Als die schleswig-holsteinische Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) unlängst in der Talk-Sendung «Markus Lanz» zu Gast war, entspann sich ein interessanter Dialog mit dem Moderator.

«Was passiert, wenn die Aufnahmekapazitäten von Kommunen und Ländern ausgeschöpft sind?», wollte Lanz wissen.

«Lassen Sie mich zunächst . . .», wich Touré in klassischer Politikermanier aus.

«Was passiert, wenn die Kapazitäten am Ende sind?», setzte Lanz nach und bekam wieder keine Antwort.

Er versuchte es noch ein drittes Mal und blieb ein drittes Mal erfolglos. Die Tochter malischer Einwanderer, die ausdrücklich das Wort «Problem» nicht in den Mund nimmt und lediglich von «Herausforderungen» spricht, entwich den unliebsamen Fragen des Moderators hartnäckig.

 

An der «Belastungsgrenze»

Die Szene ist bezeichnend. Im Denken vieler Spitzen-Grüner kommt eine Begrenzung von Migration oder gar deren Problematisierung schlicht nicht vor. Oder wie Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) es vor Jahren ausdrückte: «Deutschland verändert sich, wird bunter, und ich freue mich darauf.» Wer mit Grünen pragmatisch über Migration sprechen will, stösst auf eine andere Welt, in der es allenfalls um Finanzierung von Unterkünften und Infrastruktur für Migranten gehen kann. Alles andere ist rechte Xenophobie.

Umso mehr liess es aufhorchen, als die heutige Grünen-Chefin Ricarda Lang dieser Tage forderte, dass man bei «Rückführungsabkommen» (der Terminus «Abschiebung» ist verpönt) rasch zu Ergebnissen kommen müsse. Deutschland und Italien seien an der «Belastungsgrenze», sekundierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst beim Italienbesuch, und auch sein Amtsvorgänger Joachim Gauck sprach kürzlich davon, dass eine Begrenzung von Migration «moralisch nicht verwerflich» sei. «Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen.» Verschiedene demokratische Kräfte müssten jetzt «von ihren Wunschvorstellungen Abschied nehmen».

Es gehört zu den eher ermüdenden Dingen im politischen Geschäft, Milieus mit ausgeprägter Denkverzögerung bei der Ankunft in der Realität beizuwohnen. Acht Jahre nach dem Migrationsherbst 2015 blinzeln Grüne und Teile der linken SPD mühsam in die wahre Welt.

Endlich aufgewacht? Kehrtwende? Willkommen in der Wirklichkeit?

Gemach, gemach! Von einsichtssimulierenden Worthülsen zu praktischem Handeln ist es auch heute ein langer Weg. Es sind vor allem die Bilder aus Lampedusa, die zart an den migrationspolitischen Selbstgewissheiten der Rot-Grünen rütteln.

In der Realität geschieht allerdings erst einmal nichts. Die Bundespolizei greift Tag für Tag im Grenzhinterland mehrere tausend Migranten auf und chauffiert sie als eine Art Shuttle-Service zu den Aufnahmestellen. Die Rückführungsabkommen, von denen Lang spricht, sind nicht ansatzweise in Sicht und beträfen auch nur einen kleinen Teil der Zuwanderer, bei denen die Herkunft geklärt und die Heimat rücknahmebereit ist.

Experten gehen davon aus, dass die Hauptwanderbewegung erst ab jetzt bis zum Jahresende zu erwarten ist und die Bilanz von 2023 auf mehr als 300.000 Neumigranten in Deutschland hinauslaufen wird. Auch die Tatsache, dass offenbar von Russland und Weissrussland gezielt Menschen eingeflogen und von Osten her gen Deutschland geschickt werden, wird weitgehend tatenlos zur Kenntnis genommen. Immerhin baut Polen eine massive Grenzbefestigung.

 

Die Dramatik wird heruntergespielt

Es ist der neuralgische Punkt der Ampelkoalition. Zäune, «Abschottung», «Festung Europa», Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen gelten nach wie vor als Teufelszeug, zumindest bei SPD und Grünen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist als SPD-Spitzenkandidatin im hessischen Landtagswahlkampf bemüht, die Dramatik der Lage an den Grenzen herunterzuspielen und reagiert äusserst dünnhäutig, wenn man sie auf ihre Untätigkeit anspricht. Kein Wunder, dort droht ihr eine krachende Niederlage.

So hat am Ende Altmeister Johann Wolfgang von Goethe das letzte und passende Wort: «Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.» Und dass dies Faust in der Tragödie erstem Teil sagt, passt ebenfalls ins aktuelle Bild.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.