Herr Kehlmann, Ihr Roman «Die Vermessung der Welt» stand eine gefühlte Ewigkeit lang auf den Bestsellerlisten, wurde in 42 Sprachen übersetzt und hat sich inzwischen 1,4 Millionen Mal verkauft. Haben Sie eine Erklärung für den Erfolg?
Nein, wirklich nicht. Bei hunderttausend verkauften Exemplaren hatte ich noch Thesen, aber die haben sich alle verflüchtigt. Ich glaube, jetzt sollte man einen Soziologen fragen, das ist kein literari-sches Phänomen mehr, sondern ein gesellschaftliches. Ich habe wirklich keine Ahnung.

Ab wann wussten Sie, dass Sie Schriftsteller werden wollten? Wann haben Sie Ihren ersten Roman geschrieben? Und wie haben Sie sich in den ersten Jahren über Wasser halten können?
Ich wusste schon seit meinem zehnten, elften Lebensjahr, dass ich Bücher liebe und Bücher schreiben möchte. Das war ­eine verträumte Wunschvorstellung, eine Sehnsucht. Ich wusste schon damals, dass es schwierig ist, davon zu leben, und dass man das eben normalerweise neben einem «richtigen» Beruf machen muss. Allerdings war mein Vater freischaffender Regisseur, ich wusste also und hatte täglich ein Beispiel dafür vor Augen, dass man als Künstler überleben kann, und oft gar nicht so schlecht. Meinen ersten Roman schrieb ich dann mit einundzwanzig, und ich war völlig überrascht, wirklich, das ist jetzt kein Understatement, als sich, natürlich auch durch Glück, sofort die Möglichkeit bot, ihn zu publizieren. Meine erste Veröffentlichung war also ein Buch, der Roman «Beerholms Vorstellung», erschienen, als ich zweiundzwanzig war. Ich treffe immer wieder Leute, die mir sagen, sie hielten das für mein bestes Buch, und seltsamerweise, denn es sollte mich ja ärgern, freue ich mich darüber. Das Buch ging damals vollständig unter, wie auch meine nächsten Bücher. Überleben konnte ich trotzdem ganz gut, unter anderem dank der grosszügigen Stipendien des österreichischen Staates. Ich war immer freischaffender Schriftsteller und hatte nie einen anständigen Beruf.

Im Nachhinein liest sich Ihre Karriere als Erfolgsgeschichte. Aber es muss lange Dürreperio­den gegeben haben, in denen nur die sieben mageren Kühe zu sehen waren und die sieben fetten sich noch nicht abzeichneten. In der Dankesrede für den Welt-Literaturpreis haben Sie sehr komisch geschildert, wie Sie einmal unter einer tropfenden Plane vor vier Leuten gelesen haben. Gab es in Ihrem Innern dennoch immer eine Ahnung oder ein Stimmchen, das Ihnen zuflüsterte: «Warte nur, am Ende wird man dein Genie erkennen?»
Nein. Ich dachte immer, dieser ganze Betrieb ist absurd, zufällig, willkürlich und unzuverlässig. Es kann durchaus sein, dass man sein Leben lang übersehen und vernachlässigt wird – wie es ja zum Beispiel dem von uns bewunderten Richard Yates passiert ist. Das hat dann gar nicht unbedingt spezielle Gründe, da ist keine Verschwörung, es passiert einfach, ohne dass irgendjemand wüsste, wieso. Natürlich hatte ich die Hoffnung, dass es sich einmal ändert. Aber Zuversicht – ehrlich gesagt, nein. Deshalb muss ich auch immer lachen, wenn mich Leute fragen, wie ich denn den absurden Druck des Erfolgs aushalte. Misserfolg erzeugt absurden Druck. Misserfolg macht verzweifelt und traurig. Ich hatte immer gute Rezensionen, aber sie kamen immer sehr spärlich, oft Monate nach dem Erscheinen der Bücher, und dementsprechend schlecht war auch der Verkauf. Rezensionen sind nämlich nicht unwichtig für den Handel, ganz und gar nicht! Bis zu «Ich und Kaminski» wurden meine Bücher einfach kaum besprochen. Und auch bei «Ich und Kaminski» änderte sich das nur, weil der Verlag das Buch zum Spitzentitel machte, mit Anzeigen und einer Doppelseite in der Vorschau. Qualität allein reicht nicht. Die äusserlichen Gegebenheiten müssen stimmen, oder ein Buch geht unter, das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Warum das so ist? Weil zu viel erscheint und Kritiker keine Entdeckerambitionen haben.

