Das Auto hält bei einem Gehöft. Wir steigen aus, ein Hund bellt. Die Nacht ist mondlos, stockfinster, wären da nicht die Flutlichter der türkischen Armee. Die Scheinwerfer tauchen den Grenzstreifen zu Syrien in ein kaltes Licht. Aus dem Gehöft kommt ein Mann auf uns zu. Hände werden geschüttelt und ein paar Worte gewechselt. Dann telefoniert der Schmuggler kurz. Siebenhundert Dollar wollen er und sein Kumpan Mustafa für den riskanten Grenzübertritt.

Die Türkei und Syrien teilen eine 820 Kilometer lange Grenze. Wegen des langjährigen Kriegs mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) hat die Türkei ihre Südflanke befestigt, mit Wachtürmen, Bunkern, Nato-Drahtzäunen und Minenfeldern. In regelmässigen Abständen stehen Schützenpanzer, Maschinengewehre und Kanonen auf Syrien gerichtet. Auf der Strasse, ein paar Gehminuten hinter dem Gehöft, tauchen Scheinwerfer auf. Es sind zwei gepanzerte Landrover der Gendarmerie und ein Schützenpanzer der Armee. Der Schmuggler lässt sie passieren.

Endzeitstimmung

Zwei oder drei Kilometer weiter östlich beginnt hinter den türkischen Grenzbefestigungen das sogenannte Islamische Kalifat des ­irakischen Terroristen Abu Bakr al-Baghdadi. Seine Kämpfer versuchen seit rund zwei Wochen, das Städtchen Kobane zu erobern. Dieses liegt ein paar Kilometer weiter westlich und ist das Ziel unseres nächtlichen Ausflugs. Auf keinen Fall dürfen wir uns zu weit nach Osten in Richtung Kalifat vorwagen, denn dort würde uns alle das Schlimmste erwarten.

Kobane wird mehrheitlich von Kurden bewohnt und hatte vor Ausbruch der Kämpfe schätzungsweise 50 000 Einwohner. Die meisten der umliegenden Dörfer hat der Islamische Staat (IS) bereits erobert, und deren Bevölkerung ist grösstenteils in die Türkei geflüchtet. Die Fluchtwelle soll mehr als 140 000 Kurden erfasst haben, schätzt die Uno. Die Araber benützen allerdings nicht den kurdischen Namen Kobane. Sie nennen die Ortschaft Ain al-Arab. Übersetzt heisst das ironischerweise «arabischer Frühling». Doch davon ist nichts zu spüren, es herrscht vielmehr Endzeit­stimmung.

Vom Gehöft aus sehen wir zu, wie die nächste Patrouille an uns vorbeifährt. Auf diesen Moment hat der Schmuggler gewartet. Jetzt muss alles schnell gehen. Wir laufen über ­einen abgeernteten Acker bis zum Zaun vor der Strasse. Der Schmuggler kennt eine Stelle, wo man den Stacheldraht zu einem Loch auseinanderziehen kann. Dadurch passt gerade ein Mensch. Schweres Gepäck wäre jetzt hinderlich, aber ich habe nur einen kleinen Rucksack mit der Kamera und dem Nötigsten dabei. Wir hetzen über die schmale Schotterpiste. Auf der andern Seite liegen die Rollen mit dem Rasierklingendraht. Vorsichtig drückt der Schmuggler sie mit einer Latte zusammen, es entsteht eine Bresche. Jetzt bloss nicht stürzen oder mit den Hosenbeinen an den Klingen hängenbleiben. Doch plötzlich sind wir statt vier nur noch drei Männer. Mustafa läuft weiter, aber sein Kumpan, der Schmuggler, bleibt hinter dem Drahtverhau zurück. Von dort gibt er Mustafa Anweisungen, in welche Richtung wir weitergehen sollen.

Sollen wir umkehren?

Zuerst müssen wir in einen tiefen Graben klettern. Am Rand der gegenüberliegenden Seite liegt der Aushub, ein hoher Erdwall. Er erschwert den Ausstieg, und ich bin heilfroh, dass ich auf zusätzliches Gewicht verzichtet habe. Den Rucksack ziehe ich aus und reiche ihn hoch zu meinem Übersetzer, der schon hin­auf­ge­klet­tert ist. Hinter dem Erdwall ­sollte eigentlich ein Pfad durchs Minenfeld beginnen, doch der Schmuggler hat sich in der Stelle geirrt. Weil er hinter dem Erdwall verschwunden ist, können wir ihn nicht mehr hören. Wir müssen leise sein. Mustafa, der sich weniger gut auskennt, marschiert los, und ich bemühe mich, genau in seine Fussstapfen zu treten. Wir gehen so weit, bis die Lichtkegel der Scheinwerfer hinter uns sind. Wir haben kein gutes Gefühl. Mustafa ruft den Schmuggler an, die Stimmung ist gereizt. Stehen wir schon mitten im Minenfeld? Ich sehe mich um und sehe viele Hufabdrücke im weichen Boden. Ziegen oder Schafe sind schwer genug, um Personenminen auszulösen. Vielleicht haben wir die Gefahrenzone also noch gar nicht erreicht.

