Neulich habe ich in den sozialen Medien die Show einer Sängerin gesehen, die während ihrer Liveshow einem Mann übers Gesicht pinkelt. Sophia Urista, so heisst die Dame, holte 2021 im US-Staat Florida einen Fan zu sich auf die Bühne, gebot ihm, sich hinzulegen, zog dann ihre Hose runter und urinierte auf ihn – während sie weitersang. Später entschuldigte sich die Band Brass Against, die Rocksongs covert, die Sängerin habe es «übertrieben».

Bei einer anderen Bühnenshow wurde die US-Rapperin Cardi B von dem Nationalen Zentrum für sexuelle Ausbeutung kritisiert; die Organisation beanstandete nach den Grammys 2021, die Sängerin würde mit ihrer Show zur «Normalisierung von Porno-Kultur» beitragen, ihre Vorführung könnte «genauso gut aus einem Hardcore-Pornofilm» geschnitten sein. Die Show von Frau B zeigte sie in einem übergrossen Bett, in dem sie sich mit einer anderen Sängerin halbnackt in eindeutig sexuellen Posen drehte und wendete.

Von Lady Gaga ist ein Video aus dem Jahr 2014 aufgetaucht, in dem sie auf der Bühne, verzeihen Sie den Ausdruck, «bekotzt» wird. In einer Liveshow hat sich die von Gaga gefeaturte Performance-Künstlerin Millie Brown einen Finger in den Hals gesteckt und eine grüne Flüssigkeit über Gagas Brüste erbrochen – während diese ungestört weitersang. Laut Vice habe Brown mit ihrer Performance «inspirieren» wollen; Zuschauer sollten sich Gedanken machen über die weiblichen Schönheitsstandards, denen «Frauen täglich ausgesetzt» seien. Sie würde «Essstörungen verherrlichen», warf ihr damals die Popsängerin Demi Lovato vor.

Interessanterweise wurde – in Zeiten politischer Korrektheit – keine der Darbietungen zum Skandal erklärt.

Interessanterweise wurde – in Zeiten politischer Korrektheit – keine der Darbietungen von den Medien zum Skandal erklärt. Künstlerischer Ausdruck ist ja auch Geschmacksache.

Jedenfalls dachte ich im ersten Moment bei den Brech- und Pinkelszenen: zu schrill, zu eklig. Frauen, die verrückte oder widerliche Dinge tun, berühren mich anders als Männer, die verrückte oder widerliche Dinge tun. Man ist geneigt, hier eine gewisse Voreingenommenheit zu Lasten der Damen zuzulassen; Frauen sollten sich ladylike verhalten, es sind schliesslich Frauen. Denke ich etwas länger darüber nach, finde ich diese Geisteshaltung eher altmodisch – würde sich an der Stelle ein progressiver Freigeist über mein patriarchales Frauenbild echauffieren, hätte er wahrscheinlich recht.

Männliche Rockstars dekorieren ihre Liveshows seit je mit allerlei übersteigerten Effekten. Und zwar oft als Konsequenz der kritischen Melange; auf Drogen sein und gegen Konformität. Man konnte sich auf die Provokation ihrer künstlerischen Stilmittel, die Lichtjahre über das Musikalische hinausgingen und von den Medien als «Skandal» beschrieben wurden, blind verlassen: Die Band The Who zertrümmerte regelmässig ihr Equipment. Iggy Pop schnitt sich auf der Bühne mit Rasierklingen in die Brust. Die Red Hot Chili Peppers performten routiniert mit nichts als einem Socken über dem Penis. Marilyn Manson trug Sado-Maso-Outfits und spuckte auch mal ins Publikum. Ozzy Osbourne biss einer Fledermaus den Kopf ab (das war 1982, als ein Fan das Tier auf die Bühne warf, er es für ein Spielzeug hielt und es versehentlich einen Kopf kleiner machte).

Früher waren es vor allem Männer, die auf der Bühne verstörendes Verhalten an den Tag legten. Die Zeiten haben sich geändert, heute integrieren auch Sängerinnen nicht jugendfreie Provokationen in ihre Shows. Das Buhlen um Likes und Aufmerksamkeit ist zäh, obszöne Körperverrenkungen oder das Ausscheiden von intimen Körperflüssigkeiten rechtfertigen demnach als Kapital für maximalen Showeffekt. Und wenn Männer sich keinem künstlerischen Etikette-Diktat unterwerfen müssen, müssen es auch Frauen nicht. Im 2023 fällt das unter Gleichberechtigung, insofern machen die Ladys alles richtig.

Einen kleinen Unterschied gibt es dennoch: Die Rockstars von damals haben ihre verrückten Darbietungen nicht mit einer moralischen Botschaft erklärt. Es war nicht ihr künstlerischer Ausdruck gegen irgendwelche gesellschaftlichen Probleme, sondern sie haben einfach Party gemacht. That’s it. Man kann es vielleicht so zusammenfassen: Die Absurdität der Bühnenshows hat sich nicht geändert. Die Darstellerinnen von heute verkaufen sie einfach besser.