Das schöne Wort brinkman­ship wird im Langenscheidt übersetzt mit «Politik des äussersten Risikos» – so, bis es nicht mehr geht. Das Wort taucht auf im Bericht der Brookings Institution zur Lage der Weltwirtschaft, wo es heisst, brinkman­ship lähme die Politik, unterminiere das Vertrauen und sabotiere «die Wirkungskraft makroökonomischer Werkzeuge».

Mit andern Worten: Die Politik befindet sich in der Sackgasse. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich in Amerika. Grosse Teile ­Europas sind bereits in einer Rezession. Die Aussichten Chinas haben sich verschlechtert. Indiens Reformprozess tritt an Ort. Anderen mittleren und grösseren Wirtschaftsräumen wie Brasilien geht es kaum besser. Protektionismus nimmt zu, der freie Handel ab.

Das alles hindert die Politiker, die sich gerne «world leaders» nennen, nicht daran, sich ­weiter auf der Weltbühne als Stars zu produzieren. In Mexiko übten sich die G-20-Protagonisten in wortreichen Communiqués, doch der eigentliche Zweck des Jamborees waren die gegenseitigen Schuldzuweisungen und Belehrungen, was nun zu tun sei.

Was aber tun, wenn Mut und Ideen fehlen? Aufschieben, ablenken und jemandem andern die Schuld geben. Nachdem Präsident Obama wegen der misslichen Lage seinem Vorgänger nicht mehr alles anlasten kann, hat er einen neuen Sündenbock gefunden: Europa.

Europa hört die Botschaft

Obama ermahnte die Europäer, sie sollten ihre Entscheidungsprozesse beschleunigen und die Wirtschaft stimulieren. Timothy Geithner, der Finanzminister, forderte die Europäer auf, die Schleusen zu öffnen, sich noch mehr zu verschulden und die Staatsausgaben drastisch zu erhöhen. Andere Welt-Grössen aus China und Russland, aus Südkorea, Japan und Brasilien intonierten im Chor das Gleiche.

Viele in Europa hören die Botschaft an sich gerne. Angeblich hat man vom Sparen genug, obwohl noch gar nicht gespart wurde – die Staatsausgaben haben überall zugenommen. Doch weil der Chef-Prediger aus Amerika kommt, ärgern sich viele darüber. Der Refrain lautet, Amerika solle doch vor der eigenen Haustüre kehren.

Die Gründe liegen auf der Hand. Obamas Defizit im Staatshaushalt ist grösser als jenes aller Euro-Staaten zusammen, so gross, dass die wachsende Verschuldung künftiges Wirtschaftswachstum abwürgt. Obama meint ungerührt, Amerika sei von Europa «angesteckt» worden. Was den Ursprung der Finanzkrise betrifft, verhält es sich eher umgekehrt. Die Ausrede überzeugt niemanden, denn der amerikanische Aussenhandel ist generell für die Wirtschaft weniger wichtig, als er für die Länder in Europa ist.

Für die hohe Arbeitslosigkeit und das laue Wachstum in Amerika ist Europa nicht verantwortlich, ausserdem hat der Austausch von Gütern und Dienstleistungen über den Atlantik zu-, nicht abgenommen. Genauso wenig sind Amerikas Probleme die Ursache für Europas Schwierigkeiten. Beide sind durch eigenes Verschulden in die Krise gerutscht. Die Aussichten, sie zu bewältigen, sind für beide auch nicht besser geworden.

Die Wahlen in Griechenland haben zwar die Weichen für eine Regierung gestellt, die mit der EU irgendwie im Geschäft bleiben und ­Erleichterungen aushandeln will. Frankreich hat nun die totale Linksmehrheit, die die Wähler gewünscht haben. Doch Hollandes Plan, Deutschland für seine illusionären Wahl­versprechen zahlen zu lassen, wird nicht verfangen. Der griechische und der französische Erpressungsversuch werden scheitern.

Wählen, wählen, wählen

Es gibt europäisch-amerikanische Ähnlichkeiten. Regierungen fast aller Couleur haben in den letzten Jahren ihre Politik auf wachsende staatliche Ausgaben, staatliche Verschuldung und staatlich garantierte Kredite abgestützt. Oder wie sich der estnische Präsident ausdrückt: Statt Realwerte zu schaffen, haben sie Schulden gemacht, die Bücher frisiert, Euro­stat angelogen, vom Sparkapital anderer ­gelebt. Das betrifft hauptsächlich das alte ­Europa, nicht das neue. Deutschlands sehr relativer Erfolg ist die Ausnahme.

Amerika hat politische Vorteile. Es kann mit einem Schlag eine Richtungsänderung erzwingen und Neues versuchen. Die Minderheit wird sich der Mehrheit fügen – wenigstens eine Zeitlang. Europa dagegen wählt und wählt und wählt, Amtsträger werden in die Wüste geschickt, und doch ändert sich wenig.

Die Politiker des alten Europa sind es gewohnt, öffentliche Wohltaten zu verteilen, nicht, sie abzuschaffen. Sie werden kaum ihre Staatsbudgets plötzlich um einen Drittel kürzen. Wachstum werden sie so nicht zustande bringen. Die Jahrzehnte staatlicher Ausgaben- und Verschuldungspolitik haben eine Anspruchsmentalität herangezüchtet und so ­viele Interessengruppen im Kampf um die öffentlichen Gelder in die Arena gezogen, dass jede Erneuerung blockiert werden kann. Die Staaten bewegen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf den Bankrott zu. Brinkmanship heisst auch: tänzeln am Abgrund.