Die Mimose wittert bereits Missachtung, wenn der Nachbar im Treppenhaus morgens nur ein halbwaches «Hallo» knurrt. Sie kommt schlechtgelaunt ins Büro, weil der Portier, der gerade am Telefon war, ihr nicht grüssend zunickte. Als der Chef sie in der Konferenz am Vormittag anblafft, so viel Ideenlosigkeit sei doch nicht menschenmöglich, ist sie waidwund. Zwar hat der Chef nicht nur sie angeherrscht, sondern alle, die stumm in der Konferenz sassen. Aber sie nimmt es so persönlich, als habe der Tadel nur ihr gegolten. Und ist für den Rest des Tages unansprechbar.
Jeder kennt sie, die überempfindlichen Bürokolleginnen, deren Antennen für jedwede Kritik, real oder nicht, ständig ausgefahren sind. Sie sind zahlreich, tüchtig und meist überhaupt nicht unsympathisch. Aber sie können offenbar nicht anders, als jeden schrägen Blick, jeden unterlassenen Gruss und jede üble Laune als Vorwurf an sich zu empfinden. Nach Konferenzen, bei denen der Chef miese Stimmung hatte, fallen in Betrieben überall mehr oder weniger dieselben Sätze. Die Männer sagen gelassen: «Der Chef hat wieder einmal einen schlechten Tag.» Die Frauen sind wütend: «Das lass ich mir nicht mehr gefallen. Ich sag in der Sitzung kein Wort mehr.» Was wiederum bei den Männern regelmässig Verwunderung auslöst. Wieso glauben Frauen immer, Kritik sei gegen sie persönlich gerichtet? Und selbst wenn sie tatsächlich kritisiert werden: Wo ist das Problem? Es geht um Arbeit, nicht um Beziehungsdiskussionen. Warum reagieren Frauen häufig, als werde nicht eine bestimmte Leistung in Frage gestellt, sondern gleich ihre ganze Person?
Dass das Selbstbewusstsein der Frauen sich selten mit dem der Männer messen kann, wenn es um die Einschätzung der eigenen beruflichen Stärken geht, belegen seit Jahrzehnten Dutzende von Studien. Männer können sich gelassen anpreisen, ohne deswegen arrogant zu wirken. Die meisten Frauen sind dabei weitaus zögerlicher. Sie empfinden das, was sie beruflich zu bieten haben, nicht als besondere Assets, sondern als normal. Auf die Frage, warum in SRF-Sendungen so wenig Frauen auftreten, antwortet «Club»-Redaktionsleiterin und Moderatorin Karin Frei: «Ich bin immer bemüht, Frauen dabeizuhaben. Aber Frauen trauen sich weniger zu. Nicht selten sagen sie: ‹Lieber nicht, ist nicht zu hundert Prozent mein Thema.› Der Mann in derselben Situation sagt: ‹Ist zwar nicht zu hundert Prozent mein Thema, aber doch, doch, dazu kann ich schon etwas sagen.›» Dasselbe, sagt Karin Frei, sei auch in den Diskussionsrunden selber oft der Fall: «Frauen nehmen sich zurück, obwohl sie mehr zu sagen hätten. Oft animieren wir sie vor der Sendung, sich voll in die Diskussion einzubringen. Klappen tut es bei weitem nicht immer.»
Marianne Gilgen, im Oktober abtretende Redaktionsleiterin der «Arena», hat ähnliche Erfahrungen gemacht: «Frauen geben uns viel öfter einen Korb als Männer. Frauen sind zu bescheiden oder ängstlich und weisen uns an einen Kollegen weiter, der qualifizierter sei als sie.» Unvergessen die Antwort von Roger Schawinski auf die Frage, warum er in seiner Fernsehsendung «Schawinski» so selten Frauen interviewe: Es sei, sagte er, «in der Schweiz einfach schwierig, spannende Frauen zu finden. Frauen nehmen in unserer Gesellschaft zu selten spannende Positionen ein.» Das ist zwar eine peinlich-dreiste Behauptung, aber richtig daran ist, dass viele spannende Frauen sich keinen aggressiven Schlagabtausch vor der Kamera zutrauen oder zumuten. Die Frauenstärken am Arbeitsplatz heissen nicht umsonst Soft Skills: emotionale Intelligenz, Kommunikation, Beobachtungsgabe, Empathie, Organisation, Delegation – all jene sozialen Kompetenzen, die angeblich in Betrieben so hoch geschätzt werden und mit denen Frauen dennoch nur selten auf einen grünen Zweig kommen.
