Zum Jahrestag der Havarie von Fukushima hat das Bundesverwaltungsgericht mit dem Mühleberg-Urteil den Atomgegnern ein kleines Geschenk gemacht. Das mag ein Zufall sein oder auch nicht. Viel mehr als ein symbolischer Akt ist das Verdikt, zumindest vorläufig, nicht. Denn es bedeutet keineswegs, dass die Richter «Mühleberg den Stecker ziehen», wie die Aargauer Zeitung und der Blick voreilig frohlockten. Sondern lediglich, dass die Erteilung einer unbeschränkten Betriebsbewilligung an Auflagen geknüpft wird.

Mühleberg verfügte als einziges Kernkraftwerk in der Schweiz bis 2009 über keine unbefristete Lizenz. Dieser Sonderfall geht auf ­einen Turbinenbrand zurück, der die Anlage 1972 kurz nach der Inbetriebnahme über ein Jahr lang blockierte. Eine Gefährdung für die Bevölkerung bestand nie. Doch die AKW-Gegner haben sich seither am angeblichen «Schrott-Reaktor» festgebissen, der auch dank seiner Nähe zur Bundesstadt für propagandistische Zwecke prädestiniert ist. Die zuständigen Politiker, stets bestrebt, möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, beliessen es daher bei der provisorischen Lizenz. Bis just der atomkritische Moritz Leuenberger (SP) 2009 den Bann brach und Mühleberg eine unbeschränkte Bewilligung erteilte. Atomgegner fochten diesen Entscheid umgehend beim Bundesverwaltungsgericht (BVG) an. Darum geht es heute.

Die Bedeutung der definitiven Bewilligung ist insofern zu relativieren, als in der Schweiz eine Laufzeitbeschränkung für Kernanlagen im Prinzip gar nicht vorgesehen ist. Mühleberg wird, wie jedes andere AKW, ständig kontrolliert und darf, wie alle anderen auch, so lange betrieben werden, als die Anlage nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen als sicher gilt. Ist diese Voraussetzung nicht mehr gegeben, muss das Kraftwerk heruntergefahren werden, und zwar sofort.

Diese Regelung hat sich bewährt, zwingt sie die Betreiber doch, ihre Anlagen permanent nachzurüsten. In Fukushima wurde dieses Prinzip sträflich vernachlässigt. Die Betreiberin Tepco rechnete damit, das AKW bald stillzulegen, und verzichtete deshalb auf eine Modernisierung. Die Folgen waren fatal. Wäre Fukushima Daiichi auf dem Sicherheitsniveau von Mühleberg gewesen, wäre der nukleare GAU und namentlich die Freisetzung von Radioaktivität auszuschliessen gewesen.

Irritierend knappe Frist

Es gibt im Gesetz allerdings eine Ausnahmeklausel, die eine befristete Bewilligung zulässt, wenn kleinere Mängel vorliegen, die eine sofortige Abschaltung als «unverhältnismässig» erscheinen lassen. Auf diese schlüpfrige Bestimmung beruft sich das BVG in seinem Entscheid. Nach Meinung der Richter gibt es «offene Sicherheitsfragen», welche die Bernischen Kraftwerke (BKW) als Betreiberin von Mühleberg durch ein definitives Sanierungskonzept ausräumen sollen, und zwar bis Juni 2013. Wird diese Auflage nicht erfüllt, müsse das Kraftwerk vom Netz genommen werden.

Irritierend ist vorweg die für ein derartiges Globalkonzept knappe Frist, zumal sie von ­einem Gericht verhängt wurde, das selber für überlange Verfahrensdauern berüchtigt ist. Die fünf Richter (Christoph Bandli, SVP; Ma­rianne Ryter, SP; Lorenz Kneubühler, SP; Kathrin Dietrich, CVP; André Moser, FDP) liefern die Begründung nicht. Jedenfalls nicht direkt.

