Der Saal ist etwa zur Hälfte gefüllt, das Publikum besteht vorwiegend aus Jugendlichen, Typus Kunststudent, mit Trainerjacken aus dem Secondhandladen. Auf der Bühne spielen die Schauspieler den Science-Fiction-Film «Matrix» nach, was sie aber erst vor wenigen Stunden erfahren haben. Für den «Theaterschnellschuss mit Kultpotenzial» (Eigendeklaration) wird kaum geprobt, die Darsteller müssen improvisieren, sich in lustige Kostüme stürzen, herumalbern. Die Zuschauer lachen vor allem dann, wenn eine Szene gründlich misslingt. Es herrscht eine Stimmung wie an einem bunten Abend in einem Jugendtreff.

Willkommen im Theater Neumarkt, einer der höchstsubventionierten Bühnen der Welt, wo auf jede verkaufte Eintrittskarte der Steuerzahler nochmals 464 Franken drauflegt.

Zugegeben, dieser zufällig gewählte Augenschein am Freitagabend ist vielleicht nicht ganz repräsentativ: Es gibt auch aufwendigere und ernsthaftere Produktionen als ­dieses «Film­karaoke mit echten Schauspielern» im Theater Neumarkt. Und doch steht dieser Abend für ein Theater, wo die Kosten für die Allgemeinheit zum Dargebotenen in keinem Verhältnis stehen. In der vergangenen Spielzeit – der ersten unter dem Direktorenduo Ralf Fiedler und ­Peter Kastenmüller – hat sich die Anzahl Eintritte gegenüber dem Vorjahr auf 10 700 halbiert, die Ticketeinnahmen sind gar um sechzig Prozent eingebrochen – eine desaströse Bilanz.

Das Theater Neumarkt gehörte, gemessen am Publikumserfolg, mit öffentlichen Beiträgen von fünf Millionen Franken schon vorher zu den höchstsubventionierten Bühnen der Schweiz. Mittlerweile generiert das Theater nur noch zehn Prozent seiner Einnahmen selbst, das heisst durch Karten- und Sponsoren­einnahmen. Zum Vergleich: Das ebenfalls in Zürich stationierte Theater Rigiblick erhielt letzte Saison mit rund 300 000 Franken nicht einmal einen Zehntel der Subventionen des Theaters Neumarkt, ­lockte aber fast dreimal so viele Zuschauer an.

Die Kodirektoren Fiedler und Kastenmüller beschönigen nichts, glauben aber, dass sie ihr Publikum noch finden. «Das soll nicht als Ausrede gelten, aber wir haben diese Saison mit doppelt so vielen Besuchern begonnen wie im Vorjahr», sagt Fiedler. Wie begründen sie die hohen Subventionen für das Theater? Den beiden fällt es schwer, eine Antwort zu finden, die über Allgemeinplätze hinausgeht: Man bilde ein «Gegengewicht zur Eventisierung», sei ein «Ort der Konzentration», hinterfrage den bürgerlichen Bildungskanon, sagen sie. Im Vergleich zu den grossen Stadttheatern sei das Theater Neumarkt eine Manufaktur, und die habe auch ihre Existenzberechtigung.

Selbst der Direktor wollte die Schliessung

Einst wäre die Bühne fast geschlossen worden. 1993 entschied die Stadtzürcher Regierung, das Theater am Neumarkt zu schliessen. Doch die Kulturszene begehrte auf, protestierte, der Entscheid wurde in der Folge zurückgenommen. Die damals neu eingesetzten Direktoren Stephan Müller und Volker Hesse liessen sich von der Sympathiewelle mittragen und führten das kleine Theater zu einem nie dagewesenen Höhenflug. Es war die grosse Zeit des ­Theaters im Zürcher Niederdorf, Urs Widmers Welthit «Top Dogs» entstand in jenem Umfeld, das Haus wurde international bewundert, der Saal war meist voll.

Dass es sich um einen Ausnahme­zustand handelte, war auch Müller und Hesse bewusst. Als im Sommer 1997 Christoph Mar­thaler zum Direktor des viel grösseren Schauspielhauses gewählt wurde und sich abzeichnete, dass mit dem Schiffbau eine riesige neue Spielstätte für experimentelles Theater ent­stehen würde, merkten die beiden, dass das Theater Neumarkt mit seinem festen En­semble keine Zukunft haben würde. Sie schlugen vor, das Neumarkt in ein Haus für Koproduktionen umzubauen.

Auch der eher glücklos agierende spätere Neumarkt-Direktor Wolfgang Reiter sah am Ende seiner Amtszeit sein Theater in der übersättigten Zürcher Kulturlandschaft als überflüssig an. Er empfahl dem Stadtrat, es aufzulösen und in den Schiffbau zu integrieren. Nichts geschah. Die Stadt liess das teure Theater einfach weiterlaufen.

Das Theater Neumarkt mag ein Extrem­beispiel sein, doch bei fast allen wichtigen Bühnen in der Schweiz hat die Eigenwirtschaftlichkeit in den letzten Jahren massiv abgenommen.

