Es war fast Mitternacht, und in den meisten Büros waren die Lichter gelöscht worden. Die Sekretärinnen und Sachbearbeiter waren längst gegangen und in ihre Wohnungen in den Vorstädten von Moskau zurückgekehrt.

Leo Trotzki war als Einziger in seinem Büro geblieben, konzentrierte sich allerdings nicht mehr auf seine Arbeit als Führer der Roten Armee. Seine Gedanken galten einzig der Frau, die ihm gegenübersass. Mit ihren riesigen Augen und den hohen Backenknochen sah sie typisch slawisch aus, doch an Clare Sheridan war nichts Russisches. Sie war halb Engländerin, halb Amerikanerin. Die begabte Bildhauerin war nach Moskau gekommen, um eine Reihe wichtiger Auftragsarbeiten auszuführen.

Ihre Reise im Herbst 1920 weckte sofort das Interesse des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5. Russland war eine feindliche Macht, und die britische Regierung suchte Reisen dorthin zu verhindern. Viele im Geheimdienst befürchteten, Clare Sheridan sympathisiere mit der neuen kommunistischen Regierung.

Es gab aber einen zwingenderen Grund für die Besorgnis der MI5-Leute: Sheridan war eine Cousine ersten Grades von Winston Churchill. (Ihre Mutter, Clarita Jerome, war die Schwester von Churchills Mutter, Jeanette Jerome.) Deswegen könnte sich ihre Reise extrem schädlich auswirken. Churchill war der lautstärkste Vertreter eines militärischen Schlags gegen Russland und hatte in zahllosen Reden seinen tiefen Hass auf die Bolschewiken geäussert.

«Von allen Tyranneien», sagte er, «ist die bolschewistische Tyrannei die schlimmste, destruktivste und entwürdigendste.»

Clare Sheridan hatte nichts getan, um ihre Reise nach Moskau zu verheimlichen, aber sie hatte auch niemandem erzählt, dass sie den Auftrag habe, Skulpturen von einigen der führenden Köpfe der Revolutionsregierung wie Lenin, Trotzki, Dserschinski und Kamenew anzufertigen.

Trotzki hatte sich zunächst geweigert, für eine Cousine des verhassten Winston Churchill Modell zu sitzen, doch nach der Begegnung mit Sheridan hatte er sich eines anderen besonnen. Als sie mit ihrem Greifzirkel seinen Kopf vermass, blitzte er sie an und sagte: «Sie liebkosen mich mit Werkzeugen aus Stahl.»

Sheridan besuchte Trotzki abends, wenn das Ministerium verlassen war. Schon bald hatte sie ihn völlig in ihren Bann gezogen. «Auch wenn Sie auf die Zähne beissen und mit Ihrer Arbeit ringen, bleiben Sie eine Frau», sagte er ihr.

Es war ein Kampf, ihn dazu zu überreden, seinen Zwicker abzulegen, doch schliesslich siegte sie. «Es war, als schmerze es ihn körperlich, ihn abzunehmen», schrieb sie später. «Er war Teil von ihm geworden, und dessen Verlust veränderte seine Persönlichkeit von Grund auf.»

Sowohl der Künstlerin wie ihrem Modell war klar, dass es zwischen ihnen knisterte, und so war Trotzki am Schluss einer ihrer nächtlichen Sitzungen ohne weiteres bereit, sich auszuziehen und ihr «seine prächtige Hals- und Brustpartie» zu präsentieren.

Clare Sheridan war seit langem eine Vertreterin der freien Liebe und machte daraus kein Hehl. Bald schon kursierten in Moskau Gerüchte, sie und Trotzki hätten eine Affäre.

Einem weiteren Gerücht gemäss hatte Sheridan gleichzeitig auch eine Affäre mit Lew Kamenew, einem wichtigen Mitglied des Politbüros. Begegnet waren die beiden einander erstmals, als Kamenew im Sommer 1920 zur Förderung des sowjetischen Handels nach London gereist war. Er hatte Sheridan in teure Restaurants ausgeführt, zum grossen Ärger seiner Frau.

«In Moskau führen wir kein so schickes Leben», waren ihre eisigen Worte, als ihr Mann nach Russland zurückkehrte. Noch frostiger war ihre Begrüssung von Clare Sheridan, der sie erklärte, England habe ihren Mann in ein Mitglied der verhassten Bourgeoisie verwandelt.