Das stimmt sicher, auf lange Sicht wird es dann aber wieder ausgeglichen, siehe Kafka und Yates. Die natürlich beide nichts mehr davon haben, jedenfalls können wir es nicht mehr nachprüfen. Aber apropos Komik und apropos «Warte nur»: Meine Lieblingsstelle in der «Vermessung der Welt» zeigt Alexander Humboldt, wie er auf dem Rio Negro das berühmteste Gedicht deutscher Zunge in freier spanischer Prosa wiedergibt, wodurch es natürlich alles verliert. Seine Zuhörer können gar nicht recht begreifen, was der trockene Kerl daran findet. Das ist eine wirklich grosse und sehr komische, aber auch diskret anrührende Passage, von der man das Gefühl hat, sie werde später in Schulbüchern stehen – neben Goethes «Wanderers Nachtlied». Ist das eine der Stellen, die dem Autor lächelnd am Herzen sitzt?
Natürlich. Als ich das schrieb, dachte ich auch an Karl Kraus, der in der Fackel Entstellungen von «Wanderers Nachtlied» gesammelt hatte. Nun schreibe ich mal eine, dachte ich, die womöglich sogar Kraus hätte gefallen können. Das Magazin Titanic schrieb dann, endlich hätte mal jemand gezeigt, was für ein schlechtes Gedicht das sei. Was soll ich sagen, das war nicht gerade meine Absicht!

In der erwähnten Dankesrede zitieren Sie auch einen Interneteintrag, der sich über die Dummheit der «Vermessung der Welt» beklagte. Der Benutzername der Autorin war «die_zwetschge_sumsi». All die Zwetschge-Sumsis in der Welt... Wenn Sie die 250 Leserrezensionen Ihres Buches bei Amazon lesen – falls Sie sie lesen –, bestätigt das jenes Wort vom Ruhm, der immer ein Missverständnis sei?
Ja, ich lese das von Zeit zu Zeit. Es ist amüsant, aber auch bedrückend, denn es zeigt einem, dass ein Buch, das in solchen Ausmassen zum Bestseller wird, eben wirklich in die Hände vieler Leser kommt, die damit gar nichts anfangen können. Das soll nun nicht elitär oder arrogant klingen, aber es ist einfach so. Die letzten hundert Leserrezensionen bei Amazon – da gibt es natürlich eine gewisse Vorselektion durch die Masse, denn wer schreibt noch eine Rezension, wenn da schon ein paar hundert stehen, und unter den ersten Leserbesprechungen waren hochintelligente Texte, die in jedem Qualitätsfeuilleton hätten stehen können; die letzten hundert aber sind dermassen blödsinnig, dass man wirklich melancholisch wird und sein eigenes Buch bedauert. Die kritischen sind schlimm, aber fast noch schlimmer sind die lobenden, in denen dann Dinge stehen wie «hochamüsante Anekdotensammlung, mal was zum Schmunzeln, natürlich keine grosse Literatur, aber doch was fürs gepflegte Ablachen» oder «eine lehrreiche Doppelbiografie, besonders für Jugendliche zu empfehlen».

Gepflegtes Ablachen... das ist bitter. Wie waren sonst Ihre Erfahrungen mit der Literaturkritik – auch im internationalen Vergleich?
Am meisten Glück hatte ich bei der angelsächsischen Kritik. Dort habe ich die besten – und damit meine ich sowohl die ­positivsten als auch die einsichtsvollsten – Rezensionen meines Lebens bekommen. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen dem Verkaufserfolg und solchen Besprechungen... schwierig. Zum Glück musste ich mich nicht entscheiden.

Man liest, Sie seien oft in New York. Ist man da bei der Einreise nicht seit einiger Zeit nervös? Was gefällt Ihnen dort, und was ziehen Sie dann doch im alten Kerneuropa vor, sei es Wien oder Berlin, wo Sie seit neuestem eine Wohnung haben?
Ich bin nervös bei der Einreise in Diktaturen. In Südamerika oder in Kasachstan und jetzt auch wieder in Russland. Bei der Einreise in die USA habe ich die Be­amten immer als besonders höflich und zuvorkommend erlebt. Was ich in Kern-euro­pa vorziehe? Ehrlich gesagt, die Wohnungspreise. Sonst wenig.

