Auch noch als amtierender Staatspräsident kam er vorbei und holte seine Umschläge ab. Man war unter Nachbarn, bevor Nicolas Sar­kozy, Gemeindepräsident im noblen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine, in die Dienstwohnungen der Republik umzog. Die Frau seines Geldministers Eric Woerth, auch er ein regelmässiger Besucher der betuchten alten Dame, verwaltete deren unermessliches Vermögen: das grösste in Frankreich, das grösste einer Frau weltweit.

Sarkozy musste den ergebensten Richter mobilisieren, um eine Verurteilung wegen ­illegaler Finanzierung seiner Wahlkampagne zu verhindern. Gegen den zweiten mutmasslichen Geldgeber, Muammar al-Gaddafi, schickte er die eigene und die amerikanische Armee los, die dafür sorgten, dass der libysche Macht­haber aus dem Verkehr gezogen wurde; noch kurz zuvor hatte dieser sein Zelt im Garten des Elysée aufschlagen dürfen. Eine renitentere Richterin wurde in die Wüste verbannt. Gleichwohl kam es zu einem Prozess, in dem es Gefängnisstrafen hagelte und Schatzkanzler Woerth nur aus Zweifel für den Angeklagten freigesprochen wurde.

Heimliche Aufzeichnungen

Die Staatsaffäre um den grössten politischen Finanzskandal der Ära Sarkozy war der Neben­schauplatz einer Familientragödie. Heimlich hatte der Butler die Konversationen seiner gastfreundlichen und spendierfreudigen Arbeit­geberin aufgezeichnet, der Wortlaut wurde in der Presse veröffentlicht. Zu diesem ­Zeitpunkt hatte die Tochter und Alleinerbin Françoise

Bettencourt-Meyers schon mehrfach versucht, ihre Mutter unter Vormundschaft zu stellen. Und gegen den Fotografen François-Marie ­Banier geklagt, dem Liliane Bettencourt ­Hunderte von Millionen geschenkt hatte: alte Francs und neue Euros – in Form von Immobilien, Bildern, Lebensversicherungen.

Banier hatte diese Frau, die noch reicher war als die Königin von England, 1987 für die nur alle paar Jahre erscheinende Kultzeitschrift Egoïste abgelichtet – zu einem Interview über das Thema Geld. Sie war 65, Banier vierzig und homosexuell. Er war als Gigolo der greisen Dichter Louis Aragon – der auch im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei sass – und François Mauriac, Nobelpreisträger, bekannt. Damals noch als Schriftsteller und Verfasser eines Erstlingsromans, der 1969 erschienen war. Pierre Bergé, Lebenspartner von Bernard Buffet und später von Yves Saint Laurent, nannte ihn einen «Pseudoschriftsteller: Seine hauptsächlichste Qualität ist die Verführung von Alten.» Die Geschichte von Baniers Beziehung zu seiner vermögendsten Alten ist selber ein Roman.

Liliane Bettencourt wurde 1922 geboren und war fünf Jahre alt, als die Mutter, eine begabte Pianistin, starb: «Ihr Tod hinterliess ­eine Leere, die ich nie ausfüllen konnte.» Vater Eugène Schueller war der Sohn eines Bäckers, der am Sonntag in Neuilly-sur-Seine die frischen Brötchen in die Villen lieferte. Der angestrebte Besuch der Eliteschule Ecole polytech­nique blieb ihm verwehrt, er ­studierte Chemie und entwickelte zusammen mit einem Coiffeur in seiner Küche neuartige Haarfärbemittel und Shampoos. Ihr durchschlagender Erfolg begründete die ­moderne Zivilisation der schicken Französin; innerhalb weniger Jahre wurden landesweit über 40 000 Coiffeursalons eröffnet. So entstand der Kosmetikkonzern L’Oréal. Während zehn Jahren steckte der Witwer und Milliardär seine Tochter in eine Klosterschule. Nach Hause zum vergötterten Vater durfte sie nur in den Ferien, während deren er sie zum Arbeiten in seine Fabrik schickte. Sie klebte Etiketten auf die Shampoo-Fläschchen. Das Studium kam für eine Frau nicht in Frage, zu Lebzeiten des Vaters bekam Liliane auch nie eine verantwortungsvolle Stelle im Konzern. Ihre Erziehung war auf die Erfüllung mondäner Verpflichtungen für L’Oréal und ein angenehmes Leben als rentière und Erbin angelegt.

In den dreissiger Jahren finanzierte der ­katholische Traditionalist Eugène Schueller das faschistische Stosstruppunternehmen La Cagoule. Als Führer der nazifreundlichen «Geheimorganisation für eine nationale und soziale Revolution» veröffentlichte er anti­semitische Pamphlete gegen den jüdischen und sozialistischen Regierungschef Léon Blum. Um ihn zu beseitigen, setzten weite Teile von Frankeichs Elite auf den Sieg Hitlers gegen das eigene Land. Schueller hielt es mit Pétain und profitierte von der Arisierung. Die Juden in seinem Unternehmen schützte er vor der Deportation, die verurteilten Kollaborateure von La Cagoule holte er nach deren Entlassung aus dem Gefängnis in seine Direktionsetage. Die Tochter verniedlichte ihn lebenslang als «patholo­gischen Optimisten ohne politischen Verstand», der «stets im falschen Boot sass».

