Zum Warmlaufen eine kleine Testfrage: Angenommen, unser Zentralorgan für korrektes Selbstverständnis, das Schweizer Fernsehen DRS, fragte uns, welche helvetischen Glanzlichter wir für «unsere Besten» hielten – wen würden wir nennen? Köbi Kuhn oder Beatrice Tschanz? Henry Dunant oder Nella Martinetti? Pestalozzi oder General Guisan? Winkelried oder Michelle Hunziker? Friedrich Dürrenmatt oder Hans Küng? Albert Anker oder Ruth Metzler? Niklaus Meienberg oder Rolf Knie? Roger Schawinski oder Alberto Giacometti?

Schwierig zu entscheiden? Wir können nicht Äpfel und Birnen vergleichen? Weiche Birnen? Wir wissen nicht, wer wirklich zu «unseren» Besten gehört? Ernesto Bertarelli zum Beispiel, der Alinghi-Superman? Brown Boveri? Albert Einstein – ein Schweizer? Wo die Musiker bleiben? Ernest Ansermet? Kennt doch keiner. Nobelpreisträger?...

Wie haben es denn andere Nationen geschafft? 2002 fragte BBC die Engländer nach den «Great Britons», löste damit eine mittlere Volkserregung aus, doch Ende Jahr stand fest: Nummer eins ist Winston Churchill, vor dem Ingenieur Isambard Kingdom Brunel und der unglückseligen Lady Diana, gefolgt von Darwin, Shakespeare, Newton, Queen Elizabeth I., John Lennon, Lord Nelson... Die amtierende Queen brachte es nicht einmal in die Endrunde.

Und jetzt die Deutschen. Seit August sind sie in wöchentlichen Anläufen eifrig dabei, die Hierarchie ihres nationalen Superlativ-Personals zu ordnen. Dank der Initiative «Unsere Besten» von ZDF und der selbstlosen Mithilfe der Bild-Zeitung. 1600 Personen standen schliesslich zur Auswahl. Am Freitag vergangener Woche klärte das Finale wenigstens die Abfolge der «100 Besten». Hier die Top Ten: 1. Konrad Adenauer, 2. Martin Luther, 3. Karl Marx, 4. Sophie und Hans Scholl, 5. Willy Brandt, 6. Johann Sebastian Bach, 7. Johann Wolfgang von Goethe, 8. Johannes Gutenberg, 9. Otto von Bismarck, 10. Albert Einstein.

Aufklärung bleibt auf der Strecke

«Eine Riege, die sich sehen lassen kann.» Guido Knopp, ZDF-Chefhistoriker und Zeremonienmeister der ersten demokratischen Geschichtsbereinigung, wirkt erleichtert. Sehr verständlich – keine weichen Birnen. Alle haben ihre Spitzenleute auf die vordersten Plätze gebracht: die CDU (Adenauer), die Christen (Luther), die Atheisten (Marx), die Antifaschisten (Geschwister Scholl), die SPD (Brandt), die Bildungsbürger (Bach, Goethe, Gutenberg), die Nationalkonservativen (Bismarck), die Intellektuellen (Einstein). Wundersam austariert strahlt der Kosmos der deutschen Fixsterne. Gibt es auf unserem Planeten ein Volk mit einem personell vergleichbar luziden Firmament?

«Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir», so sah Immanuel Kant die Illuminations-Kondition einer aufgeklärten Gesellschaft. Allein, Kant hatte in diesem Ranking keine Chance, obwohl Guido Westerwelle ihn wärmstens empfohlen hatte. Die Aufklärung mit ihren kritischen Geistern blieb insgesamt auf der Strecke. Goethe – nicht Heinrich Heine, Bismarck – nicht Friedrich der Grosse, Bach – nicht Ludwig van Beethoven, Marx – nicht Kant, Adenauer – nicht Ludwig Erhard. Nichts gegen die Topleute, lauter einsame Klasse, doch auf der Skala der weltanschaulichen Positionen bewegen sich alle – von Einstein mal abzusehen – irgendwo zwischen wertkonservativ und ideologisch. Sie wollen die Deutschen für den richtigen Himmel oder den Himmel auf Erden einnehmen, nicht in die Freiheit entlassen. Ist Deutschland noch die «verspätete Nation», wie Helmut Plessner vor Jahrzehnten behauptete?

