regime in Kiew noch halten könne. Doch im Westen stelle man sich angesichts des russischen Sieges blind.

Die USA hätten sich der ukrainischen Armee angenommen, diese sei faktisch in die Nato integriert worden. Dadurch trage die Ukraine heute alle Risiken einer Nato-Mitgliedschaft, allerdings ohne deren Schutzschild, weil sie ja juristisch nicht Mitglied ist und der Bündnisfall nicht eintritt.

Die Amerikaner hätten den Ukraine-Krieg ebenso verloren wie die Europäer, gibt sich Emmanuel Todd überzeugt. Denn der Westen sei nicht mehr in der Lage, einen Krieg zu führen. Wenn er den Krieg fortsetze, gehe das nur noch mit der Beschiessung von Russland mit weitreichenden Waffen, womit man eine nukleare Eskalation riskiere.

Weitergehende Kriegsziele als jene in der Ukraine inklusive Regimewechsel gebe es in Russland nicht. Weil die Russen dazu weder die Mittel noch die Lust hätten. Ob diese Voraussage von Todd wahr ist, weiss niemand. Aber sie ist plausibel. Jedenfalls plausibler als die Phantasmen der Siegesfanfaren, die man in den letzten Monaten und Jahren regelmässig in der NZZ lesen musste.