Anwar, mein Freund und Übersetzer, ist der Meinung, dass wir umkehren sollten. Wir beraten uns. Dann entscheidet Mustafa, dass wir bis zum Erdwall zurückgehen und von dort aus den Pfad durchs Minenfeld suchen sollen. Wir folgen unseren eigenen Fussspuren bis zur Aufschüttung und gehen dann geduckt nach Westen. Damit lassen wir die Front und das ­islamische Kalifat in unserem Rücken. Nach wenigen hundert Metern hören wir Stimmen. Sprechen die Leute Türkisch oder Kurdisch?

Es sind Flüchtlinge, welche die Nacht an der Grenze verbringen – aus Angst vor den Marodeuren des IS. Einige von ihnen schlafen auf dem nackten Boden, von Kopf bis Fuss in Decken eingewickelt. Die Flüchtlinge haben ihre Rinder mitgebracht und mit Stricken angebunden, damit sie sich nicht ins Minenfeld verirren. Zwei Männer kommen mit uns und zeigen uns den Pfad, der weiter nach Syrien führt. Man sieht die Spuren von Motorradreifen. Hier sind wir sicher. «Einfach immer hinter mir hergehen», flüstert Mustafa. Bald erreichen wir einen Bahndamm. Es ist das Gleis der berühmten Bagdadbahn, die Anfang des letzten Jahrhunderts von den Deutschen gebaut wurde. «Das ist die Grenze, hier drüben beginnt mein Land», sagt Mustafa jetzt in normaler Lautstärke. Er gleitet den Bahndamm herunter, küsst den Boden und lässt Staub und Erde durch seine Finger rieseln. «Syrien, endlich wieder Syrien», murmelt er.

Ungläubiges Anstarren

In der Ferne ist das Stakkato automatischer Waffen zu hören. Manchmal zuckt ein Blitz auf, wenn eine Granate explodiert. Das Raunen und Grollen des Kriegs ist einige Kilometer entfernt. Gekämpft wird vor allem in der Nacht, denn die Stellungen der Kriegsgegner sind meistens weit voneinander entfernt. Am Tag ist eine Annäherung an den Feind deshalb kaum möglich, es sei denn in gepanzerten Fahrzeugen. In der Dunkelheit hingegen haben beide Seiten Gelegenheit, sich anzupirschen und den Gegner zu überraschen und abzumurksen. Es ist die Taktik der kleinen Nadelstiche, und ­darin sind die Kurden besonders gut.

Am Morgen herrscht dann Stille, nur ein paar Vogelstimmen sind zu hören. Kobane ist eine Geisterstadt. Ich schätze, dass etwa achtzig Prozent der Bewohner – vielleicht auch mehr – geflüchtet sind. Die meisten Rollläden der Geschäfte sind heruntergelassen. Es gibt aber immer noch viele Autos und Motorräder auf den Strassen, auch einige Frauen und Kinder. Ein vielleicht zehnjähriger Bub folgt mir neugierig. Ich gebe ihm einen Kaugummi. Danach strahlt er mich an. Die Menschen sind es nicht gewohnt, einen Europäer mit Kamera durch Kobane schlendern zu sehen. Ich bin der erste westliche Reporter, der es nach dem Angriff des IS auf Kobane in die Stadt geschafft hat. Ein Auto hält an, und der Fahrer starrt mich ungläubig an. Eine Gruppe farbig gekleideter Frauen kommt auf mich zu. Wie mich ­eine von ihnen als Westler erkennt, erschrickt sie so sehr, dass sie einen Satz zur Seite macht.

Nur wenige hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite der Grenze, warten Dutzende von Journalisten aus aller Welt auf Neuigkeiten aus der Stadt. Fernsehkameras auf schweren Dreibeinstativen sind auf Kobane gerichtet. Gerade spricht eine Korrespondentin auf Persisch ihren Aufsager in die Kamera, im Hintergrund ziehen Flüchtlinge vorbei. Seltsamerweise marschieren sie nicht in Richtung Türkei, sondern ­zurück nach Kobane. Aber das können die Zuschauer zu Hause nicht erkennen.

