Die 2011 hastig auf den Weg gebrachte Energiestrategie der Schweiz kommt unter Druck: Zum einen läuft eine Unterschriftensammlung für das Referendum gegen das kürzlich verabschiedete CO2-Gesetz, das den zweiten Teil der sogenannten Energiestrategie 2050 darstellt. Zum andern wird auch der erste, 2017 vom Volk angenommene Gesetzesteil vermehrt unter Beschuss geraten, wenn die Debatte über die Kernkraft intensiver wird. Mit dem Regierungswechsel in den USA wird das Thema Kernenergie wieder aktueller. Joe Biden will zurück zum Pariser Klimaabkommen, und zu den wirksamsten Massnahmen zur CO2-Reduktion in grossem Stil zählt der Ausbau der Atomkraft mit modernster Technologie.

In der Schweiz scheint dieser Weg zurzeit verbaut. Die Energiestrategie 2050 befiehlt den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie bei Ende der Kraftwerkslaufzeiten. Warum hat man seinerzeit den künftigen Entscheidungsspielraum in Eigenregie derart eingeschränkt? Nach dem Unfall im März 2011 in Fukushima brach der Bundesrat mit Energieministerin Doris Leuthard Genehmigungsverfahren für neue Kernkraftwerke schlagartig ab und beschloss den Ausstieg. Starke Emotionen waren im Spiel, man machte es ähnlich wie die deutsche Regierung.

 

Information und Aufklärung

Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie die Schweizer Fachleute daran beteiligt waren. Immerhin gibt es mit dem Paul-Scherrer-Institut (PSI) eine grosse Forschungseinrichtung, die 1988 aus der Zusammenlegung des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung und des Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung entstanden ist und somit eine gewichtige Autorität in Kern- und Reaktorphysik darstellen sollte. Das PSI in Villigen/Würenlingen ist wie die Eawag und die Empa in Dübendorf ein prominentes Mitglied der ETH-Gruppe.

Wie hat das PSI damals beim Ausstiegsentscheid mitgewirkt? Wie weit wurden Vergleiche zwischen der Schweiz und Japan oder die Konsequenzen eines Ausstiegs zur Sprache gebracht, auch für die öffentliche Meinungsbildung? Dem Vernehmen nach nicht intensiv. «Niemand wollte sich vorwagen, alle haben sich zurückgehalten», ist in der Energiebranche von mehreren Seiten zu hören. Information und Aufklärung des Instituts seien nicht so gewesen, wie man es bei einem derart weitreichenden Entscheid erwarten würde. Etliche sehen es als Folge staatlicher Finanzierung, dass eine Bundeseinrichtung dem Bundesrat nicht widerspricht.

Das PSI stand damals unter der Leitung des 2007 angetretenen Direktors Joël Mesot, der 2019 Präsident der ETH Zürich wurde, und hat sich langfristig fachlich stark verbreitert. Die Forschung in Kern- und Reaktorphysik verlor an Gewicht, und nach dem Ausstiegsbeschluss des Bundes gilt der Blick weniger der Zukunft der Kraftwerkstechnologie, sondern mehr der Sicherheit im Betrieb oder der Lagerung von radioaktivem Abfall. Zudem will der Bund die Akzente auf erneuerbare Energien und die effizientere Energienutzung legen.

Es kann aber sein, dass der auf Jahrzehnte fixierte energiepolitische Kurs des Kernkraftverbots irgendwann doch revidiert wird, da in der direkten Demokratie neue Beurteilungen zu neuen Entscheidungen führen können. Emanuel Höhener, Maschineningenieur mit langjährigen Führungstätigkeiten in Industrie- und Energieunternehmen und heute Berater, ist der Ansicht, dass die in der Energiestrategie vorgesehene Ausweitung der Solar- und Windenergieproduktion nicht nach Plan realisierbar ist und dass bei einer Reduktion fossiler Energie und Stilllegung der Kernkraftwerke neue Energiequellen nötig sind. Eine Revision des Gesetzes mit einer Öffnung der Kernkraft-Diskussion hält Höhener für dringlich.

 

«Zoo der Kernreaktortypen»

Im Ausland tut sich einiges. Nach Angaben des Nuklearforums Schweiz gingen im vergangenen Jahr sechs neue Kernkraftwerke in Betrieb, drei in Russland, zwei in China, eines in Südkorea. Der gesamte Kraftwerkpark in den 31 betreffenden Ländern wurde netto etwas kleiner, aber die Vereinigten Arabischen Emirate kamen als 32. Land dazu. Polen, Weissrussland, die Türkei und Bangladesch planen den Einstieg. Sprecher Matthias Rey weist auch darauf hin, dass die US-Regierung die dortige Nuklearindustrie in beträchtlichem Umfang unterstütze, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Führung in dem von China und Russland dominierten Markt für Nukleartechnologie wiederzuerlangen.

Bereitet sich die Schweiz genügend auf den Fall vor, dass sich der Nuklear-Weg doch wieder öffnen würde? «Wir tun, was wir können», meint Horst-Michael Prasser, seit 2006 Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, seit kurzem emeritiert. In Kooperation mit dem PSI gebe es an der ETH einen Masterstudiengang für Nuklearingenieure, mehr oder weniger für den Inlandbedarf, und in der Forschung behalte man möglichst die ganze Breite der Ansätze im Auge. Er hat kürzlich einen Überblicksaufsatz veröffentlicht mit dem Titel «Kurze Führung durch den Zoo der Kernreaktortypen», um einem breiteren Publikum Informationen über den Stand der Technik zu vermitteln. Ein zentraler Satz daraus: «Eine Neukalibrierung unserer Ansichten – weg vom Bauchgefühl – muss her, um die Risiken der Kernenergie [. . .] gegenüber den Gefahren eines Verzichts abwägen zu können.» Seiner Ansicht nach ist es immer noch Zeit für sachliche Debatten.