Sie sind aus privaten Gründen im Moment öfter in Kasachstan. Welche Eindrücke gewinnt man dort?
Lassen Sie es mich so sagen: Man glaubt ja, die Welt wäre überall interessant und jede Region hätte verborgene Schätze. Zentralasien heilt einen von diesem Vorurteil. Dort gibt es Regionen, die sind nur schrecklich. Schmutzig, verwahrlost und heruntergekommen, trübe postsowjetische Provinz. Vielleicht wird sich das ändern, aber sicher nicht so bald. Wer dort nicht hinkommt, lebt besser. Mandel­stam bezeichnet diese Region, natürlich im Hinblick auf den Gulag, in einem Gedicht als «die Nacht der Welt». Dem ist aber auch heute wenig hinzuzufügen.

Um auf die Literatur zurückzukommen: Was Sie von anderen Autoren unterscheidet, ist, dass Sie einem notfalls erklären könnten, wie Gauss das Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstruierte. Künstler sind oft stolz darauf, keine Glühbirne eindrehen zu können, wie der Nabokov-Herausgeber Dieter E. Zimmer einmal schrieb. Sie dagegen haben sich schon in früheren Romanen mit Quantenphysik und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik befasst. Der sprichwörtliche Graben, der die Geistes- von den Naturwissenschaften trennt, hat sich bei Ihnen offenbar nicht aufgetan. Hatten Sie im Abitur (oder in der Matura) gute Noten in Mathe und Physik?
Ganz gute Noten, aber meine Begabung lag dort nicht. Mein Interesse an der Wissenschaft ist ein literarisches. Wie auch mein Interesse an der Philosophie. Ich bin viel zu sehr aufs Narrative, auf die ständige Suche nach Geschichten, ausgelegt, als dass ich in solchen Bereichen je Ernstzunehmendes hätte leisten können.

Haben Sie auch eine Affinität zur Musik, die ja oft mit einer zur Mathematik einhergeht? Ihr Roman «Mahlers Zeit» hat zwar vordergründig mit Gustav nicht viel zu tun, der Name ist aber doch sicher eine Hommage.
Er ist eine Hommage, wenn auch, muss ich rückblickend sagen, die Titelwahl etwas unglücklich und missverständlich ist. Natürlich bedeutet mir Musik viel, aber auf ­einer Musikalitätsskala von eins bis zehn käme ich wohl nicht über die Sechs hinaus.

Um noch etwas beim Roman «Mahlers Zeit» zu bleiben: Sein Held ähnelt dem paranoiden Schachgenie Lushin aus Vladimir Nabokovs frühem Roman «Lushins Verteidigung». Nicht nur in diesem Roman hinterlässt Nabokov immer wieder Spuren in Ihrem Werk. Wenn Ihr Gauss sinniert, die Welt nehme sich doch enttäuschend aus, sobald man erkenne, wie dünn ihr Gewebe sei und wie laienhaft vernäht ihre Rückseite, dann klingt das fast wörtlich nach Vladimir Nabokov. Was schätzen Sie an diesem Autor?
O Gott, wo anfangen! Nabokov ist sicher der wichtigste Einfluss in meinem Leben gewesen! Das Wunder seines Stils, die Schärfe seines Blicks, sein Witz, sein ungeheuerliches Gefühl für die Feinheiten der Komposition! Borges sagt ja, dass grosse Autoren nicht nur ihre Nachfolger, sondern auch Vorläufer generieren: Durch die Brille Nabokovs liest man auch Proust und Flaubert und Tolstoi anders. Sein Einfluss wird so stark, dass man sich bemühen muss, nicht im Epigonalen zu versinken, man braucht seine ganze Kraft, um sich wieder von ihm zu emanzipieren. Von dieser Bemühung, glaube ich, zeugen meine letzten zwei Romane. Eine solche Emanzipierungsbemühung bedeutet aber nicht, dass die Verehrung kleiner wird.

Und welches seiner Bücher ist Ihnen am liebsten?
«Pale Fire».

