Gibt’s ein Leben nach dem Fernsehen?» – «Sagen wir’s so: ‹Es gibt kein Leben während des Fernsehens.› Denn dann muss man das Fernsehen vorbereiten.» – «Wollen noch immer alle über den ‹Literaturclub› reden?» – «In den vergangenen eineinhalb Jahren hat mich fast jeden Tag jemand darauf angesprochen. Es ist ein langes Begräbnis, alle kondolieren mir. Es ist sozusagen ein postumes Leben, ich hab das Gefühl, ich sei ein Gespenst.» – «Ich wollte über neue Bücher reden. Aber du hast gesagt, du seist froh, die meisten Neuerscheinungen nicht mehr lesen zu müssen. Hätt’ ich nicht erwartet, von einem Literaturkritiker . . .» – «Nachdem ich während zweier Jahre jede ­wichtige Neuerscheinung mindestens habe querlesen müssen, ist es für mich angenehm, dass ich jetzt wieder mehr Nietzsche lesen kann oder Rousseau oder Augustinus [von Hippo] . . . die Klassiker. Und ich bin an der Sachbuch-­Bestenliste, Sachbücher sind auf recht hohem Niveau im Moment. Lieber ein Sachbuch als noch einen Liebesroman.»

Stefan Zweifel, 48, ist ein Schweizer Literaturkritiker, Übersetzer und Autor. Von 2007 bis 2014 war der studierte Philosoph Teilnehmer des ‹Literaturclubs›, die letzten eineinhalb ­Jahre moderierte er die Sendung, die im Schweizer Fernsehen läuft. Sein Ausscheiden aus dem Kritikerteam war umstritten (Wikipedia); im Tages-Anzeiger wurde von einem Eklat ge­schrieben, nachdem Zweifel sich nicht vom ­Moderationsleiter wieder zum Diskussionsteilnehmer hatte herabsetzen lassen wollen. Zuvor hatte er sich mit Diskussionsteilnehmerin Elke Heidenreich («rhetorische Dampfwalze, die Wert aufs Rechthaben legt», Tages-Anzeiger) angelegt, recht hatte in diesem Fall Zweifel gehabt, nebenbei. Bekannt wurde er durch die Neuübersetzung von Sades Hauptwerken «Justine» und «Juliette», die er, zusammen mit ­einem Kollegen, im Alter von siebzehn begonnen hatte. Seit 2013 leitet er unter anderem die Gesprächsreihe «Zweifels Zwiegespräche» im Zürcher Schauspielhaus. Er ist Vater eines Kindes und lebt in Zürich.

«Was fasziniert das Publikum an einem Literaturkritiker?» – «Es gibt zwei Sachen: einerseits Kritiker wie Roland Barthes, die selber so gut schreiben, dass man sie gerne liest. Aber im Fernsehen ist es etwas anderes – dort spielt man mit Emotionen, es gibt hervorragende Literaturkritiker, die im Fernsehen nicht gut funktio­nieren, und umgekehrt. Als Literaturkritiker spielt man eine Rolle, meine Art der Lektüre ist eine identifikatorische, ich versuche, mich mit dem Buch zu identifizieren. Und bleib’ dann eher an einem Detail hängen, Roland Barthes hat das ‹punctum› genannt – dort, wo du hängenbleibst und nicht weisst, warum –, grosse Bücher haben viele solche Momente. Als ich über Philip Roths ‹Jedermann› redete, redete ich über Strandszenen und den Ozean, über Wellen, die Angst vor dem Tod, Erotik . . .  Iris [Radisch, damals Moderatorin des ‹Literaturclubs›] fragte: ‹Aber was steht drin in dem Buch?› Für mich steht das drin. Das ist vielleicht eine Art, die man nicht so kannte im Fernsehen, und von daher war’s überraschend.» – «Du schreibst für den Blick oder die Schweizer Illus­trierte, und Fernsehen ist sowieso ein Boulevardmedium – auch überraschend für einen Philosophen . . .» – «Ich schrieb für den Blick zum Beispiel darüber, wie sich der Fall des Menschenfressers [Armin M. aus Hessen] verarbeiten und einordnen lässt – ‹Fresst die Kinder der Reichen› [zusammen mit Michael Pfister]. Das war ein bisschen wie ein Seillauf ohne Ba­lancestange – sonst hat man ja eine intellek­tuelle Stange, kann ein bisschen Hegel bringen und Kant. Aber hier kann man nicht viel voraussetzen, man muss die Stange wegwerfen und ­alleine übers Seil kommen. Das ist interessant.»

«Bist du ein politischer Mensch?» – «Zumindest bin ich als Schüler überwacht worden vom Rektorat, als Trotzkist.» – «Mindestens 2855 Wähler sehen dich auch als Erwachsener als politischen Menschen [sein Name stand vergangenen Herbst auf der Liste «Kunst + Politik», für einen Sitz im Nationalrat reichte es nicht].» – «Jetzt ist ein Moment, in dem es viele kultur­politische Weichenstellungen gibt, bei den Theatern zum Beispiel. Ein Moment, in dem man sich scho ä chli verteidigen muss.» – «Gute Zeiten, um als Intellektueller zu politisieren – nach dem Rechtsrutsch hat man Gegner.» – «Es ist die alte nietzscheanische Geschichte: Zuerst ist man ein Kamel, liest viel, bis man fett ist vom Wissen. Dann muss man ein Löwe werden, der mit seinen Tatzen neue Werte in die alten ­Tafeln kratzt. Aber das Ziel wäre, ein Kind zu werden – das aus sich rollende Rad.»

Sein liebstes Restaurant: «Kronenhalle», Rämistrasse 4, Zürich, Tel. 044 262 99 00