Maria Stuart war Friedrich Schillers sinnlichste Königin, doch jetzt ist Barbara Frey an der Macht . . . und Maria steht da wie eine Strumpfverkäuferin. Sex-Appeal sieht anders aus. Dafür ist die Sicht frei auf die Abgründe dahinter. Und das ist das Beste, was Schiller passieren kann – und Zürich. Der Dichter zwar ist schon tot, doch für die Stadt besteht durchaus noch Hoffnung. Hoffnung, dass sie das Theater wiederentdeckt, ein Theater, das von seiner Genauigkeit lebt und von der Geschichte hinter dem Drama.

Freys Talent ist gross, und ihr grösstes steckt in «Maria Stuart»: Sie leuchtet ihre (vermeintlich) toten Seelenwinkel aus. Deshalb kann sie auf das Brimborium verzichten, das Schlangenbeschwörer Schiller für sein Publikum angekarrt hat vor der Erfindung von RTL: Erotik, Politik und Religion. Natürlich erreichen diese Zündköpfe des Populären auch den modernen Menschen noch immer ähnlich brünstig wie bei Schiller.

Doch Frey hält ihre Pappenheimer anders bei Laune. Sie setzt nicht auf den Effekt, sondern auf die Einsicht. Und dazu nimmt sie sich die künstlerische Freiheit, die sich auch ein Schiller nahm: Sie ergreift Partei. Ihre Lesart von «Maria Stuart» muss ohne Maria Stuart auskommen oder fast ganz ohne sie. Ihr Primat ist nicht die Texttreue, sondern das Heute und Hier. Und das heisst: die Krise.

Hier wird Theater persönlich genommen, ähnlich wie bei Schiller, wenn ihn die historische Wahrheit kaltliess: «Die Geschichte ist nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden.» Wer Schiller sagt und historische Wahrheit denkt, der hat bereits verloren. Wer Schiller sieht und im Reclam-Heft die Zeilen zählt, der hat das Eigentliche nicht begriffen. Schillers Dramen sind immer Kabalen eines Liebenden, sind Behauptungen eines Taktikers, eines Zauberers, der um sein Publikum buhlt.

 

Wirkung, nicht Wahrheit

Am Rande, sicher, da sind die historischen Wahrheiten auch in «Maria Stuart» durchaus zu haben: der Krieg der Religionen als Erstes. Die Königin von Schottland, Maria Stuart, wird von Elisabeth, der Königin von England, mit Verdacht auf Hochverrat im Kerker festgehalten.

Denn der Protestantin Elisabeth steht mit Maria eine leidenschaftliche Katholikin gegenüber und mit ihr ein mächtiger Kirchenapparat, der das gesamte politische Gleichgewicht Europas umzustürzen droht. Kommt belastend dazu: Maria hat berechtigten Anspruch auf den englischen Thron. Elisabeth hingegen, die uneheliche Tochter von Heinrich VIII., ist ein Bastard. Doch haben sich, wie Schiller behauptet, die Kontrahentinnen je persönlich getroffen? Niemand weiss es. Aber Schiller weiss, wie man sein Publikum gewinnt, und deshalb lässt er die beiden Rivalinnen aufeinandertreffen. Er glaubt an Wirkung, nicht an Wahrheit, die alte Dirne, die stets mit der Macht im selben Linnen liegt.

Ähnlich wie Schiller verhält sich die Schiller-Regisseurin, den Puristen ein Graus. Schiller schrieb für sein Publikum und für seine Zeit, Frey inszeniert für ihr Publikum und für ihre Zeit. Aus diesem Grund und mit diesem Recht darf sie kürzen, streichen und aus einem Ideendrama das Drama eines persönlichen Falles machen, des Falles der Königin Elisabeth. «Maria Stuart» nach Frey ist ein Stück Enthüllungspsychologie, wie es nach der Erfindung dieses Begriffes nicht scharfsinniger geschrieben worden ist.

Wozu Theater?

Frey glaubt nicht an die Poesie der Überzeugungen, sondern an die raue Prosa der Verhältnisse. Und wie nicht? Wie heute noch glaubhaft Ideen vertreten, Theorien, Konzepte, Religionen, Überzeugungen, Ideologien? Solche Währungen sind längst so wetterwendisch wie die Natur von Blue Chips. Nur eines ist beständig in unbeständigen Zeiten: die Schwäche der menschlichen Natur. Und deshalb ist sie allein Barbara Freys Protagonistin.

Infolgedessen nimmt die Inszenierung die allgemeine (Regierungs-)Krise zum Ausgangspunkt eines persönlichen Problems. Das Problem heisst Maria Stuart, denn jeder am Hofe Elisabeths definiert sich und positioniert sich über sie; sie ist der Spiegel, in dem sich die anderen erkennen und in dem die Königin und ihre Lords werden, was sie längst sind: eitle, machtbesessene Schranzen. Frey lässt den (historisch verbürgt loyalen) Baron von Burleigh sich in Luft auflösen in der Stunde von Elisabeths grösster Not. Amias Paulet, Marias Hüter, karikiert sie als Witz- und Winzling, wie man ihn jämmerlicher nicht denken kann. Und Mortimer ist eine Opernfigur, die nichts zustande bringt, nicht einmal der eigene Tod will gelingen.

Das ist Theater von heute und für heute. Zumal in einer Stadt, die auf die Frage «Wozu Theater?» seit langem keine Antwort mehr weiss. Barbara Freys «Maria Stuart» liefert die Replik zum Preis einer Theaterkarte mit dazu. Zürich hat wieder eine Bühne, auf der über Stoffe, Haltungen und über den Menschen nachgedacht wird. Den Menschen in seiner Zeit, verheddert in seine Ideen, aufgeknüpft am Galgen der eigenen Moral.