Das jetzt in der neuen Ausgabe von Dieter E. Zimmer vorliegt. Die Grübeleien von Gauss erinnern übrigens nicht nur an Nabokov, sondern auch an den von Ihnen zitierten Borges. Sie haben ja über Kant promovieren wollen, da kennen Sie die Begeisterung, mit der Borges Kants «Antinomien» studierte. Die waren für ihn so wichtig wie Zenons berühmtes Paradoxon von der vertrödelten Schildkröte, die dennoch nie von Achilles überholt werden kann. Borges zog daraus einen kühnen Schluss. Wir sollten ruhig zugeben, meinte er, dass der Charakter der Welt halluzinatorisch sei. Wir träumten die Welt, solide im Raum und fest in der Zeit. Aber wir hätten in ihrem Bau schmale und ewige Zwischenräume von Sinnlosigkeit offengelassen, damit wir wüssten, dass sie falsch ist. Ein abgründiger Gedanke, den Ihr Gauss ganz ähnlich fasst. Sie haben offenbar Sympathie für den Argentinier?
Natürlich! Er ist die grosse Gegenfigur zu Nabokov, die beiden sind die Brückenpfeiler, zwischen denen sich der Übergang von der Klassik zur Postmoderne aufspannt. Borges ist ungeheuerlich. In so ziemlich allem das Gegenteil von Nabokov, aber ihm doch so verwandt. Sie wissen sicher, dass er einmal in «Ada or Ardour» vorkommt.

Als Anagramm «Osberg», und nicht sehr freundlich. Sie waren sich wohl zu nahe. Auch darin, dass sie beide den Nobelpreis nicht bekamen – was Borges aber souveräner nahm. Was sind Ihre anderen Favoriten? Der von Nabokov verachtete Thomas Mann?
Nabokov hat Thomas Mann sehr unrecht getan. In Wirklichkeit sind die beiden eng verwandt – ich habe das seit Jahren behauptet, da können Sie sich vorstellen, wie ich mich gefreut habe, als Sie das in Ihrem Nabokov-Buch schlüssig vorgeführt haben. Thomas Mann ist gar nicht so ernst und philosophisch und schwerfällig, wie er oft wirkt, er ist ein ungemein verspielter Humorist, und er ist neben Karl Kraus der Meister deutschen Prosastils im zwanzigsten Jahrhundert.

Um einen Gang niedriger zu schalten: Hobbitt oder Harry Potter, Tolkien oder Rowling?
Natürlich Tolkien! Potter, das ist nette Jugendliteratur. Wirklich gut und lesenswert. «Der Herr der Ringe» ist ein bleibendes Meisterwerk der Kunst. Darüber müsste man ein eigenes Gespräch führen. Natürlich gibt es Menschen, und ich verstehe sie sogar, die nicht bereit sind, ein Buch, in dem Zwerge, Elben und Zauberer vorkommen, literarisch ernst zu nehmen. Aber wer es schafft, sich von diesen Vorurteilen zu lösen und den «Herrn der Ringe» so unvoreingenommen zu lesen, wie ja auch «Ulysses» oder «Der Mann ohne Eigenschaften» gelesen werden müssen, der wird feststellen, dass das Werk durchaus in diese Nachbarschaft gehört.

Als Potterianer werde ich dazu schweigen müssen. Und unter den anderen Engländern und Amerikanern: Nicholson Baker? Altmeister Updike? Der Martin Amis von «Experience», oder Banvilles «Sea»?
Martin Amis schätze ich vor allem als Essayist und Kritiker. Da ist er wirklich Weltklasse, da kommt kaum jemand in seine Nähe. Updike ist einer der wichtigsten Schriftsteller des Jahrhunderts; ich sehe ihn als legitimen Proust-Nachfolger und -Erben. Er nimmt die proustsche Beschreibungskunst, führt sie aus der Belle-Epoque-Welt und wendet sie auf unsere Gegenwart, auf Autos, Computer, Flugzeuge und die amerikanischen Vorstädte an. Meine Lieblingsbücher von ihm sind übrigens die wenig bekannten Romane «The Centaur» und «Roger’s Version».

Dann müsste Ihnen Baker auch gefallen. Und bei den Klassikern?
Von Baker schätze ich vor allem «U and I». Das geistreichste Werk über literarischen Einfluss, das ich je gelesen habe. Updike schätzt es angeblich nicht sehr – was ich gar nicht verstehen kann. Von den Klassikern: immer wieder Kleist. Er ist so rätselhaft und gross und unerschöpflich. Und Karl Kraus – falls der schon als Klassiker gilt.

