Er ist das Ergebnis eines illegalen Experiments, der sechsbeinige blaue Kobold Stitch. Ein ausserirdischer Knirps, Derwisch und Däumling in einem; eine Nervensäge mit Fledermausohren und Karpfenmaul. Das missratene Geschöpf ist das Produkt des verrückten Professors Jumba, der in der fernen Galaxie von «Pokémon» geträumt hat.

Dem extraterrestrischen Frankenstein entgleitet das vermurkste Rumpelstilzchen, das daraufhin wie ein kreischender Mopp durchs All karriolt und auf Hawaii landet. Wo Stitch in die Finger der grabsch- und spielsüchtigen Göre Lilo gerät, die als Einzige den irren Kobold zu nehmen weiss.

«Lilo & Stitch» heisst die jüngste Animationsalberei aus der Disney-Factory; die nicht zu den grossen Würfen (wie «Monsters» oder «Toy Story») gehören mag, aber wieder demonstriert, dass das Trickfilm-Camelot nicht zu schleifen ist. Dabei wird die Festung schwer belagert, von Dream-Works («Shrek») ebenso wie von Warner Bros. («Ice Age»). Das Bedürfnis nach Jux und Tollerei, die Lust auf sinnlos-schönes Entertainment wächst.

Pionier Walt Disney – wenn auch nicht der Gründervater – hat das kommerzielle Dirigat übernommen und eine Corporate Identity geschaffen. Dem Mad Scientist Jumba nicht ganz unähnlich, experimentierte er mit abendländischem Märchengut («Snow White and the Seven Dwarfs») und skurrilen Figuren. Auf dem Asteroiden Kino wurden die «illegalen Experimente» Programm, und im Parkett sassen lauter Lilos: ob Mickymaus, Goofy oder Stitch – die kurligen Unruhestifter wurden zur himmlischen Heerschar einer frommen Gemeinde.

Das Kino mit seinen wundersamen Möglichkeiten machte es möglich. Disney erfand einen simplen DNS-Code, dessen Grundelement die geschwungene Linie ist. Die fügt sich zum Runden und zum Kreis und setzt tief sitzende emotionale Sehnsüchte nach kindlicher Geborgenheit und himmlischer Unschuld frei, «Kindchenschema» genannt. Für Kulturkritiker reiner Kitsch. Doch Disney war so leicht nicht zu packen. Er würzte seinen Sacharin-Kosmos mit Ironie. Seine schrulligen, bizarren, kuriosen Narren, Buffos, Bösewichter und Störenfriede entnahm er jener Fauna, die der Mensch für wenig possierlich hält: Mäuse, Grillen, Schlangen, Krabben, Frösche. Aus denen wurden Angeber, Besserwisser, Stutzer, Nörgler, Rabauken mit so präziser Mimikry, dass das Drolerien-Ensemble zum satirischen Spiegel menschlicher Charaktere geriet.

Selbst die Nazi-Grössen liessen sich von Disney beeindrucken, obwohl sie ihn, selbstverständlich, öffentlich schmähten. In sein Tagebuch schrieb Goebbels: «Wir scheuen uns, unser Kulturgut in ein modernes Gewand einzuhüllen, und es bleibt deshalb historisch und museal.» Eine präzise Diagnose. Denn Disney bediente sich, frei von Traditions-Pathos, unbekümmert bei den Äsopschen Tierfabeln und beim elisabethanischen Theater. Disney ist der Shakespeare des Zeichentrickfilms.

Nicht einmal im eigenen Land, in dem nichts museal ist, vermochte die Konkurrenz Disney vom Thron zu stürzen. Dabei ist sein dramaturgisches Konzept kein Geheimnis, seine Masche durchsichtig. «Spirit» etwa (von Dream-Works), eine Pferde-Saga, die Mitte Juli ins Kino kommen wird, bleibt dagegen verkitschtes Halleluja (wie «Prince of Egypt»). Ohne Ironie ähnelt der Zeichentrickfilm schnell dem Jahrmarkt-Ölgemälde; sich dabei aufs Zielpublikum Kinder zu stützen, ist sträflich. Auch sie wollen ihren Spass mit burlesken, komischen Abenteuern – wie mit «Lilo & Stitch».

Bedürfnis nach Lichtspiel-Kirmes

Beide Knubbelfiguren sind ideale Identifikationsofferten: Aussenseiter, Unverstandene, die sich querulantisch zur Wehr setzen.

Er «illegitim», sie von ihrer älteren Schwester vernachlässigt. Ein bärbeissiger Sozialarbeiter sitzt Lilo im Rücken, auf den sie randalelüstern reagiert, unterstützt von Stitch. Aus der David-und-Goliath-Konstellation bezieht die kunterbunte Burleske ihren grotesken Humor. «Lilo & Stitch» ist eine zeitgemässe Mixtur aus «Max und Moritz», «Peter Pan» und «Pippi Langstrumpf». «Star Wars» wird ebenso verulkt wie «E.T.», die Pokémon-Manie und die Elvis-Presley-Filme aus den sechziger Jahren. Es geht drunter und drüber im ausgerasteten Defilee durchgeknallter Ausserirdischer, quengeliger Hawaiianer, pausbäckiger Ohrfeigengesichter und bizarrer Folklore.

Auf Computeranimation wurde (fast) verzichtet, um mit dem alten Stil jenen Charme zu erhalten, den die Disney-Klassiker besitzen. Disneys komisches Personal ist traditionsgerecht geblieben, das «Kindchenschema» bleibt routiniert der «seelenvolle» Kontrast zur rabulistischen Tollerei.

Infantiler Kram, gut genug für Marzipan liebende Erstklässler und ein Tort für substanzsüchtige Culturati? Nix da. Die visuelle Verschwendungssucht der Realfilm-Fantasy («The Lord of the Rings») neigt mehr zum Kitsch als das gezeichnete Panoptikum. Längst ist die gute alte Tricktechnik zum Transformator geworden, der dank der Computeranimation das Irreale in eine Scheinrealität gewuchtet hat. Das mag beeindrucken, neigt aber zur Andacht; als wollte man mit den gebenedeiten Illusionspielen tiefen Respekt einfordern.
Der Zeichentrickfilm will das nicht. Statt Erhabenheitszauber sucht er in den nimmermüden, bewegten Karikaturen das Absurde im menschlichen Verhalten. Das steigende Interesse an Animationsfilmen und umgekehrt an Comic-Verfilmungen («Spider-Man») entspricht einem Bedürfnis nach lustvoll surrealer Lichtspiel-Kirmes.

Die Wiederkehr des Immergleichen? Vor hundert Jahren hat der Franzose Georges Méliès (1861–1938) exakt so begonnen. Seine «Reise zum Mond» (1902) war pures Trick-Spiel.