«Im Militär ist der bestimmt Korporal», flüsterte Mirko Milatovic.

Dass er es nicht laut sagte, hatte nichts mit Schüchternheit zu tun. Wenn es darum ging, das Maul aufzureissen, hatte der Verteidiger noch nie Hemmungen gekannt. Aber jetzt reichte die Luft in seinen Lungen einfach nicht für mehr.
Heute war ein Krähenbühl-Tag, und es gab wenig, was die Spieler so hassten, wie wenn der Assistenztrainer ihre Fitnessübungen leitete. Der Trainer schaute sich irgendwo ein hochgelobtes Jungtalent an, und Krähenbühl genoss die geborgte Macht. Es machte ihm sichtlich Spass, die Spieler, die so viel mehr verdienten als er, einmal nach Strich und Faden schikanieren zu dürfen. Seine Kommandos würzte er mit sarkastischen Kommentaren, über die allerdings nur die ganz jungen Nachwuchsspieler lachten. Die hätten noch ganz anderes auf sich genommen, um ihre Chancen zu verbessern, irgendwann einmal in der Startaufstellung der Mannschaft zu figurieren.
«Ich kann mir ihn gut in Uniform vorstellen», flüsterte Tom Keita zurück. «Aber doch eher als Briefträger.»
Mirko lachte, und das war ein grosser Fehler. Krähenbühl hatte zwar nicht gehört, was sie gesagt hatten, aber gute Laune war ihm bei seinen Trainings generell suspekt.
«Ach, die Herrschaften amüsieren sich? Da muss ich wohl auch etwas zum allgemeinen Vergnügen beitragen und die Frequenz ein bisschen erhöhen.»
Ein allgemeines Stöhnen war die Antwort, was Krähenbühl befriedigt zur Kenntnis nahm. Er hatte für heute eine nicht enden wollende Serie von Temposprints angesetzt, und die Verschnaufpausen waren schon vorher so kurz gewesen, dass sie nicht mal zu einem richtigen Durchatmen reichten. Jetzt wurden sie noch kürzer.
«Los!», rief Krähenbühl.
Tom musste die Zähne zusammenbeissen, um nicht hinter Mirko zurückzubleiben. Bei dem Fototermin auf dieser doofen Insel war Klara Holzer auf den neckischen Gedanken gekommen – «Das wird meinen Lesern bestimmt gefallen!» –, dass er sich am Strand schlafend stellen und Claudia ihn im Sand eingraben sollte. Und dabei hatte ihn irgend so ein giftiges Insekt in den Hintern gestochen. Die Schwellung war immer noch nicht ganz abgeklungen.
«Tempo, Tempo!», rief Krähenbühl. «Slow Motion gibt’s im Fernsehen, aber nicht im Training.»
«Irgendwann bring ich ihn um», keuchte Mirko.
«Ich helfe dir dabei», keuchte Tom zurück.
Wahrscheinlich hätte Krähenbühl noch zehn Mal «Los!» gerufen, wäre da nicht plötzlich ein fremder Mann aufgetaucht.
Rannte einfach quer über den Trainingsplatz. Direkt auf Tom zu.
«Ein wildgewordener Fan», dachte der zuerst. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Anhänger des Klubs aus lauter Begeisterung über den Zaun kletterte. Allerdings trugen die typischen Trainingszuschauer nur selten Anzug und Krawatte.
Der Mann kam bei ihm an und streckte ihm etwas entgegen. Es war aber nicht das erwartete Autogrammbuch, sondern ein Handy.
«Ein Anruf für Sie, Herr Keita», sagte er und war nach der kurzen Strecke über das Feld so ausser Atem, als ob er sämtliche Temposprints mitgemacht hätte.
Noch bevor Tom das Telefon nehmen konnte, kam Krähenbühl herbeigestürmt. «Was fällt Ihnen ein?», schrie er den Störenfried an. «Das ist doch hier kein öffentlicher Spazierweg! Wer sind Sie überhaupt?»
«Schneebeli ist mein Name.» Der Mann richtete seine vom Rennen verrutschte Krawatte. «Ich bin der neue Leiter Öffentlichkeitsarbeit.»
