Eigentlich hätte David Graham seinen Job gern weiter gemacht: im Stillen forschen und die Ergebnisse veröffentlichen, wie jeder andere Wissenschaftler auch. Doch dann kam diese Sache mit Vioxx, und seine Vorgesetzten von der Food and Drug Administration (FDA), der amerikanischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel, drohten ihm mit Kündigung, wenn er seine kritische Studie über das Medikament publiziere.

Das war letzten Herbst. Jetzt klingt Graham müde, allein gelassen, wie ein einsamer Kämpfer. Ihm ging es doch nur um die wissenschaftliche Wahrheit. Er wählt heute drastische Worte, wenn er über seinen Arbeitgeber spricht: «Die FDA ist eine gesetzlose Organisation», sagt er zum Beispiel. Graham arbeitet seit 20 Jahren für die FDA, im Büro für Arzneimittelsicherheit.

Graham veröffentlicht seine Studie trotzdem, sie birgt Brisantes: 28000 Amerikaner haben einen Herzinfarkt erlitten, weil sie Vioxx schluckten. Das Schmerzmittel erhöht das Risiko, herzkrank zu werden. Rund einen Monat bevor Merck, der Hersteller des Medikaments, dieses wegen seiner Nebenwirkungen am 30. September 2004 vom Markt nahm, legt Graham das Ergebnis vor, das seine Chefs zunächst offenbar lieber verschweigen wollen. Ende August stellt er einen Teil der Studie auf einem Kongress in Bordeaux vor.

Anderthalb Monate nach dem Rückzug passiert Ähnliches wieder. Nach abermaliger Analyse aller Daten kommt Graham zu dem Schluss: Vioxx ist noch viel schlimmer, als ich dachte. Es gab sogar bis zu 139 000 Herzinfarkte, davon verliefen bis zu 55 600 tödlich. Und das nur in den USA, wo 20 Millionen Menschen Vioxx einnahmen. Weltweit waren es über 80 Millionen – zumindest hat Merck die Zahl der Vioxx-Patienten einmal so angegeben, inzwischen wurde sie zurückgezogen. Hochgerechnet würde das bedeuten: bis zu 556000 Herzinfarkte und 222400 Tote. Und wieder drohen Grahams Vorgesetzte. «Sie haben versucht, mich einzuschüchtern, und meine Glaubwürdigkeit öffentlich angezweifelt», sagt er. Dabei schwingt die Vermutung mit, der FDA sei die Industrie näher als die Patienten – eine Frage, die sich mittlerweile viele stellen.

Es ist eine Geschichte von Irrtümern, Ignoranz und Verdrängung. Auch beim amerikanischen Pharmakonzern Merck hat man Hinweise auf die tödlichen Nebenwirkungen von Vioxx lange Zeit mindestens nicht ernst genommen. Bis sie sich im Herbst 2004 nicht mehr verleugnen lassen.

Am 24. September wendet sich Peter Kim, der Forschungschef von Merck, an den Konzernchef Raymond Gilmartin. Seine Forscher haben in einer auf drei Jahre angelegten Studie getestet, ob Vioxx auch Darmpolypen, ein Risikofaktor für Darmkrebs, vorbeugt, und eher zufällig festgestellt: Wer Vioxx regelmässig über 18 Monate schluckt, setzt sich einem erhöhten Risiko aus, einen Herzinfarkt zu erleiden. Die Studie wird sofort gestoppt, eine knappe Woche später zieht Merck das Schmerzmittel weltweit zurück.

Es ist ein harter Schlag für den Konzern. Im Jahr zuvor hat Merck Vioxx-Tabletten für 2,5 Milliarden Dollar verkauft. Das machte über ein Zehntel des Umsatzes aus. Der Aktienkurs bricht sofort um ein Viertel ein. Inzwischen ist er um über ein Drittel gesunken, das Unternehmen ist an der Börse 30 Milliarden Dollar weniger wert. Klagen stehen ins Haus; es kursieren bisher nur Spekulationen, wie teuer es für Merck wird. 50 Milliarden lautet die extremste Schätzung.