Gilt er. Autoren halten sich aus guten Gründen zurück, wenn Sie nach ihrem work in progress befragt werden. Gibt es etwas, das Sie uns dennoch andeuten können über das Buch, an dem Sie gerade schreiben? Und ist der Druck grösser oder kleiner nach der «Vermessung»?
Grösser und kleiner. Natürlich spürt man die Erwartungen, andererseits gibt einem die neue ökonomische Freiheit natürlich Gelassenheit. Das neue Buch wird zu Anfang wie eine Geschichtensammlung aussehen, und dann fügen sich die Bausteine, und nach und nach entsteht ein Bogen. Also sozusagen ein Roman, der keiner ist: der Bogen eines Romans, aber keine durchgehenden Helden. Ein Episodenfilm als Buch.

Was Sie sagen, erinnert in der Bauart ein bisschen an «Nachts unter der steinernen Brücke», den späten Roman von Leo Perutz. Auch da werden verschiedene Erzählungen durch ein raffiniertes Ringleinspiel von Motiven zu einem Zyklus verbunden. Sie haben nicht zufällig an Perutz gedacht?
Immer wieder. Ich habe Perutz seit früher Jugend gelesen, mein Vater war ein grosser Verehrer von ihm und hat auch den «Meister des Jüngsten Tages» verfilmt.

Das wusste ich nicht.
Ich bin immer wieder selbst überrascht, wie sehr ich von Perutz beeinflusst bin. Natürlich merkt man «Mahlers Zeit» den Nabokov-Einfluss ständig an; aber wahrscheinlich ist Perutz nicht weniger präsent. Und «Der fernste Ort» ist sehr nahe an «Zwischen neun und neun».

Also noch ein gemeinsamer Lieblingsautor.
Ehrlich gesagt, darüber bin ich nicht überrascht.

Wenn wir noch einmal auf Ihren Welterfolg zu sprechen kommen: «Die Vermessung der Welt» ist nicht nur komisch und gescheit, der Roman ist auch tief – für einen so jungen Autor erstaunlich. Waren Sie als Kind altklug?
Wahrscheinlich, aber was heisst altklug eigent­lich? Das ist doch nur eine Formel, um interessierte, aufmerksame Menschen in ihre Schranken zu weisen. Noch als «Ich und Kaminski» erschien, gab es eine Kritik, in der man mich altklug nannte. Und das in einem Alter, in dem Hegel schon die «Phänomenologie des Geistes» schrieb – wenn ich mit meinem kleinen Roman schon altklug war, wie nennt man dann den?

Hegel stelle ich mir als Kind eher schwäbisch schwerfällig vor. Aber ich ziehe das Wort «altklug» beschämt zurück. Es muss ja nicht jeder Fussball gespielt haben in seiner Kindheit. Obwohl David Mahler sogar das tat (als Torwart – wie Nabokov). Etwas anderes: Eine Pointe des Buchs scheint mir von der Kritik nicht genügend gewürdigt. Auf der einen Seite haben wir die Vermessung der Welt. Auf der anderen Seite aber gibt es immer wieder subtile Einbrüche des Magischen. Zum Beispiel schwebt kurz und unauffällig eine fliegende Untertasse durchs Bild. Die andere Welt, die real, aber nur schwer naturwissenschaftlich erfassbar ist, tanzt schatten- und spukhaft im Rücken des Humanisten-Monsters. War Alexander übrigens wirklich so ein Monster? Er war doch ein grosser Kunstkenner und feinsinnig, wie mir Humboldt-Kenner stecken.
Ich finde, ein Monster ist er auch bei mir nicht gerade. Aber er ist ein in seine Vor­urteile und Obsessionen eingeschnürter Mensch, panisch auf der Flucht, ohne zu wissen wovor, sich selbst eigentlich unbekannt. Natürlich spitzt ein Roman zu. Ich behaupte nicht, Humboldt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich denke aber schon, dass Humboldt ein Getriebener war und ein sehr seltsamer Mensch und in manchen Zügen vielleicht doch nicht so weit von meiner Romanfigur entfernt, wie man meint. Bei mir schreibt der junge Humboldt einmal seinem Bruder, er habe Angst, den Verstand zu verlieren. Das ist eines der wenigen echten Zitate, die ich verwendet habe.