Zwischen den Zeilen lassen die Richter indes durchblicken, dass Mühleberg «nach vierzig Betriebsjahren sicher eher am Ende seiner Lebensdauer» angelangt sei und ein weiterer Betrieb zwar «nicht völlig ausgeschlossen», aber doch höchst zweifelhaft erscheine. Sie setzen sich damit über den Kerngedanken des Gesetzgebers hinweg, der eben gerade nicht von einer festen Lebensdauer ausgeht.

Es stimmt wohl, dass Kernkraftwerke buchhalterisch in der Regel auf vierzig Jahre abgeschrieben werden. Doch die Gründe dafür sind nicht technischer, sondern politischer Natur. Theoretisch ist es möglich, ein Kernkraftwerk ewig zu betreiben. Mit den Jahrzehnten steigen aber die Kosten für Renovationen und die Instandhaltung exponentiell. Das war der Grund, weshalb sich das Berner Stimmvolk vor einem Jahr für einen Neubau des AKW aussprach. Die Regierung erklärte den Volksentscheid nach Fukushima zur Makulatur.

Wie lange eine Anlage rentabel betrieben werden kann, geht die Richter nichts an. Die Atomgegner seien vor falschen Hoffnungen gewarnt. Noch ist Mühleberg ein Goldesel für die BKW. Die Rechnung ist simpel. Weil das Kernkraftwerk bereits zu einem grossen Teil abgeschrieben ist, rechnen Insider mit Gestehungskosten von rund drei Rappen pro Kilowattstunde Strom, der sich auf dem Markt für durchschnittlich neun Rappen verkaufen lässt. Bei ­einer Produktion von jährlich rund drei Milliarden Kilowattstunden ergibt das ­einen Gewinn von rund 180 Millionen Franken. Mit diesem Geld lässt sich einiges bewerkstelligen. Würde Mühleberg abgeschaltet, müsste der Strom im Ausland eingekauft werden. Eng- pässe, vor allem auch im Netz, und massive Preiserhöhungen wären absehbar.

Richtig stossend wird das Urteil dort, wo sich die Bundesverwaltungsrichter selber zu Atomexperten küren und vermeintliche Sicherheitsrisiken aus dem Stand heraus, gleichsam über den Daumen gepeilt, einstufen. Es handelt sich dabei um potenzielle Schwachstellen, auf die das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) schon seit Jahren ein Auge hat und die es periodisch überprüft, jedoch nicht für derart gravierend erachtet, dass eine Still- legung angezeigt wäre. Wo nötig, wurden immer wieder Verbesserungen angeordnet.

Doch den Richterexperten reicht das nicht. Wie aus der Urteilsbegründung herauszulesen ist, haben sie selber im Internet noch ein wenig gegoogelt. Dabei gelangten sie zu einem pes­simistischeren Befund als die Fachleute vom Ensi und verlangen nach einer definitiven Lösung. Gemäss Bruno Pellaud, einer Koryphäe der Schweizer Nuklearszene, überschreiten die Richter damit nicht nur ihre Kom­petenz. Sie setzen sich auch über den Kern- gedanken des Gesetzgebers hinweg: «Sicherheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess.»

Die Bedenken der Richter beziehen sich zum einen auf mikroskopisch kleine Risse im sogenannten Kernmantel, die 1990 entdeckt wurden und seither die Fantasie der Politiker beflügeln. Dazu muss man wissen: Beim Kernmantel handelt es sich um einen offenen Stahlzylinder, der den Wasserfluss um die Brenn- stäbe herum optimiert. Für den Strahlenschutz ist er bedeutungslos. Der Kernmantel hat, anders als der Ausdruck suggeriert, weder eine Last noch Druck auszuhalten. Eine theoretische Bruchgefahr besteht lediglich im Falle eines extremen Erdbebens.

Risse im Kernmantel wurden bei der Hälfte von weltweit rund neunzig Siedewasserreaktoren festgestellt. Zu einem Bruch kam es nie, auch nicht beim historischen Erdbeben von Japan. Trotzdem sicherte man die Zylinder durch zusätzliche Zuganker. Die Stahlstreben mögen das Auge des Ästheten stören, aber sie versehen ihren Dienst, und sie werden in den meisten Ländern, namentlich in den USA, von den Behörden als abschliessende Lösung an- erkannt. Nicht so vom Ensi. Die als besonders streng geltende Schweizer Kontrollbehörde verlangt eine ständige Überwachung.