Ein Blockbuster muss her

Dabei hatte alles voller Hoffnung begonnen. Anfang der neunziger Jahre entschlüsseln Wissenschaftler der Washington University in St. Louis, wie Aspirin wirkt. Es senkt Fieber, lindert Schmerzen und hält das Blut flüssig. Nur leider schlägt es auch auf den Magen, führt dort zu Blutungen und Geschwüren. Das liegt daran, dass es das Enzym Cyclooxygenase vollständig hemmt, das aus einem «guten» und einem «schlechten» Teil besteht: Cox-1 schützt die Schleimhäute, besonders im Magen, und ist damit erwünscht; das «schlechte» Cox-2 verursacht bei Entzündungen Schmerzen, Schwellungen und Fieber. Wenn es gelänge, nicht mehr das ganze Enzym, sondern gezielt Cox-2 zu blockieren, hätte man eine Art Super-Aspirin: schmerzstillend, aber nicht magenschädigend. Die Wissenschaftler beginnen, passende Moleküle zu bauen und entwickeln die Medikamente Celebrex (gehört heute Pfizer) und Vioxx, beides sogenannte Cox-2-Hemmer.

Von Anfang an schwingt jedoch die Sorge mit, dass bei mit den neuen Mitteln behandelten Patienten mehr Herzprobleme auftreten könnten. Denn Aspirin und weitere bis dahin bekannte Schmerz- und Rheumamittel wie Ibuprofen oder Naproxen verdünnen das Blut – damit schützen sie auch vor Herzinfarkten, eine durchaus erwünschte Nebenwirkung. Dieser Schutz fällt bei den neuen Mitteln weg. Den Merck-Verantwortlichen ist klar, dass es schwierig würde, Vioxx zu vermarkten, wenn Ärzten und Patienten dieser zusätzliche Schutz nicht versprochen wird – selbst wenn es magenverträglicher ist. Aber der Konzern braucht dieses Mittel. In den Jahren 2000 und 2001 laufen die Patente für einige sehr profitable Medikamente ab, damit fällt Umsatz weg. Ein neuer Blockbuster, ein Mittel, das Milliardenumsätze garantiert, muss her. Vioxx bringt alle Voraussetzungen dafür mit. Entzündungshemmer gehören zu den am meisten verschriebenen Medikamenten, 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung nehmen sie ein.

1997, zwei Jahre, bevor Vioxx schliesslich auf den Markt kommt, schreibt Alise Reicin, heute Vizepräsidentin der klinischen Forschung bei Merck, in einem kürzlich vom Wall Street Journal veröffentlichten Mail: «Wir sind in einer ‹no-win situation›.» Sie schlägt vor, Leute mit hohem Risiko für Herzkrankheiten gar nicht in Studien mit einzubeziehen, so dass die Unterschiede zwischen Vioxx und anderen Mitteln «nicht evident werden».

«Weichen Sie Fragen aus»

Als die FDA Vioxx im Mai 1999 als zweiten Cox-2-Hemmer nach Celebrex zulässt, sind die Erwartungen riesig. «In drei bis vier Jahren spielen klassische Schmerzmittel keine Rolle mehr», schwärmen einige Wissenschaftler. Die Verkaufszahlen schüren diese Hoffnung bald. Bereits im dritten Quartal verkauft Merck für 111 Millionen Dollar Vioxx. Das Medikament wird stark beworben: Allein in den USA gibt der Pharmakonzern im Jahr 2000 über 200 Millionen Dollar für Publikumswerbung aus.

1999 startet Merck eine Studie mit über 8000 Teilnehmern, in der Vioxx mit Naproxen – das wie Aspirin zu den «alten» Schmerzmitteln zählt – verglichen wird. Die Vigor-Studie (Vioxx Gastrointestinal Outcomes Research) soll zeigen, dass Vioxx gut verträglich für den Magen ist. Untersucht werden Menschen, die an Arthritis leiden und ständig auf Schmerzmittel angewiesen sind. Patienten mit hohem Herzinfarktrisiko sind von der Untersuchung ausgeschlossen.

