Franca Viola ist heute 73 Jahre alt. Sie lebt mit ihrem Ehemann Giuseppe, ihren Söhnen Sergio und Mauro sowie zwei Enkelkindern noch immer im sizilianischen Alcamo. Sie meidet die Medien, gibt kaum je Interviews. Lieber lässt sie die Geschichte, die sie mitgeschrieben hat, für sich selbst und auch für sie sprechen.

Diese Geschichte von uralter Gewalt und jungem Mut zum Widerstand nahm am Stephanstag 1965 ihren Anfang. An jenem 26. Dezember, gegen neun Uhr morgens, kamen sie, um Franca Viola mitzunehmen: Filippo Melodia, der Neffe eines örtlichen Mafiabosses, und zwölf bewaffnete Kumpane. Das schönste Mädchen der Stadt, Tochter einer Bauernfamilie, war siebzehn Jahre und elf Monate alt. Schon seit langem hatte Melodia ein Auge auf die schöne Franca geworfen. Doch Franca hatte sich in ihren gleichaltrigen Klassenkameraden Giuseppe Ruisi verliebt, dessen Familie in ähnlich bescheidenen Verhältnissen lebte wie ihre eigene. Den mächtigen Mafiaclan liess Franca wissen, dass sie Melodia nicht heiraten werde.

 

Acht Tage festgehalten

Als die Entführer kamen, um Franca mitzunehmen, umklammerte ihr jüngster Bruder Mariano verzweifelt die Beine der Schwester. Daraufhin verschleppten Melodia und seine Leute auch den acht Jahre alten Buben. Mariano kam zwei Tage später wieder nach Hause, körperlich unversehrt. So viel Glück hatte Franca nicht. Sie wurde acht Tage lang im Haus der Schwester und des Schwagers von Melodia festgehalten und dort mehrfach von diesem vergewaltigt.

Mit der Freilassung Francas überbrachte Melodia dem Vater des Mädchens die Botschaft, er sei bereit, Franca zu heiraten. Bernardo Viola lehnte gemeinsam mit seiner ältesten Tochter das Angebot der paciata rundweg ab. Die paciata war nach sizilianischem Brauch die «Friedensübereinkunft» zweier Familien, wenn ein Pärchen «durchgebrannt», vulgo: die Tochter der einen Familie von dem Sohn der anderen geraubt und vergewaltigt worden war.

Doch die paciata war damals in Italien weit mehr als eine überkommene Tradition. Sie war gesetztes Recht. Nach Paragraf 544 des Strafgesetzbuchs wurden durch den matrimonio riparatore, die «reparierende Eheschliessung», gleich zwei Delikte «ausgelöscht», wie es wörtlich in dem Paragrafen hiess: das Verbrechen der Entführung und jenes der «fleischlichen Gewalt». Gewissermassen als Extrabonus für die missbrauchte Frau wurde auch deren Ehre wiederhergestellt, denn sie hatte ja ihre Jungfräulichkeit schon vor der Eheschliessung mit ihrem Vergewaltiger «aufgegeben».

Der von Franca Viola angestrengte Prozess gegen Melodia und dessen Helfershelfer, der im Dezember 1966 in der Provinzhauptstadt Trapani begann, erregte grosses Aufsehen. Die Zeugin und Nebenklägerin Franca Viola, schüchtern und aufrecht, wurde in ganz Italien bekannt. Melodia wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. 1976 kam er vorzeitig frei. Zwei Jahre später wurde er in Modena vom Killer eines verfeindeten Clans erschossen. Melodia hatte schon in der Untersuchungshaft Franca Viola gedroht, er werde sie und ihren Mann umbringen lassen, sollte sie es wagen, einen anderen zu heiraten. Nach allem, was man weiss, lebt Franca Viola mit ihrer Jugendliebe Giuseppe Ruisi bis heute in glücklicher Ehe.

Die leisen Worte der jungen Sizilianerin klangen seinerzeit wie Donnerhall: «Ich bin niemandes Eigentum. Niemand kann mich zwingen, eine Person zu lieben, für die ich keinen Respekt habe. Die Ehre verliert nicht, wer gewisse Dinge erleidet, sondern, wer diese verübt.» Der Regisseur Damiano Damiani drehte 1970, in Anlehnung an die Causa Viola, den Streifen «La moglie più bella» mit der damals fünfzehn Jahre alten Ornella Muti in der Hauptrolle. Doch anders als in dem Spielfilm dargestellt, war Francas wirklicher Vater Bernardo, der kaum lesen und schreiben konnte, keinen Augenblick zur paciata und zum «Kompromiss» mit dem örtlichen Cosa-Nostra-Clan bereit. Bernardo Viola starb, auf Tag und Stunde genau, achtzehn Jahre nach der Entführung seiner Tochter Franca, am Stephanstag 1983.

 

Aus der Epoche des Faschismus

Bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten, etwa bei der Verleihung des Verdienstordens der Italienischen Republik durch Präsident Giorgio Napolitano im Jahr 2014, erwähnte Franca Viola stets ihren Vater Bernardo. Aber es bleibt doch ihr Verdienst, dass der ominöse Paragraf 544 zum patrimonio riparatore nach jahrzehntelanger Debatte am 5. September 1981 schliesslich abgeschafft wurde. Und es ist ebenso das Verdienst der stillen, mutigen Frau aus Alcamo, dass am gleichen Tag vor vierzig Jahren der ebenfalls aus der Epoche des Faschismus stammende Paragraf 587 des Strafgesetzbuchs gestrichen wurde.

In diesem Artikel war vom delitto d’onore, vom «Ehrverbrechen», die Rede. Danach konnte mit beträchtlicher Strafminderung rechnen, wer ein Gewaltverbrechen zur «Wiederherstellung» der persönlichen oder Familienehre beging – etwa seine Frau wegen Ehebruchs umbrachte. Erstaunliche fünfzig Jahre lang, von 1930 bis 1981, waren die erzpatriarchalischen Vorstellungen von der «reparierenden Eheschliessung» und vom «Ehrverbrechen» in der italienischen Strafgesetzgebung verankert. Ohne Franca Viola wären sie das vielleicht noch länger geblieben.