Er war also nicht über den Zaun geklettert, sondern nur vom Klubhaus herübergekommen.
«Und was wollen Sie hier? Das Training stören? Ich wusste gar nicht, dass das die Aufgabe von euch Werbefritzen ist.»
«Herr Keita wird am Telefon verlangt.»
Krähenbühl, der schon von Natur aus einen roten Kopf hatte, lief noch dunkler an. «Telefon? Mitten im Training? Jetzt hören Sie mal gut zu, Herr Schneebeli! Mit Ihrem verdammten Telefon können Sie von mir aus den Papst beim Beten stören oder den Bundesrat beim Regieren. Aber nicht mein Training! Wenn Sie nicht null Komma plötzlich hier verschwinden . . .»
Seine Schimpfkanonade wäre wohl noch ein Weilchen so weitergegangen, wenn Schneebeli nicht das Zauberwort gesagt hätte. Das einzige Wort, das die Macht hatte, Krähenbühl sofort zum Verstummen zu bringen.
«Eidenbenz», sagte Schneebeli.
«Was?»
«Herr Eidenbenz will mit Herrn Keita sprechen. Und zwar sofort.» Wieder streckte er dem immer noch zögernden Tom das Handy hin.
«Wenn es denn unbedingt sein muss», grummelte der Assistenztrainer. Er sah demonstrativ auf die Uhr, und als Tom immer noch zögerte, fauchte er ihn an: «Jetzt nimm das Handy schon, Keita! Oder brauchst du eine spezielle Einladung? – Und die andern: los, los, los! Wir sind hier nicht auf dem Pausenplatz!»
Und die Sprints gingen wieder los.
«Ja, hallo?»

«Keita!» Eidenbenz hatte lange warten müssen und brüllte jetzt umso mehr. «Verdammt noch mal, Keita! Wie konnte das passieren?»

Tom war so verwirrt, dass er zuerst meinte, der Vereinspräsident wolle sich nach dem Insektenstich an seinem Hintern erkundigen. «Es war bei diesen Fotoaufnahmen», begann er deshalb. «Für die Schweizer Illustrierte. Frau Holzer wollte, dass ich mich in den Sand lege, und da . . .»
«Frau Holzer! Natürlich! Und du musstest bei ihr natürlich das Maul aufreissen!»
«Nein, ich sollte mich schlafend stellen und Claudia . . .»
«Dabei hatte sie mir in die Hand versprochen, die Sache noch nicht zu publizieren.»
«Claudia?»
«Die Süssholzer! Und sie hätte sich auch daran gehalten. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir so einen Deal miteinander machen. Aber wenn du natürlich den Mund nicht halten kannst und ihr alles erzählst . . .»
«Was sollte ich ihr denn . . .?»
« . . . dann ist sie an unsere Abmachung nicht mehr gebunden. Dann bist du eine unabhängige Quelle, und ich kann ihr noch nicht einmal an den Karren fahren, wenn sie einen Artikel daraus macht!»
«Ich verstehe nicht . . .» Klara Holzer hatte doch gar nichts über den Insektenstich an seinem Hintern geschrieben.
Aber Eidenbenz war nicht in der Stimmung für Erklärungen. Zuerst musste er sich einmal leer schimpfen.
«Die Frau ist nicht blöd. Sie wusste, dass ich sauer werden würde, und hat es deshalb schlauerweise nur in ihrem Blog gemacht. Da kann sie immer abstreiten, dass sie überhaupt etwas damit zu tun hat. Obwohl natürlich jeder weiss, wer hinter dieser Kassandra steckt!»
«Kassandra? Blog?»
«Hast du das noch gar nicht mitbekommen? Ja, schaust du eigentlich überhaupt nie ins Internet?», brüllte Eidenbenz.
Tom hätte erklären können, dass er das Internet eigentlich nur benutzte, um die Namen seiner Kollegen aus Guinea zu googeln, um festzustellen, wie es ihnen, dem Feinduno, dem Thiam und dem Jabi, bei ihren verschiedenen europäischen Vereinen erging. Aber er schwieg lieber, und die Frage war sowieso nur rein rhetorisch gewesen. Eidenbenz schimpfte schon wieder weiter.