Es ist nicht bekannt, ob Clare Sheridan und Trotzki ihre Affäre je ausgelebt haben. Falls ja, muss es eine kurze Sache gewesen sein. Sheridan blieb nur ein paar Wochen in Moskau, bevor sie nach England zurückkehrte. Mittlerweile hatten die Agenten vom MI5 sie wirklich im Visier: Sie hörten ihre Telefongespräche ab, fingen ihre Briefe ab und überwachten all ihre Bewegungen.

In ihrer Akte wird sie dauernd des Verrats bezichtigt. «Sie hat sich in verschiedenen Ländern illoyal verhalten und ständig eine antibritische Haltung eingenommen.»

Jede weitere Entwicklung brachte Churchill erneut in die Bredouille. 1922 entdeckte der MI5, dass Sheridan Kontakt mit indischen Nationalisten in Lausanne hatte und über den diplomatischen Dienst der Russen private Briefe erhielt.

Als sie nach Italien reiste, wurde sie von britischen Agenten verfolgt, die festhielten: «Sie äusserte sich nicht nur freimütig als Befürworterin des Bolschewismus, sondern versuchte auch manche der Gäste von dessen Vorteilen, besonders in Verbindung mit freier Liebe, zu überzeugen.»

Letztere praktizierte sie in der Tat. Als sie in Istanbul war, nahm sie einen gewissen Ismet Bey zum Liebhaber, einen bekannten politischen Agitator, der sich lautstark für einen Sturz der britischen Herrschaft in Indien einsetzte.

Diese Unüberlegtheiten hätte Churchill seiner Cousine vielleicht noch verziehen, doch dann übertrieb sie es, wie ein Informant des MI5 beobachtete: «Sie scheint in letzter Zeit überall in Deutschland unterwegs zu sein und war in München bei einer von Hitlers Kundgebungen zugegen. Sie war sehr beeindruckt von der ausserordentlichen Begeisterung, die Hitler mit einer ausserordentlich blutrünstigen Rede bei 10 000 Zuhörern entfachte.»

Auch in Deutschland versuchte sie, ihre Ansichten über freie Liebe in die Tat umzusetzen, allerdings ohne Erfolg. «Sie stellte fest, dass der Deutsche für ihre Reize keineswegs so empfänglich war wie der Russe, was sie sehr bedauerte.»

Im Jahre 1925 ergaben abgehörte Telefongespräche, dass sie Norman Ewer, dem Auslandredaktor des Daily Herald und einem bekannten Agenten der Sowjets, Details ihrer Gespräche mit Churchill, dem damaligen Finanzminister, weitergegeben hatte. Als sie später im selben Jahr nach Algier zog, kam der MI5 zum Schluss, sie stehe im Solde der Sowjets.

«In Anbetracht ihrer finanziellen Situation sind wir entschieden der Meinung, Clare werde von den Russen bezahlt und sei nach Nordafrika geschickt worden, um sich mit der dortigen Situation vertraut zu machen und als Agentin Bericht zu erstatten oder Nachrichten weiterzugeben.»

Der Leiter des MI5, Vernon Kell, sprach schliesslich bei Churchill vor und berichtete ihm von dem Beweismaterial, das man gegen Sheridan gesammelt hatte. Churchill sagte, er sei «bereit, all das zu glauben», und «bereit, alles zu unternehmen», was der MI5 für nötig halte.

Obschon Clare Sheridans Techtelmechtel mit Trotzki, Kamenew, den Nazis und das Praktizieren der freien Liebe Churchill immer wieder in peinliche Situationen brachten, brach er den Kontakt zu seiner launischen Cousine nie völlig ab. Ja, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er ihr ihre einstigen Missetaten verziehen und erlaubte ihr sogar, eine Büste von ihm anzufertigen.

Der MI5 war weniger nachsichtig: Der Geheimdienst behielt das schwarze Schaf des Churchill-Clans weiter im Auge und fing noch jahrelang dessen Post ab.

 

Giles Milton, 52, ist Historiker und Bestsellerautor. Seine Werke wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Er schreibt an dieser Stelle wöchentlich über «Mysterien der Weltgeschichte». Der «Meister der Geschichtserzählung» (Sunday Times) lebt in London und im Burgund. www.gilesmilton.com

Aus dem Englischen von Thomas Bodmer

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