Zum Comeback des Vokuhila

Ja, schon wieder eine Frisurendiskussion, doch diese hier wird schön, denn wir sagen nur ein einziges Mal «kulturelle Aneignung». So, schon geschehen. Denn seit diesem Sommer wissen wir: Es gibt strukturellen Rassismus im Haupthaar. Also aufgepasst bei der Frisurenwahl, heutzutage wird Geschmack schnell zum Schicksal. Doch was ist in dieser sensiblen Zeit nicht nur modisch der richtige Schnitt, sondern auch moralisch ein Hit? Es ist, wer hätte es gedacht, der einstige Antagonist: Der Proll, der Aussenseiter, der Ewiggestrige, ja die bis anhin böse Frisur schlechthin wird Mainstream. Richtig, der Vokuhila ist zurück. Tja, auch wenn Sie sich damit unwohl fühlen, denn ein Abbruch des Trends ist nicht in Sicht.

Im Gegenteil, vorerst geht «vorne kurz, hinten lang» so richtig steil. Und wo multiplizieren sich Trends zum globalen Phänomen? Na klar, auf Social Media, da gingen kürzlich die «USA Mullet Championships Kids» auf zig Kanälen viral: skurrile Frisurenbilder von Kindern, die an der amerikanischen Meisterschaft um den schönsten mullet, wie da der Vokuhila heisst, konkurrieren. Die Jungs tragen Namen wie Rustin, Landry oder Epic, verspiegelte Sonnenbrillen, T-Shirts mit Sternenbanner; und müsste man das Milieu erraten: Die Eltern sind wohl kaum Demokraten.

Die erwachsenen Söhne meiner Bekannten haben nun denselben Haarschnitt wie damals mein Vater.

Denn «business in the front, party in the back» ist für viele nicht nur Frisur, sondern auch Lebenseinstellung pur: mullet-Träger galten bis anhin als konservativ und rebellisch zugleich. Joe Exotic, der Hauptdarsteller der Netflix-Doku «Tiger King», während der Pandemie die meistgestreamte Serie der Welt, ist gefeierter Exponent dieser Zunft. Der durchgeknallte Hillbilly-König, der momentan eine 22-jährige Haftstrafe absitzt, hat mit seinem white trash glam mitsamt blondiertem Extrem-mullet viel für dessen Verbreitung getan. Er ging quasi mit schlechtem Beispiel voran. Plus Lockdown, ergo: Wer nicht zum Coiffeur kann, schnipselt sich selbst an den Haaren rum. Und vorne kommt man nun mal besser ran: Na, dann hinten eben lang. Tja, manchmal sind Trends so banal.

Die Wurzeln des Vokuhila werden in Konstantinopel vermutet: 532 tobte ein Mob durch die Strassen von Byzanz, der Historiker Prokopios (500–562) vermerkte in seiner «Anekdota» auch des Mobs haarige Dissonanz: «Vom Haupthaar schoren sie den Vorderteil bis zu den Schläfen, den Rest liessen sie ohne rechten Grund ganz lang herunterhängen.» Ein Haarschnitt als Synonym für schlechtes Benehmen.

Aber auch der Rebellion, und mit dieser Ästhetik flirtet jede Jugend- und Populärkultur, daher war der Vokuhila in unterschiedlich radikaler Form auch immer wieder ein Statement der Avantgarde: David Bowie, Rod Stewart, Keith Richards und Paul McCartney gingen in den frühen 1970ern in Rockstar-Manier voran, in den 1980ern gab’s dann kein Halten mehr: Cher, Andre Agassi, Jane Fonda, Patrick Swayze, Chuck Norris, Bono, David Hasselhoff, Rudi Völler, kaum jemand widerstand dem Vokuhila. Durchgestuft war gut. Nicht nur bei den Stars. Und für sie und ihn, denn die Frisur war schon non-binär, als das noch unisex hiess. Ausserdem trug der Mann von Welt dazu Schnauz. Tja, so sahen die Menschen in den achtziger Jahren eben aus. Sie auch?

Und so sehen die jungen Menschen heute wieder aus. Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Die erwachsenen Söhne meiner Bekannten tragen dieselbe Frisur wie damals mein Vater. Das wirkt befremdlich vertraut. So sehr, dass es mir manchmal graut. «Sexy? Klar, der Look, aber die sind so jung», sagte ich neulich zu einer Freundin. «Zu jung? Sprich bitte nur für dich!», sagte sie.

Ja, der Stufenschnitt ist wieder salonfähig. Marc Menden, Inhaber von «Mad Hairstyling» mit vier Salons in Zürich, sagt, dass zurzeit jede zweite Person einen Stufenschnitt wünsche, jede fünfte einen richtigen Vokuhila. Bam, das nennt sich Trend! Mir gefällt’s. Wohlige 1980er-Jahre-Nostalgie mit einem Schuss Ironie, ein Schnitt zur Schizophrenie der Gegenwart: Was hintenrum abgeht, ist das Gegenteil vom dem, was man vorne zeigt. Passt perfekt in die Zeit.