Im März 2000 liegen erste Ergebnisse vor: Vioxx schützt den Magen tatsächlich besser als Naproxen. Allerdings finden sich bei den Vioxx-Patienten mehr Blutgerinnsel, es zeigt sich ein viermal höheres Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, als bei Naproxen-Patienten. Die Pressemitteilungen aus der Zeit enthalten keinen Hinweis darauf, im April bestätigt Merck sogar das «kardiovaskuläre Sicherheitsprofil von Vioxx». «Wir gehen nicht davon aus, dass Vioxx einen nachteiligen Effekt hat, sondern dass im Gegenteil Naproxen das Herz schützt», sagt die Studienleiterin Claire Bombardier von der University of Toronto.

Am 9. März 2000 schreibt der damalige Forschungschef Edward Scolnick an seine Kollegen: Die kardiovaskulären Vorfälle sind im Vergleich mit anderen Medikamenten «klar vorhanden». Doch man schiebt alles auf die herzschützende Wirkung von Naproxen, da es ähnlich wie Aspirin das Blut verdünne. Der Verdacht auf Risiken wird dementiert.

In einem internen Trainingsdokument, das ebenfalls das Wall Street Journal veröffentlicht hat, werden die Marketingmanager angewiesen, wie sie auf kritische Fragen von Ärzten reagieren sollen: «Dodge!», heisst es immer wieder. «Weichen Sie diesen Fragen aus.» Und wenn das nicht gehe, solle man antworten, Vioxx zeige «keine Verminderung von Herzattacken» und sei «kein Ersatz für Aspirin».

Ein erster Verdacht auf Herzrisiken ist da. Das ist auch der FDA klar. Sie verlangt von Merck, in der Packungsbeilage eine prominent platzierte Warnung aufzunehmen. Bei Merck möchte man lieber betonen, wie gut Vioxx für den Magen ist. Man einigt sich: Zuoberst soll der Hinweis auf die Magenverträglichkeit erscheinen, weiter unten die Warnung vor dem erhöhten Herzrisiko – allerdings nur gegenüber dem Konkurrenzmittel Naproxen, wie es die Vigor-Studie ergeben hat. Doch zunächst tut sich gar nichts. Erst im April 2002 wird die Beilage umgeschrieben. Und auch dann bleibt der Hinweis ohne Wirkung: Gleich viele Patienten wie zuvor schlucken Vioxx, gleich viele Ärzte verschreiben es.

Der FDA-Wissenschaftler David Graham ist irritiert von den Vigor-Ergebnissen. Gemeinsam mit der amerikanischen Krankenversicherung Kaiser Permanente startet er eine grossangelegte epidemiologische Studie mit 1,4 Millionen Patienten, die zwischen 1999 und 2001 ein Schmerzmittel einnahmen – 27000 von ihnen hatten Vioxx geschluckt. Er will der Frage nachgehen, ob Vioxx im Vergleich zu Naproxen wirklich nur deshalb schlechter abschneidet, weil Naproxen das Herz schützt.

Der Warnbrief

Im August 2001 erscheint im Journal of the American Medical Association eine Studie der Wissenschaftler Eric J. Topol und Steven E. Nissen von der Cleveland Clinic in Ohio. Sie schreiben: «Die aktuellen Daten lassen vermuten, dass die Einnahme von Cox-2-Hemmern zu mehr kardiovaskulären Problemen führt.» Nissen und Topol haben vorhandene Daten von Vigor und anderen Studien neu analysiert. Sie versuchen, die Merck-Verantwortlichen davon zu überzeugen, neue Untersuchungen in Angriff zu nehmen. Ohne Erfolg. Bei Merck heisst es: «Das ist nicht nötig, denn wir haben kein erhöhtes Herzinfarktrisiko festgestellt, ausserdem wird die weitere Forschung an Vioxx offene Fragen beantworten.» Topol sagt heute: «Wir haben uns gefragt, was da vorgeht. Sind die Unternehmen ehrlich? Ich würde nicht sagen, sie haben Fakten verheimlicht, aber die Warnsignale wurden nicht genügend ernst genommen.»