In Ihrer soeben erschienenen kleinen poetologischen Schrift «Diese sehr ernsten Scherze» weisen Sie ausdrücklich auf den magischen Rea­lismus eines Márquez hin. Mögen Sie das südamerikanische Erzählen?
Humboldt war mein Schlüssel zu Süd­ame­rika, auch in künstlerischer Hinsicht, er war meine Möglichkeit, die Techniken des südamerikanischen Romans sozusagen mit innerer Notwendigkeit zu verwenden. Márquez und Vargas Llosa waren für mich eben auch ein Gegengewicht zu Nabokov, eine Möglichkeit, seinem starken Einfluss in einen ganz anderen Kosmos zu entfliehen.

Lieber Herr Kehlmann, ein so enormer früher Erfolg ist nicht ohne Gefahren und macht einem das Leben nur für einen Moment lang leichter. Jeder kennt Beispiele von Prominenten, denen früher Erfolg später geschadet hat. Bei Ihnen sehe ich die Gefahr übrigens nicht, dazu sind Sie als Persönlichkeit zu gefestigt. Dennoch: Können Sie sich vorstellen, dass es Ihnen später einmal wie Boris Becker geht, der rückblickend geseufzt hat, er hätte damals den letzten Ball in Wimbledon besser verschlagen, wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt?
Überschätzen Sie meine Stabilität nicht. Aber im Ernst: Ich weiss ziemlich genau, was Becker meint. Wie heisst es bei Kipling so schön: «To cope with triumph and desaster.» Als Künstler muss man mit allem fertig werden, mit Misserfolg normalerweise und fallweise eben auch mit Erfolg. E.L. Doctorow hat einmal zu mir gesagt: «Misserfolg ist ganz schlecht, aber Erfolg ist auch ganz schlecht, kurz gesagt, alles, was einem Künstler passiert, ist ganz, ganz schlecht.» Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Höchstens die Bemerkung, dass E.L.Doctorows frühem Roman «Weltausstellung» viel mehr Erfolg zu gönnen gewesen wäre, als er einsacken konnte. Noch etwas anderes übrigens wurde von der Kritik nur selten bemerkt. Zumindest in seiner zweiten Hälfte ist «Die Vermessung der Welt» eigentlich ein Buch über das Altern. Wie immer stärker der Wind durch die Ritzen pfeift und das Ich sich aufzulösen beginnt. Auch das kein Thema, das man von einem Dreissigjährigen erwarten würde. Aber darin liegt eben der Denkfehler. Über bestimmte Phänomene kann man vielleicht nur dann frei handeln, wenn man ihnen noch nicht ganz ausgesetzt ist.
Das ist wohl so, aber Kontakt hatte ich mit dem Phänomen durchaus. Mein Vater war Jahrgang 1927, gehörte also eigentlich von mir aus gesehen zur Grossvätergeneration, und die letzten Jahre seines Lebens wa-ren geprägt von der Demenzkrankheit. Das heisst nun nicht, dass meine Figuren viel mit ihm zu tun haben, aber der Umstand des Alterns und Verfallens war mir dadurch präsent.

Ihr Vater war in Österreich als Regisseur bekannt. Hat er Sie in die Literatur eingeführt, und war sein Name eher hinderlich oder eher nützlich für Sie?
Weder noch. Als ich zu publizieren anfing, hatte mein Vater schon seit Jahren nichts mehr inszeniert – am Fernsehen gab es kaum noch Interesse an Literaturverfilmungen, und am Theater hatte man, da er für emphatische Werktreue stand, keine Verwendung mehr für ihn, er galt als unmodern. Das war sehr tragisch für ihn, aber es hatte eben auch den Effekt, dass sein Name nicht mehr das Gewicht hatte, mir zu helfen oder zu schaden. In den sechziger Jahren, als er einer der prominentesten Regisseure deutscher Sprache war, wäre das anders gewesen.