«Der ganze Effekt verpufft! Und wofür? Für nichts und wieder nichts! Am liebsten würde ich die ganze Aktion abbrechen.»
«Welche Aktion?»
Es dauerte eine ganze Weile, bis Tom begriff, über was sich Eidenbenz so aufregte. Die Idee, dass er Schweizer werden sollte, war vorzeitig publik geworden, und aus irgendeinem Grund schien das den Vereinspräsidenten furchtbar zu ärgern.
Hinter ihm trainierten seine Kollegen unterdessen Sprints.
«Wirklich, Herr Eidenbenz, ich habe mit niemandem auch nur ein Wort . . .»
Er brach mitten im Satz ab, was Eidenbenz zum Glück nicht bemerkte. Ihm war plötzlich eingefallen, dass «mit niemandem ein Wort» nicht wirklich stimmte. Er hatte mit jemandem darüber gesprochen. Mit Mirko Milatovic. Aber nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit, und Mirko würde doch niemals . . .
Eidenbenz’ Explosionen dauerten nie lange, und er fing schon wieder an, sich abzuregen. «Kann man nichts machen», sagte er. «Das Kind liegt im Brunnen, und künstliche Beatmung wird auch nicht mehr viel nützen. Nun ja, mir wird schon etwas einfallen. Aber du hast mich sehr enttäuscht, Keita. Wirklich sehr enttäuscht.»
Klick.
Tom hätte das Handy wohl noch ein ganzes Weilchen angestarrt, aber Krähenbühl stand schon neben ihm. «Schau an», sagte er sarkastisch, «der Herr Keita hat seine geschäftlichen Besprechungen tatsächlich schon beendet. Wie überaus freundlich von Ihnen. Wenn Sie uns also die Ehre geben wollten, an unseren bescheidenen Übungen wieder teilzunehmen?»
Diesmal lachten nicht einmal die Nachwuchsspieler.
Herr Schneebeli von der Öffentlichkeitsarbeit nahm sein Handy wieder entgegen und marschierte quer über den Platz in Richtung Klubhaus. Er tat es sehr viel langsamer als bei seiner Ankunft. Seine feinen Schuhe waren wirklich nicht für Rasen gemacht.
Während des ganzen restlichen Trainings war Tom nicht bei der Sache. Beim abschliessenden Spiel vier gegen vier wurde er ein Mal übers andere umdribbelt und musste sich von Krähenbühl noch mehr bissige Kommentare anhören. Aber Ärger mit dem Assistenztrainer zu haben, war nicht weiter schlimm. Ärger mit Eidenbenz, das war ein echtes Problem. Denn es war Eidenbenz, der die Verträge mit den Spielern abschloss und unterschrieb.
Oder eben nicht unterschrieb.
Nach dem Training, nahm sich Tom vor, musste er Mirko unbemerkt zur Seite nehmen. Nicht um herauszufinden, ob sich sein Kollege irgendwo verplaudert hatte. Das war jetzt gar nicht mehr wichtig. Aber Mirko war der Einzige, der ihm wahrscheinlich einen vernünftigen Rat geben konnte. Wegen Eidenbenz und wegen der Einbürgerung und überhaupt.
Er kam nicht dazu. Vor dem Klubhaus lauerte die Reporterin eines Lokalradios, streckte ihm ihr Mikrofon ins Gesicht und überschüttete ihn mit einem Wasserfall von Fragen. Ob die Meldung heute im Internet stimme. Wann es definitiv so weit sein werde. Ob sich Ottmar Hitzfeld schon bei ihm gemeldet habe. Und ob er nicht so gut sein wolle, seine neue eidgenössische Identität auch praktisch unter Beweis zu stellen und einmal kurz ins Mikrofon zu jodeln. Oder zumindest «Chuchichäschtli» zu sagen.
Als er sie endlich abgeschüttelt hatte, war Mirko bereits weggefahren. Und Tom graute davor, das Problem jetzt mit Claudia besprechen zu müssen.