Der Kanton Kobane, wie die Kurden ihre Enklave nennen, hatte vor dem Krieg schätzungsweise 400 000 Einwohner. Die meisten von ­ihnen wohnten in Dörfern auf dem Land, und die sind jetzt wegen des IS-Vormarsches eva­kuiert. Eine alte Frau erzählt, dass Soldaten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) dem ganzen Dorf dringend geraten hätten, ihre Häuser zu evakuieren. In die Türkei flüchten will die Frau aber nicht. Darum harrt sie zusammen mit der Familie im Freien aus, wenige hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt. Tausende leben so. Sie sind mit Autos, Traktoren und deren Anhängern oder Kleinlastwagen so nahe wie möglich an die türkischen Grenz­befestigungen herangefahren. «Wir sind jetzt schon eine Woche hier», erzählt die Frau. «Hilfe erhalten wir ­keine, aber wir haben noch etwas Geld und kaufen damit Essen in der Stadt.» Vorgestern Nacht sei ein Flüchtlingsbub gleich hier in der Nähe auf eine Personenmine getreten. «Wir haben ihn am Morgen dort hinten ­begraben. Manchmal schiessen die türkischen Soldaten auch auf unser Vieh, obwohl die Tiere doch klar auf syrischem Boden stehen.»

Schwer zu durchschauendes Spiel

Vor der zur Klinik umfunktionierten alten Zollstation von Kobane trifft ein Pick-up ein. Auf der Ladefläche liegen zwei alte Männer. Für den einen kommt jede Hilfe zu spät, er hat eine Einschusswunde im Brustkorb und eine hinter dem Ohr. Er trägt eine Uniformjacke und Zivilhosen. Die Ärzte sagen, es sei ein ­Zivilist, und er habe bloss die Grenze in der Nacht illegal überqueren wollen. Der andere Mann zuckt unkontrolliert auf einer Krankenbahre, aber er kann noch sprechen. Sieben türkische Grenzsoldaten hätten ihn erwischt und mit ihren Gewehrkolben brutal zusammen­geschlagen, bevor sie ihn nach Syrien zurückschickten. Es ist nicht nur der IS, vor dem sich die Kurden von Kobane zu fürchten haben.

Die Türkei spielt im Kampf um Kobane ein schwer zu durchschauendes Spiel. Einerseits hat Ankara die Grenze eine Zeitlang für Flüchtlinge geöffnet. Und ein islamistisches türkisches Hilfswerk kümmert sich um die Ankömmlinge, so gut es geht. Doch anderseits werfen viele Kurden Ankara vor, den IS heimlich mit Kriegsgerät zu unterstützen. Das meiste davon sind wilde Verschwörungstheorien, handfeste Beweise für diese Behauptung gibt es nicht. Aber wie ein ­Damoklesschwert hängt über den Kurden An­karas Drohung, mit militärischen Mitteln gegen den IS in Syrien vorzugehen. Den türkischen Strategen schwebt die Einrichtung einer Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze vor. Präsident Erdogan will den IS zurückdrängen und die syrischen Flüchtlinge von der Türkei in diesen Grenzstreifen zurückschicken. Für die syrischen Kurden, die fast alle im Grenzgebiet leben, stellt sich damit natürlich die Frage, welchen Platz sie in dieser Pufferzone haben sollen und was mit den YPG geschieht.

Für führende YPG-Vertreter entspräche eine solche Invasion einer Kriegserklärung. Zu hören ist aber auch die Theorie, dass Ankara mit der Invasion so lange warten will, bis der IS das «Kurdenproblem» in Kobane auf seine eigene Art gelöst hat. Damit wären für Erdogan zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die YPG in Kobane wären zerschlagen, und die türkische Armee könnte gegen den IS vorrücken – offi­ziell, um das Massaker an den Kurden zu rächen. Das wäre ein wahrhaft teuflisch-zynischer Plan.

Fehlende Waffen

Rund um Kobane arbeiten Soldaten und Soldatinnen der YPG unermüdlich an ihren Verteidigungsstellungen. Sie häufen Sandsäcke auf oder heben mit Baggern Schützengräben aus, vor allem auf den umliegenden Anhöhen. Die Kämpfer lassen keinen Zweifel daran, dass man nicht aufhören werde, den Islamisten Widerstand entgegenzusetzen – mit oder ohne Hilfe aus dem Ausland. Die Front ist zwar einige Kilometer ausserhalb der Stadt zum Stillstand gekommen, trotzdem ist die Lage verzweifelt.

