Abschied: In der Nacht, als mein Ein und Alles, meine grösste Liebe, starb, träumte meine Freundin Jenny von ihr. Im Traum stand Ronan am Rande des Ozeans, neben einem Boot. Er trug eine Art königliche Rüstung, und sein Haar wehte lang und blond unter seinem Helm hervor. Er habe schön und stark ausgesehen, sagte Jenny, und stolz. Er war auf dem Weg zu neuen Abenteuern, bereit zu einem Leben am anderen Ufer. Sein Haar verstreuten wir später aus einem Heissluftballon über dem Rio Grande, und später stellte ich mir vor, dass vielleicht Vögel aus ­einigen Strähnen ein Nest bauen würden.

Die Diagnose: Ich sass mit Ronan auf dem Untersuchungsstuhl. Er war neun Monate alt. Der Arzt leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Pupillen und sagte: «Oje.» «Oje» hatte mein Vater gesagt, als meine Eltern von meiner angeborenen Fehlbildung erfahren hatten, wegen der mir im Kindesalter das linke Bein amputiert werden musste. Mein Baby auf dem Schoss, wusste ich, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Der Arzt sagte: «Es ist Tay- Sachs. Es gibt keine Rettung.» Ich hatte einen Zusammenbruch. Unser Kind würde keine drei Jahre alt werden. Es war nicht nur ein Todesurteil. Die Aussicht auf das furchtbare Leiden, das mit dem Sterben meines Sohnes einhergehen würde, liess meine Welt in tausend Stücke zerfallen.

Tay-Sachs-Syndrom: Später erfuhr ich, dass der pränatale Standardtest beim Tay-Sachs-Syndrom nur die neun häufigsten Mutationen ­abdeckt. Ich hätte einen kombinierten Gen-­Enzym-Test oder eine DNA-Sequenzierung verlangen müssen, doch das wusste ich nicht. Es ist die beschissenste Krankheit aller Zeiten: Es gibt keinerlei Heilungschancen für die Opfer dieser neurologischen Störung. Die volle Last des Verlustes fühlte ich ab dem Tag der Diagnose. Das Ende stand bereits am Anfang fest, für die ­Hoffnung gab es keinen Platz. Die beiden Jahre dazwischen sind die Geschichte einer bedingungslosen Liebe. Ronan hat seine Liebe nie auf konventionelle Weise auszudrücken vermocht – durch Worte, Handlungen, Mimik oder Gestik –, was die Geschichte in gewisser Weise auch zu einer Geschichte über die unerwiderte Liebe macht. Wenn man jemanden liebt, aber die Liebe wird vom anderen nicht wahrgenommen – ist diese Liebe dann vergeudet? Heute weiss ich, dass keine Liebe je vergeudet ist, aber ich glaube auch, dass jede starke Liebe den Schrecken und die Gefahr von grossem Verlust birgt.

Geist in Flammen: Ich wollte keine Lösungen oder schnelle Antworten, sondern den unverfälschten Prozess des Umkreisens und Über­denkens, ohne mich auf etwas festzulegen. Mein Geist stand in Flammen und schützte mich in den unerträglichen Augenblicken des physischen Erlebens, wenn ich glaubte, an Trauer, Hilflosigkeit und Wut zu sterben. Ich fand Trost in den Büchern von John Calvin und in den Gedichtbänden von Louise Glück und Sylvia Plath. Was wollen wir, wenn wir jemanden vollkommen lieben? Wir wollen, dass jeder unser unbegreifliches, stotterndes Herz versteht. So begann ich, unsere Geschichte aufzuschreiben: wie ­Ronan den grössten Teil seines Lebens von mir wegglitt und dann ganz verschwand.

Doppelter Verlust: Es waren zwei extreme Jahre, die mein Leben für immer prägen. Als mein Kind starb, war ich erleichtert: Sein ungeheures Leiden war zu Ende. Meine Ehe war schon zuvor zerbrochen, mein Mann und ich konnten uns nicht bis zum Tod unseres geliebten Kindes beistehen. Wir zerbrachen als Paar am Schicksal, vor allem aber an uns selbst.

Teil 2 in der nächsten Weltwoche
Emily Rapp:
Versöhne dein Herz: Was mich das viel zu kurze Leben meines Sohnes lehrte. Eden Books. 240 S., Fr. 29.90
Protokoll: Franziska K. Müller