Erleichterung der Bildungsklasse

Für solche Fragen interessiert sich in diesen Tagen keine Menschenseele. Zu tief sass bei ZDF und den gesellschaftlichen Eliten die Angst, Deutschland könnte sich bei der Wahl seiner Grössten blamieren, Boulevard-Nudeln wie Verona Feldbusch oder Skandal-Fussballer wie Stefan Effenberg vor Mozart und Schiller und Hegel platzieren. Fehlalarm. Und wenn Guido Knopp nachträglich die «Renaissance der Klassiker» feiert, wird die Erleichterung der gesamten Bildungsklasse hörbar.

Ist das Volk der Dichter und Denker aus der Trash-Narkose aufgewacht? Oder muss man vorsichtiger sagen: Wer in der Gosse liegt, schaut zwischendurch gern mal zu Sternen hoch? Womit beschäftigten sich «die Deutschen» in jüngerer Zeit? «Deutschland» suchte und fand seinen «Superstar» (ein trällernder Schumi-Klon), «wählte» seinen «Mann des Jahres» (Dieter Bohlen), las, wenn überhaupt, in den Autobiografien Boris Beckers (der mit der Elektroschock-Frisur) oder der Naddel (Ex-Gespielin Dieter Bohlens).

Das Volk der Hochkultur hatte definitiv genug vom Klassiker-Image und fand in Daniel Küblböck, der 18-jährigen Quäkstimme, dem Beinahe-RTL-«Superstar», eine zeitgemässe Leitfigur. Er befreite die Boulevard-Nation von ihren kulturellen Altlasten mit einem einzigen Satz – «Goethe? Schiller? Die sind mir alle zu spiessig» – und hob anstelle der Dichterpopanze das Schlagernettchen Nena («99 Luftballons») aufs Podest, mit der wiederum Dirty Dieter Bohlen einen Flirt oder mehr hinter sich zu haben behauptet.

Oder war dies vielleicht gar nicht nach dem Geschmack «der Deutschen», nur nach dem Gusto «der Medien»? Auch in Schweizer Medien taucht Verona Feldbusch entschieden häufiger auf als Ruth Schweikert, hat der Philosoph Jürgen Habermas keinen Zug gegen den Dampfplauderer Thomas Gottschalk. Dank SF DRS sucht auch «die Schweiz» ihren «Music-Star». Jede Gesellschaft hat die Leuchtfiguren, die sie verdient. Einst waren es die Krieger (die Tat!), dann – im Zeitalter der Religionen – die Priester (das gesprochene Wort!), danach – im Zeitalter des Buchdrucks – die Intellektuellen (das geschriebene Wort!). Im Zeitalter des Fernsehens sind es die Prominenten (das Bild!). Ob sie etwas leisten oder überhaupt können, spielt keine Rolle. Es genügt, dass sie omnipräsent, also bekannt sind.

Diese Logik der Medienökonomie wollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk ZDF (Kulturauftrag!) mit der Volksbefragung «Unsere Besten» unterlaufen. In einer Anwandlung homöopathischen Exorzismus nahm es sich vor, die kulturelle Verluderung, die das Fernsehen Hand in Hand mit der Boulevardpresse über das Volk gebracht hat, durch das Fernsehen wieder zu tilgen. Dabei misstraute es allerdings den im Volk schlummernden Selbstheilkräften. Sonst hätte es nicht jeder hochkulturellen Glanzfigur einen prominenten «Paten» zur Seite gestellt. Dass sich Alice Schwarzer für die Widerstands-Geschwister Scholl engagierte, sie auf Rang vier brachte, das mochte noch gehen. Anders war das Handicap der toten Grössen, im Studio nicht herumalbern zu können, kaum wettzumachen. Im Duett mit Bohlen hätte Beethoven ohnehin keine Chance gehabt. Dass aber ausgerechnet Nina Ruge, die TV-Blondine für Stars & Glamour, das unordentliche Genie Einstein bemutterte und auf Platz 10 pushte, entsprach schon wieder der ordinären Fernsehlogik «Promi = Erfolg».