Der andere Punkt, über den seit Jahren gestritten und der nun auch vom BVG aufgenommen wird, ist die Staumauer des Wohlensees. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Wasserkraftwerk, das wenige Kilometer oberhalb von Mühleberg an der Aare liegt, womöglich einem grossen Erdbeben nicht standhalten würde. Bei einem Dammbruch könnte eine denkbare Schlammlawine die Kühlung des AKW beeinträchtigen.

Allerdings wäre bei einem Dammbruch am Wohlensee eine allfällige Kernschmelze im AKW Mühleberg, welches anders als jenes von Fukushima unter anderem über ein äusseres Containment verfügt, kaum das Hauptpro­blem. Dies zeigt gerade die Flutkatastrophe von Japan auf, die mehr als 20 000 Menschen in den Tod riss, während die medial zum Super-GAU emporstilisierte Havarie von Fukushima bislang kein einziges Menschenleben gekostet hat. Wer die totale Sicherheit will, müsste demnach vorweg die Stauseen in der Schweiz trockenlegen. Wirtschaftlich betrachtet, wäre es auf jeden Fall sinnvoller, das Wasserkraftwerk am Wohlensee einzumotten, bevor man das Kernkraftwerk Mühleberg stilllegt, welches sechzehnmal mehr Strom produziert.

Das Urteil gegen Mühleberg ist kein Einzelfall. Gerade beim BVG ist die Tendenz hin zur Politjustiz notorisch. Die Richter gebaren sich als Gesetzgeber, Exekutive und Gutachter in Personalunion. Besonders ausgeprägt ist dieser Hang bei den ausländerrechtlichen Abteilungen. Unter Berufung auf angeblich übergeordnete, auslegungsbedürftige internationale Konventionen steuern die Richter die schweizerische Migrationspolitik weitgehend autonom. Die Asylrichter unterhalten sogar ihre hauseigenen «Experten», die aufgrund von Berichten der Hilfswerke und internationaler Organisationen die angebliche Bedrohungs­lage für Flüchtlinge bestimmen.

Sicherheit ist keine Frage der Politik

Das verquere Verständnis des Bundesverwaltungsgerichtes von Gewaltentrennung kommt auch im Mühleberg-Urteil zum Ausdruck. Die Richter postulieren ein Recht für «Dritte [. . .], auf prozessrechtlichem Weg auf die Hand- habung von Sicherheitsfragen einzuwirken». Jeder Bürger, jeder Politiker, jeder Aktivist und jeder Richter wird damit zum Atomexperten, der beim Management der hochkomplexen Kernanlagen mitreden darf. Damit begibt sich das Gericht auf die Linie der Anti-AKW-Aktivisten, die mit der Verbreitung von Halbwissen, Spekulationen und unbelegten Behauptungen die Kernenergie seit Jahren systematisch in Misskredit bringen.

Anders als im Ausländerrecht sind die internationalen Standards bei der Kernenergie für das BVG kein Thema. Erst kürzlich hat die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) in ­einem Bericht der Schweiz eine Entkoppelung von Politik und Sicherheitskontrollen bei nuklearen Anlagen empfohlen. Das leuchtet ein. Niemandem würde es einfallen, die Normen für den sicheren Betrieb von Autos oder Kaffeemaschinen basisdemokratisch zu bestimmen. Dies muss erst recht für Atomanlagen gelten.

Die IAEA postuliert eine Stärkung des Ensi als unabhängige Instanz, die auch abschlies­sende Entscheide in Sicherheitsfragen fällen soll. Gerade die Erfahrung aus Japan hat gezeigt, was passieren kann, wenn die Sicherheit von Kernkraftwerken nach politischen statt nach wissenschaftlichen Kriterien definiert wird. Richtig gefährlich wird es, wenn selbsternannte Experten von Greenpeace, dauerbesorgte Geistliche oder Juristen die Sicherheitskonzepte von Kernkraftwerken definieren.