Am 17. September 2001 schickt die FDA einen «Warnbrief» an Merck-Chef Raymond Gilmartin. Die Zulassungsbehörde fordert ihn auf, «falsche und irreführende Eindrücke und Informationen zu korrigieren», die durch die Werbekampagnen entstanden seien. Das Marketing habe das mögliche Herzrisiko heruntergespielt. Solche Warnschreiben versendet die FDA immer dann, wenn sie Anlass zur Sorge um die öffentliche Gesundheit sieht. In dem Jahr hat die FDA knapp ein Dutzend solcher Briefe versandt.

In den kommenden zwei Jahren tut sich nicht viel. Universitätsforschern fehlt das Geld, eigene klinische Studien zu starten. Erst im August 2004, als Grahams grosse Studie vorliegt, kommt der Stein ins Rollen.

Graham möchte auf dem Kongress in Bordeaux davon abraten, hohe Dosen von Vioxx zu schlucken. Bislang hat man, wenn überhaupt, nur die Einnahme niedriger Dosen über lange Zeit mit einem erhöhten Herzrisiko in Verbindung gebracht. Graham sagt nun: «Bereits die kurzzeitige Einnahme, zum Beispiel gegen akute Zahnschmerzen, kann schaden; das Herzrisiko verdreifacht sich.»

Grahams Vorgesetzte bei der FDA sind mit seinen Schlussfolgerungen nicht einverstanden. Sie fordern ihn auf, seine Aussagen abzuschwächen. Merck müsse vorgewarnt werden, bevor er solche Ergebnisse veröffentliche, damit der Konzern «sich vorbereiten kann auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die das vermutlich provoziert», wird Anne E. Trontell, wie Graham Mitarbeiterin im Büro für Arzneimittelsicherheit, zitiert. Graham schätzt in seiner Studie auch ab, wie viele Amerikaner einen Herzinfarkt erlitten haben, weil sie Vioxx schluckten: knapp 28000. Die Zahl nennt er in Bordeaux nicht, er wiegelt ab. Heute sagt er: «Ich durfte nur nach Frankreich reisen, nachdem ich meine Schlussfolgerungen abgeschwächt hatte.» Das Medienecho ist trotzdem gross. Am 30. September sendet Graham seinem Vorgesetzten Paul Seligman den Report, damit der ihn zur Veröffentlichung im britischen Fachmagazin Lancet freigibt.

Ein Fall für den US-Kongress

Am gleichen Tag nimmt Merck Vioxx weltweit vom Markt – allerdings nicht Grahams Studie wegen. «Der Rückzug hatte nichts damit zu tun», heisst es heute bei Merck. Grund dafür sei vielmehr die eigene Studie mit 2600 Teilnehmern, bei der laut Pressemitteilung «ein erhöhtes relatives Risiko von kardiovaskulären Vorfällen» bei Patienten auftrat, die Vioxx 18 Monate niedrigdosiert geschluckt hatten.

Der amerikanische Kongress beginnt, den Fall zu untersuchen: Hätte das Medikament früher zurückgezogen werden müssen? Man ist auch an der Rolle der Zulassungsbehörde interessiert. Senator Charles Grassley kontaktiert Graham und will wissen, was die FDA über Vioxx wusste. Graham erzählt ihm, dass er sich unterdrückt fühle. «Er hat eine Umgebung beschrieben, in der er geächtet und verdeckt bedroht wurde», sagt Grassley.

Kurz nach dem Gespräch mit Grassley wendet sich Graham ans Government Accountability Project (GAP), eine Nonprofit-Organisation zum Schutz von sogenannten «Whistleblowers» – Leuten, die Ungereimtheiten in ihrem Unternehmen öffentlich machen. Graham hat Angst, seinen Job zu verlieren. Inzwischen liegt seine Studie seit Wochen bei seinen Vorgesetzten, diese geben sie nicht zur Veröffentlichung frei, sondern drohen ihm mit Konsequenzen, wenn er sie über ihre Köpfe hinweg weiterreiche. Am 2. November stellt die FDA Grahams Artikel auf ihre Website – um für den Lancet einen Abdruck unattraktiv zu machen, vermutet Graham. In dem Artikel ist erstmals die Zahl von 28000 Herzinfarkten zu lesen.