Vor 15 Jahren generierte das Zürcher Schauspielhaus noch 35 Prozent seiner Einnahmen selbst, heute nur noch 20 Prozent. Das Opernhaus Zürich, das grösste und teuerste Theater der Schweiz, hatte unter dem langjährigen Intendanten Alexander Pereira eine rekordhohe Eigenwirtschaftlichkeit von bis zu 45 Prozent, nach seinem Abgang ist sie rasant gesunken auf nur noch 33 Prozent. Um eine noch einigermassen akzeptable Publikumsbilanz vorzuweisen, verschleudern viele Theater Karten zu Dumpingpreisen, in der Zürcher Gessner­allee zum Beispiel kostet jeder Eintritt nur noch lächerliche 16 Franken. Den Besuchern ist das anschliessende Bier in der Kneipe mehr wert als die Kunst.

Weshalb diese Kunstform noch immer den mit Abstand grössten Anteil an den gesamten Kultursubventionen erhält, wird immer schwieriger zu rechtfertigen. Natürlich kann man einwenden, dass bei der Kunst andere Kriterien als die rein betriebswirtschaftlichen entscheidend seien, wie «Neumarkt»-Ko­direktor Ralf Fiedler sagt. Doch die sinkende Eigenfinanzierung der wichtigsten Theater geht einher mit der schwindenden gesellschaftlichen Relevanz dieser Kunstform.

Entstellte Klassiker

Für die Krise sind die hochsubventionierten Theater zu einem grossen Teil selber verantwortlich. Alle wollen zur Avantgarde gehören, «postdramatisches Theater» machen, wie es im Fachjargon heisst. Das bedeutet: Stücke werden bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, der klassische Bildungskanon wird mit einem ironischen Unterton belegt, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den alten Stoffen gilt als bieder. Das höchste der Gefühle ist, wenn ein populäres Stück von einem aus Berlin eingeflogenen «Starregisseur» völlig entstellt wird, wie dies zurzeit im Schauspielhaus Zürich mit Paul Burkhards «Der schwarze Hecht» der Fall ist.

Auch solches Theater soll es geben dürfen. Das Problem ist aber, dass es im subventionierten Bereich fast nur noch diese Art ­Thea­ter gibt: Ob im linksalternativen Berner Kulturzen­trum Reitschule oder im einst bürgerlichen Zürcher Schauspielhaus, ästhetisch und inhaltlich gibt es kaum noch Unterschiede, nur der Produktionsaufwand ist ein anderer.

Eine Ausnahme ist das Theater St. Gallen: Es ist das ökonomisch erfolgreichste Mehrspartenhaus (Schauspiel, Oper, Ballett, Konzert) der Schweiz, wahrscheinlich sogar des gesamten deutschsprachigen Raums. Von der Grösse und Struktur her ist es mit dem Theater Bern vergleichbar, kommt aber mit 10 Millionen Franken weniger Subventionen aus (Bern ­erhält 37, St. Gallen 27 Millionen Franken). Trotzdem lockt es deutlich mehr Zuschauer an (siehe Tabelle).

Der langjährige Direktor des St. Galler ­Theaters, Werner Signer, erklärt den Erfolg ­seines Hauses damit, dass man frühzeitig auf das sich wandelnde Publikumsverhalten ein­gegangen sei: «Wir haben vor vielen Jahren schon die beliebten Operetten mit Musicals ­ersetzt. Zudem haben wir die Festspiele ins ­Leben gerufen, wo wir Opern und klassische Konzerte im Klosterhof und in der Stadt aufführen, also nahe beim Volk.» Mit den populären Produktionen werden die schwierigeren – die es durchaus auch gibt – quersubventioniert. Im Feuilleton ist mit einem solchen Konzept zwar keine Anerkennung zu holen, dafür bringt man die Leute noch ins Theater.

Dass heute in der Schweiz die Theater gänzlich unumstritten sind, dass sie ungeachtet ­ihrer Leistung Jahr für Jahr automatisch eine Subventionserhöhung erhalten, hat einen einfachen Grund: Kein Politiker in den links-grün dominierten Städten möchte es mit der mächtigen Kulturlobby aufnehmen. Als die Stadt Zürich 2002 den damaligen Schauspielhaus-Direktor Christoph Marthaler entliess, formierte sich ein von Schriftsteller Adolf ­Muschg und Publizist Roger de Weck orchestrierter Widerstand, bis der Entscheid rück­gängig gemacht wurde. In diesem Jahr versuchte die Stadt das kleine Literaturmuseum Strauhof aufzulösen, um das Geld für ein ­anderes Literaturprojekt frei zu machen – nach monatelangen Protesten knickten die Verantwortlichen ein, der Strauhof bleibt.Und so wird es auch in Zukunft noch Film­karaoke-Abende geben, wo jeder Eintritt mit 464 Franken subventioniert wird.