«Um einen Panzer des IS ausser Gefecht zu setzen, mussten sich zwei unserer Kämpfer opfern. Sie kletterten auf den Panzer und warfen Handgranaten durch die Dachluke. Sie kamen beide um dabei», erzählt ein YPG-Soldat. ­Tatsächlich haben die Kurden den Panzern und Geschützen, welche die Steinzeitislamisten vor allem im Irak erbeutet haben, nichts Gleich­wertiges entgegenzusetzen. Straflos kann die Terrortruppe Kobane mit Artillerie beschiessen – die Kurden können nichts dagegen unternehmen, weil ihnen weitreichende Waffen fehlen.

Offenbar ist inzwischen mindestens eine deutsch-französische Panzerabwehrlenkwaffe vom Typ Milan eingetroffen. In einem YPG-Video sieht man, wie ein Kurde die Rakete abfeuert. In Kobane wird gemunkelt, dass der Schütze ein kurdischer Peschmerga aus dem Irak gewesen sei – also zu jener Truppe gehört, die Berlin mit Milan-Raketen und Sturmgewehren ausrüstet. Trainiert werden die Milan-Schützen ebenfalls von der Bundeswehr.

Spät in der Nacht lege ich mich auf dem Dach des Hauses, in dem man mich unter­gebracht hat, auf meine dünne Luftmatratze. Im Osten erklingt Gefechtslärm. Plötzlich tauchen, von der Türkei kommend, Lichter am Himmel auf: zwei blinkende weisse und ein rotes. Mehr sieht man nicht von dem unbekannten Flugobjekt. Ist es eine Aufklärungsdrohne? Und warum wurden dann die Posi­tionslampen nicht ausgeschaltet? Jedenfalls kreisen die Lichter etwa eine Stunde lang über Kobane und dem Umland.

Ich döse ein und werde später durch tiefes Brummen geweckt. Es ist der Lärm von mindestens zwei schweren Propellermotoren. Diesmal sind keine Lichter zu sehen, aber das Flugzeug kreist ebenfalls über Kobane. Eine Transportmaschine, die draussen vor der Stadt Waffen an Fallschirmen abwirft? Genau das haben die Franzosen vor drei Jahren in Libyen gemacht. Unter dem Kriegsgerät befanden sich damals auch Milan-Raketen.

Endlich: Die Amerikaner kommen

Etwa um drei Uhr morgens beginnt sich der Luftzirkus wieder zu drehen. Diesmal sind es Jets, die in kurzer Folge Kobane überfliegen, und zwar in Richtung Osten, wo sich die am heftigsten umstrittene Front befindet. Ich habe ein schlechtes Gehör, und zudem weht der Wind aus Westen und verschluckt deshalb die Detonationen der Präzisionsbomben. Erst kurz vor Morgengrauen flauen die Flugbewegungen ab. Doch schon kurz nach Sonnenaufgang beginnen sie wieder. Jetzt sind mehrere Jagdbomber vom amerikanischen Typ F-15 am Himmel. Auch sie kreisen über der Stadt und der Ostfront. Selbst durch das Fernglas sind die Hoheitszeichen aber nicht zu erkennen. Doch es besteht kein Zweifel: Dies ist die Hilfe, die der zaudernde US-Präsident Obama den Kurden endlich geschickt hat.

Es gibt niemanden in Kobane, der sich dar­über nicht freuen würde, auch wenn manche Obamas Motive in Zweifel ziehen. Wird Amerika genug Durchhaltewillen haben, um den IS zurückzudrängen? Wird man den YPG die nötigen Waffen liefern? Viele Flüchtlinge in der Türkei scheinen an Besserung zu glauben. Hunderte von ihnen kommen mit Sack und Pack über den offiziellen Grenzübergang, der für Heimkehrer geöffnet ist. Unter ihnen befinden sich auch viele Männer, darunter irakische Kurden, die für die YPG kämpfen wollen.

Wir fahren hinaus aus der Stadt. Ein paar Kämpfer am Strassenrand halten uns an. «Da, da auf dem Pick-up. Wir haben zwei Dschihadisten erwischt.» Auf dem Fahrzeug liegt ein übel zugerichteter fetter Mann, tot. Neben ihm ein jüngerer Kämpfer, dessen Gehirn auf der Ladefläche verschmiert ist. Die beiden gehörten zu einer IS-Gruppe, welche die YPG in eine Falle lockten. Die Kurden hatten ein Haus an der Front mit Bomben präpariert und warteten, bis die Dschihadisten das Gebäude einnahmen. Dann drückten sie auf den Knopf.