Beziehungs- und Hormonkrisen spielen keine besondere Rolle in Ihren Romanen. Maxim Billers «Esra» ist nicht das Genre Buch, das Sie geschrieben hätten, selbst wenn es noch erlaubt wäre. Es werden auch nicht die Väter oder Grossväter entdeckt. Nabokov hatte wenigstens eine Obsession; bei Ihnen scheint sie zu fehlen. Es sei denn, man würde die Neugier eine Obsession nennen: die Neugier, wie es denn nun eigentlich wirklich sei. «Dunkel ist das Leben, ist der Tod» – es sind die grossen Themen und Rätsel, die Sie anziehen, und der lockende Punkt scheint der, an dem sich Wissenschaft und Metaphysik berühren. Ich lasse mich gerne korrigieren.
Ich kann dazu wenig sagen, die richtige Auskunftsperson wäre wohl mein Psychiater – den ich nicht habe. Wenn ich eine Obsession hätte, würde ich sie vermutlich nicht kennen, man ist sich ja selbst das grösste Rätsel. Ich sehe wiederkehrende Themen bei mir, und ich sehe sie mit Überraschung, und natürlich verrät so etwas auch dem Autor viel über sich selbst. An-dererseits: Man schreibt ja auch, um nicht allzu viel über sich nachzudenken. Darauf weist Kant schon hin, und er hat ganz recht: Introspektion ist nicht produktiv.

Haben Sie die einschlägigen Schriften der Nahtodforschung studiert? Ihr dritter Roman, «Der fernste Ort», scheint das nahezulegen. Oder ist das aus eigenen Inspirationen entstanden?
Weder noch. Er ist entstanden aus Fantasie und Erfindung.

«Der fernste Ort» hat eine sehr kühne Konstruktion. Ich will hier nur verraten, dass sie nicht nur an Perutz, sondern auch an Ambrose Bierces Erzählung «An Occurence at Owl Creek Bridge» erinnert. Die deutsche Kritik hat das Buch völlig missverstanden und als realistischen Roman gelesen. Das erinnert etwas an die Geschichte von «La Disparition», einem Roman von Georges Perec, in dem aus Prinzip der Buchstabe E nicht auftreten darf, ein sogenanntes Lipogramm. ­Einer der ersten Rezensenten dieses E-losen Romans hatte geschrieben, etwas an diesem Buch komme ihm merkwürdig vor. Den deutschen Kritikern ist nicht einmal etwas merkwürdig vorgekommen. Wie Sie uns in den «Ernsten Scherzen» wissen lassen: Diese Ahnungslosigkeit der Literaturkritik hat Sie zu Ihrem satirischen Roman «Ich und Kaminsiki» angeregt.
Ja. Ich hatte nur gute Kritiken für den «Fernsten Ort», aber die meisten haben die ja nun gar nicht besonders versteckte Grund­idee des Buches in keiner Weise verstanden. Das lag am Klappentext. Gemeinsam mit meinem Lektor hatte ich dem Buch den Klappentext eines realistischen Romans gegeben, weil ich dachte, es müsste den Lesern Freude machen, die widerrea-listische Wendung selbst zu entdecken. Nun, einige professionelle Leser waren völlig überfordert. Das war wirklich schockierend für mich. Aber es weckte mein literarisches Interesse an der Kritikerzunft. Und führte zu «Ich und Kaminski».

Dessen Handlung ist ungefähr die: Ein junger Kritiker will die Biografie eines alten, blinden Malers schreiben und wanzt sich an ihn heran. Erst am Ende stellt sich heraus, dass der parasitische Kritiker von dem noch viel raffinierteren und nicht weniger parasitischen Künstler an der Nase herumgeführt wird. Bei dem ich wiederum das halbe Buch gebraucht habe, um zu kapieren, dass sich sein Name an Kandinsky anlehnt. Dieses Buch, Ihr vorletztes, brachte Ihnen den internationalen Durchbruch. Wie viele Exemplare davon haben Sie verkauft?
Als «Die Vermessung der Welt» erschien, hatte ich davon etwa 50000 Exemplare verkauft. Heute, inklusive aller Taschenbücher und mehrerer Sonderausgaben, liegt die deutsche Auflage bei etwa 160000. Ich bin sehr froh darüber, es ist mein einziges Buch, in dem ich auch eine gesellschaftliche Botschaft sehe: die Gefahren und Auswüchse eines skrupellosen und dummen Kulturjournalismus. Also mein einziges Buch, dem ich auch aus ausserliterarischen Gründen – ich meine, auch solchen, die nichts mit meinem Kontostand zu tun haben – viele Leser wünsche.