Eine Zeitlang sah die Hitliste auch ganz nach der besagten Logik aus. Zeitgeist-Grössen wie Harald Schmidt und Dieter Bohlen machten sich schon Hoffnung auf Top-Ten-Plätze, bei Handy- und Internet-Wählern hatten sie kräftig gepunktet. Dann flatterten die Postkarten (Gutenberg-Zeitalter!) ins ZDF, und die beiden rutschten ab, Bohlen auf Rang 30, Schmidt auf Platz 41.

Auch die definitive Hierarchie enthält ein paar Wunderlichkeiten, die nicht so recht zum Stolz auf die Bildungsnation passen. Daniel Küblböck, die angesprochene Nullnummer, sitzt ziemlich schräg auf Rang 16 – vier Plätze hinter Beethoven, aber vor Albert Schweitzer (18) und Wolfgang Amadeus Mozart (20), der es nur knapp schaffte, Thomas Gottschalk (24) und Michael Schumacher (26) zu distanzieren. Friedrich der Grosse, für Deutschlands Aufklärung unendlich wichtig, liegt abgeschlagen auf Platz 42, hinter Jan Ullrich (31), Steffi Graf (32), Franz Beckenbauer (36), deren Reputation auch Gerhard Schröder (82) in den Schatten stellte.

Nun ist selber schuld, wer solche «Wahlen» ernst nimmt. Die Redeweisen «Deutschland sucht...», «Deutschland wählt...» stapeln zu hoch. In Wirklichkeit hatte das Land am Abend des «Die grössten Deutschen»-Finales 82540137 Einwohner, bei ZDF stimmten 3300000 ab. Weitere fünf Millionen waren auf RTL 2 mit der zweiten Staffel «Deutschland sucht den Superstar» beschäftigt. Die Deutschen wiederum, die zwischen Otto Bismarck, dem Spitzhauben-Kanzler, und der «Bismarck», dem 1941 versenkten Schlachtschiff, tatsächlich unterscheiden können, waren vermutlich gerade im Kino oder in der Oper oder lasen Die Zeit, sahen folglich die Telefonnummern gar nicht, die ZDF dauernd einblendete und die zum Wählen animierten.

Schabernack mit dem Götterhimmel

TED hiess das Verfahren früher und bedeutete schlicht «telefonischer Dialog», heute heisst es «Tele-Voting». Was der Sender als total basisdemokratisches Format verkauft, ist bloss die Diktatur der Repeat-Taste, der Lobbyisten und Fan-Gemeinden – und des Geldbeutels. Denn jeder Anruf zählt nicht nur, er kostet auch. Jedes professionelle Meinungsforschungsinstitut hätte für die Suche nach den «besten Deutschen» 1000 ausgewählte Leute gefragt – und verlässlichere Ergebnissen gebracht.

Allerdings hätte die Frage dann nicht den ganzen Herbst hinweg Millionen von Köpfen durchlüftet, die sonst nicht im Traum an Marx und Bach, schon gar nicht an die Scholls denken. Und die Briten hätten nicht ihren Schabernack mit dem germanischen Götterhimmel treiben können. Bei TV-Übertragungen von Fussballspielen zwischen englischen und deutschen Mannschaften tricksten sie mit Vorliebe Bismarck und Shakespeare in die Aufstellungsgrafiken, liessen den Eisernen Kanzler stolpern, ihren Nationaldichter aber tanzen.

An all dies denken wir in der Schweiz besser beizeiten. Zweifellos wird unser Fernsehen irgendwann, vermutlich nach den Isländern, nach den «grössten Schweizern» fragen.