Rainer Maria Rilke et Merline: Correspondance 1920–1926. Max-Niehans- Verlag, 1954. 616 S.

Angenommen, Europas Leserinnen hätten Ende 1922 den «Sexiest Man Alive» wählen können, sie hätten wohl weder den hübschen jungen Weltrekordschwimmer Johnny Weissmüller gekürt noch Hollywoods Latin Lover Rudolph Valentino und auch nicht dessen glamourösen Kollegen Douglas Fairbanks, sondern den oft als hässlich und introvertiert geschilderten Dichter der «Duineser Elegien», Rainer Maria Rilke.

Von der kleinen Telefonistin bis zur mondänen Gräfin lasen ihn Frauen und schrieben ihm Briefe, aus Schweden, Böhmen, Russland, Frankreich, Italien, den Niederlanden oder der Schweiz – und er schrieb zurück, jeder einzelnen. Nahbar und so empathisch, dass das Platonische gelegentlich auch ins Sexuelle hinüberglitt und in eine Nacht oder Partnerschaft auf Zeit mündete.

Am 30. Juli 1919, Rilke kam gerade aus München in die Schweiz, eröffnete ein besonders raffinierter «Anbahnungs»-Brief seine letzte leidenschaftliche Liebesgeschichte. Die Autorin bittet Rilke darin gleich im ersten Satz unverblümt für ihren verzweifelten Mann um sein Münchner Atelier. Erst danach erinnert sie ihn an einen gemeinsam verbrachten Abend und fügt hinzu, dass sie jetzt zwar nicht mehr so kostspielig wohne, dafür aber nett möbliert in Genf und glücklich wäre, klopfte er einmal auf der Durchreise an ihre Tür. Unterschrift: «E. Klossowska».

Glaubt man den Lexika, heiratete Elisabeth Dorothea Spiro, die 1886 geborene Tochter des Breslauer Kantors der Synagoge, siebzehnjährig den Maler und Kunsthistoriker Erich Klossowski in London, zog mit ihm nach Paris, nannte sich fortan Baladine Klossowska und malte und lebte ab 1917 allein mit ihren zwei Söhnen Pierre und Balthasar in Genf. Doch als Rilke ihren Brief las, wird er zuerst an die bezaubernden Bilder gedacht haben, die Baladines Bruder, Eugen Spiro, um die Jahrhundertwende von ihr gemalt hatte und die, als Titelbilder in der Kunst- und Kultzeitschrift Jugend veröffentlicht, sie zum schönsten Gesicht des Jugendstils machten.

Am 4. August antwortet ihr Rilke aus Soglio. Und irgendwann zwischen seiner Lesereise durch die Schweiz und den folgenden Wochen in Locarno und dem Palazzo der Fürstin von Thurn und Taxis in Venedig müssen sie ein Paar geworden sein. Den August 1920 verbringen sie bereits gemeinsam im Wallis. Und danach scheint kurz das Unmögliche möglich: Zum ersten Mal seit seiner missglückten Familiengründung von 1901 lebt Rilke wieder mit Frau und Kindern zusammen.

Wundervolle Elegien

In seinen Briefen betet er sie an. Sie planen ein gemeinsames Kunstprojekt, «Fenêtres» – sie illustriert seine Gedichte. Und für eine Katzenserie, die ihr elfjähriger Sohn Balthasar zeichnet, verfasst Rilke ein französisches Vorwort. Auf ihrer zweiten Wallis-Reise entdecken sie den baufällig-romantischen Turm von Muzot, und Baladine kümmert sich noch um dessen Umbau zu Rilkes «Arbeitszuflucht».

Weil das Leben kein Hollywoodfilm ist, geht ihr Glück bald seiner Wege.

Aber weil das Leben kein Hollywoodfilm ist, geht ihr Glück bald seiner Wege. Denn Rilkes Schweizer Mäzenin, die sein komplettes Leben vom bestickten Taschentuch bis zur Wärmeflasche, Schokolade und zu den Möbeln, den Reisen mit Baladine, ihren Ölfarben und Pailletten finanziert, drängt ihn, die Geliebte auf Abstand zu bringen. Und kaum ist sie weg, erlebt er «das Wunder» und schreibt «wie im Diktat» seine zehn «Duineser Elegien» und 55 «Sonette an Orpheus» nieder. Baladines Exemplar seiner «Elegien» enthält noch eine wundervolle elfte, die er handschriftlich ergänzt und ihr widmet.

1924 vermittelt Rilke noch ihre Söhne zu André Gide nach Paris. 1925 redigiert sie den Erstdruck seiner französischen Gedichte. Am 23. Dezember 1926 beendet er den letzten seiner 202 Briefe an sie mit ihrem Kosenamen: «Ma chère Merline»! Am 29. Dezember 1926 stirbt er. Und als sei sie mit ihm gestorben, wird es danach ganz still um sie. Weder schreibt sie ein Buch über sich und ihn, noch veräussert oder veröffentlicht sie Rilkeana. Und als sei sie der Paria der Familie, taucht sie nicht einmal in den Werken oder Äusserungen ihres berühmten Bruders in New York, ihres Ex-Manns in Südfrankreich oder ihrer Söhne auf, die ab den 1940er Jahren zur Skandalprominenz der Pariser Kunstszene zählen.

1950 erscheinen erstmals vierzig Rilke-«Briefe an Merline» – wer sie in Wirklichkeit war, wird nicht erklärt. Sie stirbt 1969. Erst 33 Jahre nach ihrem Tod erfährt die Öffentlichkeit von diesem bestgehüteten Familienschatz, als ein Freund der gestorbenen Söhne Elisabeth Baladine Klossowskas Nachlass an die Schweizer Fondation Martin Bodmer verkauft.

Ein Mysterium, oder?