Schueller verheiratete seine Liliane – mit Gütertrennung – mit einem Geschäftspartner gleicher Gesinnung. André Bettencourt hatte sich allerdings noch rechtzeitig in den Widerstand abgesetzt. In der Résistance will er die Bekanntschaft von Mitterrand gemacht haben – tatsächlich kannten sie sich bereits aus der gemeinsamen Zeit bei La Cagoule. Nach dem Krieg war Bettencourt Abgeordneter und Minister in mehreren bürgerlichen Regierungen. 1953 bekam das Paar seine einzige Tochter Françoise.

Eugène Schueller starb 1957. Als Alleinerbin übernahm Liliane Bettencourt L’Oréal. Sie leitete den Konzern nach den Prinzipien des Vaters und mit der Unterstützung ihres Gatten. Zu allen Präsidenten unterhielten die Bettencourts beste Beziehungen, auch Mitterrand unterstützten sie finanziell. Pompidou, in dessen Regierung Bettencourt Aussenminister war, hatte ­ihnen weise geraten, Nestlé als Minderheitsaktionär ins Boot zu holen, um eine drohende Verstaatlichung durch die Linke zu verhindern.

Bis zum Sieg Mitterrands war Reden über Geld in Frankreich so tabu wie Vichy, und die Öffentlichkeit ignorierte nicht nur Mitterrands braune Herkunft, sondern auch die Vergan­genheit von Schueller und Bettencourt. Unter der Linken wurden beide zum Thema. Serge Gainsbourg verbrannte im Fernsehen eine 500-Franc-Note, der ex-kommunistische Schauspieler Yves Montand lobte das ­Unternehmertum, Bernard Tapie wurde zum Idol. Einer der Höhepunkte dieses Klimawandels war das Interview von Liliane Bettencourt in der Zeitschrift Egoïste. Die Leser hatten keinen Grund, an ihrer Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Auch André Bettencourt, der 2007 starb, hatte jahrelang nichts gegen die Millionengeschenke an Banier einzuwenden. Genauso wenig wie die Tochter, die sich mit ­einem Juden verheiratet hatte, der einen Teil seiner Familie in Auschwitz verloren hatte und dem Schwiegervater nicht nur stille Vorwürfe machte.

Nichtangriffspakt mit Schweigeklausel

Mit den Versuchen von Françoise Bettencourt-Meyers, die Mutter unter Vormundschaft zu stellen, und der ersten Klage gegen François-Marie Banier kam die Welle der Gutachten, Enthüllungen und Gerichtsverfahren mit Hunderten von Millionen an Streitwert in Gang. Ein Jahrzehnt lang hielt sie Frankreich in Atem. Als Erstes tagte das Fernsehgericht. Zum Beweis ihrer Zurechnungsfähigkeit hatte Liliane Bettencourt im Alter von fast neunzig Jahren in der «Tagesschau» von Europas grösstem Privatsender TF 1 zu erscheinen. Sie war stocktaub, trug weisse Turnschuhe und machte einen ganz guten Eindruck: Ihre Tochter sei «eifersüchtig» und kaltherzig, und überhaupt habe diese jegliche Beziehung zu ihr abgebrochen.

Bei einem ersten Prozess wurde Banier zu ­einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Hunderte von Briefen hatte er Liliane geschickt. Sie war ihm nicht nur ergeben, sondern auch verbunden. Und ermunterte ihn zum künstlerischen Schaffen. Ein «Verrückter» wir ihr Vater sei er, schrieb sie ihm einmal. Den Klagen folgten Gegenklagen, der Aussage der Buchhalterin waren üppige Zahlungen von Françoise Bettencourt-­Meyers vorausgegangen. Als Beistand ernannte das Gericht, das auf Alzheimer entschied, den Enkel. Seit der Finanzkrise tröstete das triste Feuilleton die Franzosen mit der Erkenntnis, dass es die Superreichen auch nicht immer leicht haben.

«Friedlich entschlafen» sei Liliane Bettencourt, liess die Tochter verlauten. Sie hatte sich vor ein paar Jahren mit der Mutter versöhnt und mit Banier diesen Sommer einen Nichtangriffspakt mit einer Schweigeklausel geschlossen. Er darf in den nächsten Wochen dreizehn Meisterwerke – mehrere Picassos – aus der Wohnung seiner Mäzenin abholen. Am Tag von Liliane Bettencourts Tod im Alter von 94 Jahren wurde der Freispruch für den Butler bekannt. Ihr ­Vermögen betrug 33 Milliarden Euro. Die L’Oréal-Aktien legten um 3,5 Prozent zu.