«Well I’m finding it harder to be a gentleman every day», ich finde es jeden Tag schwerer, ein Gentleman zu sein, überschrieb Jack White ein Lied für seine damalige Band The White Stripes. Das war 2001.

Ihrem Kolumnisten gefällt der Song heute noch. Auch trifft der Text für ihn zwanzig Jahre später noch immer zu, möglicherweise mehr denn je. «All the manners that I’ve been taught have slowly died away», alle Manieren, die man mich lehrte, sind langsam weggestorben. Ich meine: Was bringt Anstand, wenn man zur abnehmenden Minderheit gehört, die welchen hat? Beziehungsweise gute Umgangsformen zunehmend falsch verstanden werden, als Ausdruck böser Absichten nämlich.

Trete ich zum Beispiel in ein Geschäft, bin ich in der Regel der, der grüsst. Worauf von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – zu deren Gehältern Kunden wie ich beitragen – oft keine Rückmeldung folgt; liegt’s an der Maske? Unwahrscheinlich, war bereits vor der Pandemie so. Oder wenn ich mich einer Kasse nähere, passiert immer wieder – erstmal nichts. Weil die dort arbeitende Person mit der an der Kasse daneben sitzenden quatscht. «Störe ich?», hätte mein ehemaliger Lehrer gefragt, «Vorsicht, Kunde droht mit Auftrag» ein früherer Vorgesetzter gesagt. Ich hab das auch schon versucht. Worauf (selten) leicht ungehalten / wenig sinnstiftend erwidert wurde: «Ich hab auch nur zwei Hände» oder so. Mehrheitlich werden solche Bemerkungen aber gar nicht erst verstanden. Was vielleicht an meinem Dialekt liegt (Berndeutsch, obwohl seit dreissig Jahren in Zürich diesen August). Eher aber daran, dass kaum mehr jemand in der sogenannten Dienstleistungsbranche irgendeine Sprache beherrscht, in deren Name «deutsch» vorkommt.

Der öffentliche Raum / Verkehr ist hingegen fast eine «Kampfzone», um dieses häufigverwendete Wort auch mal zu brauchen. MvH staunt, wie viele Erwachsene nicht wissen (wollen), dass man Fahrgäste aus S-Bahn, Tram et cetera zuerst aussteigen lässt. Jugendlichen gegenüber will er nachsichtig sein, weil diese noch meinen, überall Vortritt zu haben (oder reife Menschen im Alltag so wenig wahrnehmen wie Männer Ü-50-Frauen in Bars). Was ich hingegen nicht dulden mag, ohne mich zu beschweren, ist das Benehmen von Rolltreppen-Ignoranten. Solchen ist unbekannt, so sieht’s aus, dass man rechts steht und links geht – zwar weiss es mein Vierjähriger schon –, zudem gibt’s für Doofe aufgemalte stehende respektive gehende Fusssohlen-Paare. Nützt aber alles nichts – wenn man, sich entschuldigend und um Platz bittend, links vorbeimöchte, muss man sich Frechheiten anhören.

Aus der Kampfzone ins Minenfeld der Komplimente. Wohlwollendes Hervorheben von sowohl «Eigenschaften oder Leistungen als auch äusseren Merkmalen wie geschmackvolle Kleidungsauswahl oder die körperliche Beschaffenheit», steht bei Wikipedia (tatsächlich, ganz ohne Haftungsausschluss oder Warnung). Falls Sie, wie Ihr Kolumnist, ein mittelalter Mann sind: Haben Sie in jüngerer Vergangenheit einer Frau eine solche Höflichkeit mitgeteilt? Dann sind Sie mutig, ein Abenteurer gar (und /oder kennen coole Frauen).

Andrew Cuomo, Gouverneur des Staates New York, wurde gerade vorgeworfen, er habe einer Assistentin gesagt, sie sei «ausgesprochen schön» (erst noch auf Italienisch, New York Times), anschliessend den Blick über ihre Bluse schweifen lassen sowie eine im Ausschnitt hängende Halskette kommentiert. Nicht nur Journalistinnen und Journalisten der NYT finden, der 63-Jährige müsse deswegen (sowie möglicherweise schlimmerer, teilweise weit zurückliegender Fehlleistungen wegen) zurücktreten. Auch Präsident Biden sieht das so (falls die Vorwürfe zutreffen). Demokrat Cuomo, nebenbei, ist fast ein Liberaler im europäischen Sinn des Worts – und somit vielen in der Partei zu rechts respektive zu wenig crazy, wenn’s um soziale Politik und so weiter geht.

Jack White, übrigens, hat die White Stripes 2011 aufgelöst, leider. Doch er macht noch immer fleissig gute Musik – solo und mit anderen Bands –, sein selbsterarbeitetes Vermögen soll knapp 60 Millionen Dollar betragen. Sieht man sich seinen Auftritt im Dokumentarfilm «It Might Get Loud» an, scheint einem, er sei doch ein Gentleman geblieben.