Aristide Maillol gilt – nach Rodin – als der bedeutendste französische Bildhauer des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein ganzes künstlerisches Schaffen umkreiste das Faszinosum weiblicher Formen. Schon kurz nach der Jahrhundertwende schuf der den Nabis nahe stehende Plastiker neoklassische Frauenstandbilder, und in immer neuen Werken goss er in den folgenden Jahrzehnten ein zeitloses, etwas hüftbetontes Schönheitsideal in dunkle, glatte Bronze.

Maillol dürfte kaum mehr damit gerechnet haben, dass ihm seine hehre Vision schliesslich in Fleisch und Blut entgegentreten würde. Immerhin ist der Künstler bereits dreiundsiebzig Jahre alt, als er Dina Vierny kennen lernt. Ein stattliches Alter für eine kreativ-amouröse Offenbarung. Umso mehr, als Dina 1934, in jenem ersten Sommer der Liebe, gerade einmal vierzehn Lenze zählt.

Was nach Massstäben heutiger Sittlichkeit vielleicht nicht zu mehr als einem zweiten Michael-Jackson-Prozess geführt hätte, wurde zu einer zehnjährigen Amour fou. Dina schleicht sich anfangs heimlich aus dem Elternhaus, um für den greisen Bildhauer Modell zu stehen, wird aber bald zu seiner offiziösen Begleiterin auf Reisen und in der Sommerfrische in Südfrankreich. Maillol fertigt Hunderte von Zeichnungen von ihr an, modelliert die grossen allegorischen Alterswerke wie «Harmonie» oder «Der Fluss» nach ihren Zügen und kehrt nach jahrzehntelanger Pause wieder zur Malerei zurück, um ihr Porträt schaffen zu können. Der Sechsundsiebzigjährige bekennt: «Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen.» Da ist Dina immerhin schon aus dem Schutzalter heraus.

Es war ein mit den Viernys befreundeter Architekt, dem eine Übereinstimmung zwischen dem Aussehen des hübschen Backfisches und der Maillolschen Vision vom Gral der Weiblichkeit aufgefallen sein muss. Er schickte das junge Mädchen in jenen Vorort vor Paris hinaus, wo Maillol sein Anwesen hatte, und sagte ihr, sie solle sich einfach dem Mann mit dem langen weissen Bart vorstellen. In der schon leicht geriatrischen Künstlerkolonie, die Maillol um sich scharte, erwiesen sich diese Instruktionen allerdings als nicht präzise genug. Der erste Weissbart, den Dina anspricht, ist Kees van Dongen. Schliesslich kommt die folgenreiche Begegnung aber doch zustande.

Dina ist das Kind jüdischer Emigranten aus Odessa, die nach Frankreich auswandern, als sie sechs Jahre alt ist. Wurde das junge Mädchen zum Opfer eines erfolgreichen charismatischen Mannes, der sich – ungeachtet der Folgeschäden für Mitbeteiligte – die Inspiration da holte, wo er sie eben finden konnte? Die Betroffene ist ganz und gar nicht dieser Ansicht.

Schon in jungen Jahren war Dina Vierny eine resolute Person. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zieht sie sich mit Maillol auf dessen Gut in den Pyrenäen zurück. Sie nutzt die privilegierte Lage jedoch weniger fürs Modellstehen als für ein aktives Engagement in der Résistance. Nachdem sie zum dritten Mal erwischt wird, wie sie Flüchtlingen über die spanische Grenze hilft, gilt es Ernst. Die Gestapo lässt sie in Paris einkerkern. Hätte man ihre jüdische Herkunft entdeckt, wäre es um sie geschehen gewesen. Maillol, der sich unter der Besatzung alles andere als untadelig verhielt und dessen neoklassische Kunstvorstellung bei Nazi-Grössen wie Arno Breker auf grosse Bewunderung stiess, wirft sein ganzes Gewicht in die Waagschale. Breker interveniert an höchster Stelle in Berlin, die Gestapo muss Dina ziehen lassen.

Nachdem Maillot 1944 bei einem Autounfall tödlich verunglückt, zeigt Vierny, dass sie auch ohne ihren väterlich-grossväterlichen Gönner zurande kommt. Sie hätte sich damit begnügen können, den Maillolschen Nachlass zu verwalten. Stattdessen eröffnet sie eine Galerie und wird bald zur wichtigsten Vertreterin der russischen Avantgarde. Ihre Erfahrungen im antitotalitären Grenzverkehr macht sie sich zunutze, um Werke von Ilya Kabakov aus der Sowjet- union zu schmuggeln. Im Jahr 1973 organisiert sie in Paris die erste Ausstellung des Künstlers und verhilft ihm zu internationaler Anerkennung.

Zur Krönung von Dina Viernys Lebenswerk wird jedoch 1995, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Meisters, die Eröffnung des Musée Maillol. Mit unbezwingbarer Hartnäckigkeit hat sie in der Pariser Rue de Grenelle die nötigen Immobilien zusammengekauft und das Stiftungskapital zusammengetragen. Mit geschickten Schenkungen an den französischen Staat hat sie dafür gesorgt, dass Maillol einen gebührenden Platz im Bildhauer-Olymp einnimmt und dass man seinem Andenken wohlgesinnt bleibt. Entstanden ist eine der seltsamsten Pariser Kulturinstitutionen. Denn obwohl gelegentlich interessante Wechselausstellungen stattfinden, ist die Stiftung eigentlich kein Museum, sondern der Erinnerungstempel einer Leidenschaft. Steigt man in den ersten Stock, trifft man auf Saalfluchten, in denen ausschliesslich grossformatige Aktstudien gezeigt werden – mit immer demselben Modell. Dina sitzend, Dina liegend, Dina als Rückenakt, Dina in Vorderansicht.

Eine grosse alte Dame hat ihrer Jugend ein Denkmal gesetzt. Die Kunst ist unsterblich. Ganz wie die Liebe.