Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz stand zuletzt vor einer einfachen Frage: Will er die Wahlen in Deutschland gewinnen, oder will er den Krieg in der Ukraine gewinnen?

Scholz entschied sich für Variante eins. Er weigerte sich darum, den Marschflugkörper Taurus an die Ukraine zu liefern. Der Taurus hat eine Reichweite von 500 Kilometern und könnte darum bis zum Kreml in Moskau zischen.

Der ansonsten spröde Scholz, resümierte der Spiegel, «handelt plötzlich wie ein Instinktpolitiker».

Der Instinkt erwachte beim Blick in die politische Agenda. In diesem Frühsommer steht die Wahl des EU-Parlaments an, dann folgen die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl.

Scholz, da haben seine Spindoktoren einen guten Job gemacht, wird in diesen Wahlen für seine SPD unter dem Label des «Friedenskanzlers» antreten.

«Friedenskanzler» scheint eine schlaue Strategie. 56 Prozent der Deutschen, so die Umfragen, sind gegen eine Taurus-Lieferung, nur 35 Prozent sind dafür. Das ist nicht überraschend. Kein anderes Volk hat mehr Angst als die Deutschen, in einen Krieg hineingezogen zu werden. Das kann man verstehen. Seit 1872 hat Deutschland alle seine Kriege verloren.

Frankreich hingegen hat seit 1872 alle seine Kriege gewonnen, auch wenn es in Korea und Algerien keine Ruhmesblätter waren. Präsident Emmanuel Macron kann darum unbeschwert westliche Bodentruppen in der Ukraine fordern. Blätter wie Le Monde loben ihn für diesen «pädagogischen Effort», um schlappe Typen wie Scholz auf die Reihe zu bringen.

Scholz, das war zu erwarten, war in seiner neuen Rolle als Friedenskanzler bei den meisten deutschen Journalisten untendurch. Denn auf den Redaktionen haben weitherum die Kriegsgurgeln die Oberhand.

Die Kommentare waren denn erwartungsgemäss. «Der Friedenskanzler, über den Putin lacht», wurde Olaf Scholz etwa vom Spiegel niedergemacht. Er schreibe «Geschichte als Farce».

Die Bild-Zeitung wiederum unterstellte ihm unter dem Titel «Der Schein-Friedenskanzler» so etwas wie Fahnenflucht. Wörtlich: «Den Friedenskanzler Olaf Scholz muss Wolodymyr Selenskyj in Kiew mehr fürchten als Wladimir Putin in Moskau.»

So weit, so berechenbar. Andernorts aber, etwa bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Zeit, wo man bisher auch auf treuem Kriegskurs war, tönte es auf einmal differenziert. «Bammel vor dem Friedenskanzler», titelte die SZ und meinte damit, dass die Deeskalation von Scholz in substanzielle Stimmengewinne münden könnte. Auch bei der Zeit flammte ein Funken an Kriegsmüdigkeit auf. «Auch mit dem Taurus», wusste das Blatt, «wird sich in diesem Krieg keine Wende zugunsten der Ukraine erzwingen lassen.»

Das war sauber auf den Punkt gebracht. Der Taurus wäre ähnlich kriegsentscheidend, wie es andere deutsche Wunderwaffen wie der Gepard, der Marder und der Leopard waren. Sie haben bekanntlich die Ukraine auf den sicheren Siegespfad geführt, bevor sie von den Russen dummerweise verschrottet wurden.

Inzwischen müssten auch die deutschen Journalisten wissen, wenn sie nicht verblendet sind, dass die Ukraine ihre Kriegsziele nicht erreichen kann. Der besetzte Südosten des Landes ist perdu, die Rückeroberung der Krim eine Schimäre. Die US-Geheimdienste, trotz all ihrer vergangenen Flops noch immer die besten Quellen zur Kriegslage, machen sich über einen Sieg von Kiew keine Illusionen mehr.

Kanzler Scholz weiss auch, dass es vorbei ist mit Selenskyj-Siegeshymnen. Er weiss, dass Wahlen in Deutschland nur noch mit Realismus, aber nicht mit Illusionismus zu gewinnen sind. Zu oft sind seine Landsleute zuletzt auf politische Gaukeleien hereingefallen. Sie fielen herein auf die Illusion einer harmonischen Massenimmigration genauso wie auf die Illusion einer bezahlbaren Energiewende. Es endete in abrupt steigender Ausländerkriminalität und in abrupt steigenden Energiepreisen. Sie sind darum nun ebenso skeptisch gegenüber schönfärberischer Spiegelfechterei am Schwarzen Meer.

Ich glaube, dass Olaf Scholz mit seinem Nein zum Taurus und damit seinem Nein zu einer Kriegs-Eskalation gute Chancen hat, wie schon 2021, aus der Position des vermeintlichen Verlierers in eine Position des Siegers aufzurücken.

Scholz ist ein gerissener Kerl.