Für den 18. November ist eine Anhörung im US-Senat angesetzt. Auch Graham ist dort eingeladen, seine Ergebnisse zu Vioxx zu präsentieren. Noch vor der Anhörung melden sich FDA-Manager sowohl bei Senator Grassley als auch – anonym – bei Tom Devine, Grahams Anwalt beim GAP, und stellen Grahams Glaubwürdigkeit in Frage. Sie geben sich zwar nicht zu erkennen, doch Devine ist «zu hundert Prozent überzeugt», dass es sich um FDA-Angestellte handelt; die Telefonnummern sowie einige Aussagen deuten darauf hin.

Graham hat seine Studie unerdessen an den Lancet geschickt, am 16. November, zwei Tage vor der Senatsanhörung, soll sie online publiziert werden. Die FDA will das verhindern. «Man hat mir gesagt, wenn ich das veröffentliche, werde ich gefeuert», sagt Graham. Also zieht er den Artikel zurück.

In der Zwischenzeit ist auch gegen den Pharmakonzern Merck weitere Kritik laut geworden. Am 5. November druckt der Lancet eine Studie der Schweizer Forscher Peter Jüni und Matthias Egger vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern ab. Die beiden Wissenschaftler haben alle vorhandenen Daten zu Vioxx erneut in Augenschein genommen und sind der Meinung: Die Herzrisiken hätte man bereits Ende 2000 bemerken und damals das Medikament vom Markt nehmen müssen. Ausserdem haben in der Vergangenheit unabhängige Gutachter die Studienergebnisse stets strenger beurteilt als beteiligte Forscher. Die Merck-Verantwortlichen wehren sich, schreiben: Sie waren «wachsam bei der Überwachung und Offenlegung der kardiovaskulären Sicherheit von Vioxx».

Etwa zur gleichen Zeit gelangen via Wall Street Journal die Merck-internen E-Mails sowie Marketingdokumente an die Öffentlichkeit. Sie seien aus dem Zusammenhang gerissen, heisst es dazu bei Merck. Am 8. November gibt Merck bekannt, eine Vorladung des Justizministeriums erhalten zu haben. Diese hat eine Strafuntersuchung betreffend die «Forschungs-, Marketing- und Verkaufsaktivitäten» eingeleitet. Ausserdem steht eine informelle Untersuchung der amerikanischen Börsenaufsicht SEC bevor. Die Merck-Verantwortlichen betonen weiterhin, sich immer korrekt verhalten zu haben. Bei der Senatsanhörung am 18. November verteidigt Konzernchef Gilmartin das Vorgehen. «Wir haben in jedem Moment verantwortungsvoll gehandelt», sagt er. «Bei uns stehen die Patienten an erster Stelle.» Sogar seine Ehefrau habe Vioxx bis zu dem Tag des Rückzugs geschluckt.

FDA-Mann Graham wählt im Senat deutliche Worte: Er wirft seiner Behörde Versagen vor und hält sie für «praktisch unfähig», vergleichbare Sicherheitsrisiken künftig rechtzeitig zu bemerken. Es seien fünf weitere Medikamente auf dem Markt, die hohe Risiken bergen. Zum ersten Mal nennt Graham die Zahl von bis zu 139000 Herzinfarkten durch die Einnahme von Vioxx.