Die Frage ist, wie sich beruflich kompetente Frauen, die Karriere machen wollen, das nötige Auftreten und die Selbstsicherheit aneignen können, die männliche Vorgesetzte als aufstiegstauglich erachten. Dass Frauen die Antworten noch immer nicht kennen oder kennen wollen, obwohl schon seit Jahrzehnten die überwiegende Mehrheit von ihnen berufstätig ist, kann kein Zufall sein.
Sich am Arbeitsplatz so zu benehmen, dass Männer einen als potenzielle Konkurrentin respektieren, ist, wie eine Fremdsprache lernen zu müssen, an der man eigentlich kein Interesse hat. Wieso sollen Frauen männliche Machtspiele mitspielen können, die ihnen schon immer etwas lächerlich vorkamen? Wieso darf man Vorschläge nicht in Frageform ausdrücken, sondern muss behaupten, dass es sich um ultimative, grossartige Ideen handelt? Fragen würden Diskussionen auslösen, was viel spannender wäre. Aber nein, jeder Berater trichtert karrierewilligen Frauen ein, Vorschläge in Frageform seien ein No-go, weil sie schwächlich wirken.
Genauso warnen sie natürlich davor, irgendetwas, was im Betrieb passiert, persönlich zu nehmen, weil das am Arbeitsplatz Unfug sei. Gefühle im Betrieb seien unerwünscht. Unerwünscht? Wer gelegentlich in Sitzungen die Aggressivität zwischen Männern beobachtet, denkt, Frauen seien das eindeutig rationalere Geschlecht. Nur weil keiner beleidigt tut, sondern um ein noch grösseres Killerargument ringt, ist das noch lange nicht unemotional.
Für Frauen und Männer, die gerne berufstätig sind, hat Arbeit viel mit Herzblut zu tun. Warum sind ausser Aggressivität nur Coolness und Sachlichkeit zulässig? Fakten, Zahlen, Messbarkeiten kann man in E-Mails auflisten. Dafür brauchte es aus weiblicher Sicht keine Begegnungen. Braucht es aber, weil man dabei steil herauskommen kann. Der männliche Drang, sich zu produzieren, obwohl es viele zeitsparende Methoden gäbe, ist beachtlich.
Es gibt berufstätige Frauen, die sich Anerkennung durch ein Höchstmass an Aggressivität zu verschaffen versuchen. Sie werden häufig laut, um klarzumachen, dass man sie nicht unterschätzen soll. Oft sind ihre Argumente gut, aber sympathisch findet sie niemand, weder Frauen noch Männer. Und Karriere machen sie auch nicht. Auch nicht die, die sich mit Männern kumpelhaft verhalten, kein Wort über ihr Privatleben verlieren, nichts persönlich zu nehmen scheinen und am liebsten über Eishockey und Fussball reden. Es ist eine Anbiederung, die Männer nicht schätzen. Die meisten Männer spielen Fussball, seit sie zwei sind. Auch wenn eine Frau sämtliche Fussballergebnisse vom letzten Sonntag kennt und jeden Eishockeymatch verfolgt, wird sie nicht in den Boys-Klub aufgenommen. Man hält ihre sportlichen Interessen für einen billigen Trick, um dazuzugehören. Meist stimmt es. Frauen, die gelegentlich einen Kuchen in die Firma mitbringen, weil man sie dafür mögen wird, tun sich ebenfalls keinen Gefallen: Der Kuchen ist im Nu weggegessen und an ihren Aufstiegschancen hat sich nichts geändert. Sie ist nur die Kollegin mit dem feinen Kuchen.
Der beste Rat für Frauen mit Ambitionen auf Karriere ist der alte amerikanische Spruch: «Fake it till you make it – Tu so, als ob, bis du es kannst.» Irgendwann wird die Erwähnung deiner Stärken so selbstverständlich anerkannt, dass du sie selber respektierst. Dein Mantra, dass nichts bei der Arbeit persönlich gemeint ist, wird dir glaubwürdig, weil du herausfindest, dass es wirklich so ist. Der Prozess erfordert eine Menge Verbiegungen. Eigentlich wundert man sich nicht, dass viele Frauen ihre Karrieren aufgeben, weil der Preis zu hoch ist.
Übrigens: Wenn Männer und Frauen zu Hause streiten, wird meist die Frau laut und der Mann läuft irgendwann davon und knallt die Tür hinter sich zu. Sein Stress-Level ist durch den Streit ungleich höher als ihres, und er kommt viel langsamer herunter als sie. Frauen finden solche Gespräche befreiend und glauben, sie hätten die Partnerschaft gestärkt, man sei sich nähergekommen. Die meisten Männer hassen sie. Es ist nicht überraschend, dass Männer am Arbeitsplatz, wo sie die Mehrheit bilden, so viel dransetzen, Frauen nach ihren Regeln zu disziplinieren.