Ihr Werk ist stark gnostisch geprägt. Eigentlich müssten Katholiken darauf empfindlich reagieren. «Mahlers Zeit» ist geradezu die romangewordene Verwirklichung gnostischer Vorstellungen. In der gnostischen Welt herrscht kein gütiger Gott, sondern ein finsterer Demiurg. Eine Art Big Brother, der die Menschen überwacht und an der Erkenntnis ihrer wahren Natur hindert. Was die Engel des wahren Gottes sind, sind beim Demiurgen die Wächter: die Jenseitsagenten, die aufpassen, dass nicht einer auf das Geheimnis stösst. Der Held David Mahler, dem sich die Erkenntnis von der Irrealität der Zeit auf mathematisch nachprüfbare Art erschlossen hat, sieht sich von solchen Wächtern verfolgt. Nach einer Lesart des Romans ist er nur paranoid. Gegen diese realistische Lesart aber streuen Sie einige Indizien ein, die sich nicht mit ihr erklären lassen. Mahler sucht verzweifelt den Nobelpreisträger Valentinov, um ihm seine bahnbrechende Entdeckung zu zeigen. Aber immer wieder verhindert der Zufall – der Zufall? –, dass er Valentinov trifft. Schliesslich findet Mahler seine Adresse heraus und fährt zu ihm. Aber wieder ist er gerade abgereist, wie ihm Valentinovs Haushälterin erklärt. Nach Mahlers Tod erwähnt Valentinov en passant, dass er nie eine Haushälterin besessen hat. Wen hat Mahler aber dann getroffen? Und es dämmert einem, dass Valentinov, der das einzige Exemplar von Mahlers Formelwerk vernichtet hat, weil es angeblich nichts tauge, selbst einer der Wächter sein muss.
Aber vergessen Sie nicht: Deswegen ist Valentinov nicht unbedingt böse, und auch die Haushälterin und die Wächter sind es nicht! David Mahlers Entdeckung, wenn sie denn stimmt, würde die Grundfesten der empirischen Welt vernichten; sie würde «Welt» unmöglich machen, denn Welt, das heisst ja eben die Unerschütterlichkeit des Kausalzusammenhangs. Mahler muss sterben, seine Entdeckung darf tatsächlich nicht an den Tag kommen. Das weiss er selbst auch.

Weiss er es wirklich? Das hatte ich überlesen. In der Zeit, als der Roman entstand, haben übrigens kluge Köpfe darüber spekuliert, dass man etwa an schwankenden Naturkonstanten merken könnte, dass der Programmierer unserer Welt ab und zu einen Patch anbringen muss. Was ja im Grunde schon Borges meinte, nur ohne die Programmieranalogie. Was halten Sie von solchen Spekulationen?
Was davon wissenschaftlich zu halten ist, kann ich nicht beurteilen. Ästhetisch ge­sehen ist das natürlich ein sehr nutzbarer Gedanke.

Den Schluss von «Mahlers Zeit» könnte man so lesen, dass die Aufgabe der Welterkenntnis von der Mathematik auf die Literatur übergeht. Mahler stirbt, aber sein alter Schulfreund überlebt. Er ist nach dem grössten aller Autoren benannt, nämlich Marcel, und er ist selber Schriftsteller. Durch einen Traum, den Marcel hat, erfährt der Leser: Nach Mahlers Tod ist jetzt Marcel auf Empfang. Jetzt hat er den Totenkontakt, wie Mahler ihn hatte. Der letzte Satz spricht von dem weiten Weg, den Marcel noch vor sich habe. Vordergründig bezieht sich das auf seine Heimfahrt. Aber der eigentliche Sinn ist offenbar der, dass Mahlers Mission jetzt auf ihn übergegangen ist. Jetzt muss er doch den zweiten Roman schreiben, den er nie schreiben wollte – etwa den vorliegenden. Den Roman, in dem das Geheimnis der Wächter literarisch und nicht durch ein Formelwerk enthüllt wird. Falsch gedeutet?
Es macht sich ja immer gut, wenn man als Autor den Interpreten fassungslos ansieht und sagt: «Wie kommen Sie denn da­rauf?» Die Wahrheit ist aber: Ja, das sehen Sie richtig.