Die FDA distanziert sich offiziell von Grahams Ausführungen, bleibt bei der Schätzung von 28000 Herzinfarkten und droht Graham mit rechtlichen Schritten, sollte er öffentlich weiterhin im Namen der Behörde sprechen. Nach der Anhörung tauchen Gerüchte auf, Graham solle unschädlich gemacht werden, indem man ihn auf einen Posten im Management versetzt. Senator Grassley interveniert und schickt eine formale Anfrage an die FDA: «Bitte nehmen Sie zu den Anschuldigungen Stellung, dass Graham gekündigt oder auf einen Posten versetzt werden soll, der nichts mit wissenschaftlicher Forschung zu tun hat.» Die FDA antwortet, sie kommentiere keine Personaldiskussionen. Graham bangt weiterhin um seinen Job: «Die Drohungen sind etwas schwächer geworden, aber es kann sein, dass sie etwas aushecken», sagt er. Noch immer wartet er darauf, dass seine Studie im Lancet erscheint. Inzwischen ist sie zur Veröffentlichung freigegeben. Bei Merck will man sich nicht zu einem Artikel äussern, der noch gar nicht publiziert sei.

Der FDA wird seit dem Vioxx-Fall von Medien und amerikanischen Politikern vermehrt vorgeworfen, ein Handlanger der Pharmaindus-trie zu sein. Denn die Firmen zahlen eine Gebühr für die Zulassung ihrer Mittel, sie sind damit praktisch Kunden der FDA. Das Büro für die Bewilligung und jenes für die spätere Überwachung sind unter einem Dach vereint, eine wirkliche Gewaltentrennung besteht nicht. «Bei der Zulassung steht die Wirksamkeit an erster Stelle», sagt Graham. «Sicherheit zählt für die FDA nicht viel.» Jetzt beeilt sich die Behörde, ihre Unabhängigkeit zu betonen. Obwohl FDA-Chef Lester Crawford eine zu enge Zusammenarbeit mit der Industrie verneint, ist er bereit zur Diskussion über Reformen. «Aber das ist Augenwischerei, es wird sich nichts Substanzielles ändern, es sei denn, der Kongress interveniert», sagt Graham.

470 Klagen – vorerst

Mitte Dezember kündigt Merck den Abbau von weiteren 700 Arbeitsplätzen an, 4400 sollten ohnehin gestrichen werden, jetzt sind es 5100. Insgesamt beschäftigt Merck 63000 Angestellte. Mit Vioxx habe der Stellenabbau allerdings nichts zu tun, heisst es bei Merck. Verkauf und Produktion habe man bereits angepasst, nun soll der Entwicklungs- und Zulassungsprozess für andere Medikamente beschleunigt werden. Die braucht Merck dringender denn je: Im Jahr 2006 endet das Patent für den Cholesterinsenker Zocor, mit fünf Milliarden Dollar Umsatz der Verkaufsschlager des Unternehmens.

Einst galt Merck als bestes Unternehmen der gesamten Pharmaindustrie, dessen Forscher als «Hohepriester der Wissenschaft». Jetzt geht es darum, den ruinierten Ruf irgendwie zu retten. Und es ist völlig unklar, wie teuer die Klagen für Merck werden: Inzwischen sind 470 Prozesse von über 1100 Klägern angeregt. Sollte bewiesen werden, dass Merck Patienten wissentlich Risiken ausgesetzt hat, sind zusätzliche Strafklagen zu erwarten. Einige Beobachter gehen davon aus, dass Merck nachweisen kann, keine Daten zurückgehalten zu haben. Andere sind überzeugt, Merck drohe Pleite zu gehen. Die ersten Prozesse werden in den kommenden Monaten in Alabama und Texas erwartet.

Inzwischen wird an der gesamten Gruppe der Cox-2-Hemmer gezweifelt. Auch bei Celebrex, Pfizers Konkurrenzprodukt von Vioxx, hat sich ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte gezeigt; das Medikament ist allerdings noch auf dem Markt. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis stand kurz davor, das Schmerzmittel Prexige einzuführen. Anfang Dezember zog das Unternehmen den EU-Zulassungsantrag fürs Erste zurück. Man will lieber abwarten, was eine Überprüfung aller Cox-2-Hemmer durch die europäische Behörde European Medicines Agency ergibt. Auch die FDA nimmt inzwischen die gesamte Medikamentenklasse in Augenschein. Deren Chef Crawford beschreibt den 17. Dezember, an dem die Untersuchung angekündigt wurde, als «einen der grössten Tage in der Geschichte der FDA».